Alexandra Föderl-Schmid

* 1971 in Haslach, Oberösterreich, ist seit 2020 stellvertretende Chefredakteurin der „Süddeutschen Zeitung“. Zuvor war Föderl-Schmid Korrespondentin der Süddeutschen in Israel (2017 bis 2020) und Chefredakteurin der Tageszeitung „Der Standard“ (2007 bis 2017). Föderl-Schmid studierte Publizistik, Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Salzburg.

Das Begräbnis der Fakten

Dezember 2022

Die renommierte Journalistin Alexandra Föderl-Schmid (51) hielt im Rahmen der „Montforter Zwischentöne“ in Feldkirch einen „Nachruf auf die Wahrheit“. Ein Auszug ihrer Rede:

Wer braucht denn heute eigentlich noch Fakten, wenn Fake und Fiktion zumeist viel unterhaltsamer sind und oft informativer scheinen? Es fällt immer schwerer, zu unterscheiden, was eigentlich wahr und was falsch ist. Oder gar, wer lügt. 
In Zeiten, wenn Fakten nicht Fakten sein müssen, weil es auch alternative Fakten zu geben scheint. Ein Terminus, der auf die Beraterin von Donald Trump, Kellyanne Conway, zurückzuführen ist. Sie hat im Jänner 2017 auf den Hinweis eines Moderators, dass öffentliche Angaben über die Zuschauerzahl bei Trumps Amtseinführung zu hoch gegriffen waren, gemeint, es gebe eben alternative Fakten. 
Wer sagt die Wahrheit? Da muss man gar nicht bis in die USA blicken, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Es reicht schon, in die österreichische Innenpolitik einzutauchen. Dass es das „Beinschab-Tool“ gab, mit dem sich Sebastian Kurz mit Hilfe für ihn günstiger Umfragen und deren Publikation in willfährigen Medien ins Kanzleramt und an die Spitze der ÖVP katapultieren wollte, ist ein Faktum. Das ist inzwischen unbestritten von allen Beteiligten. Aber ist nun Kurz selbst der Auftraggeber oder Thomas Schmid? Was von den Aussagen, die über Chats bekannt wurden, ist nun wahr und was falsch? Wer lügt? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen?
Das, was da gesagt worden ist, das kann doch nicht wahr sein, denken wir. Aber vieles wird wahr, indem es gesagt – oder in diesem Fall geschrieben – wird. Egal, ob es nun ein Faktum ist oder nicht. Wen kümmert es schon?
Hannah Arendt schrieb in ihrem Essay über „Die Lüge in der Politik“ 1972: „Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wahrheit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.“ 
Einer, der es sich zu diesem Thema zu Wort meldet, etwa am 17. Oktober in der ORF-Sendung „Im Zentrum“, ist Matthias Strolz, aus Vorarlberg stammender Neos-Gründer. Er behauptet: Die dreiste Lüge ist in der ÖVP zum Standard geworden. Und beschreibt in dieser Sendung Verhandlungen zwischen ihm, Sebastian Kurz und Irmgard Griss im Jahr 2016 über die Gründung einer gemeinsamen Plattform. Strolz behauptet, er habe zu Sebastian Kurz gesagt: „Ich kann nicht lügen.“ Dessen Antwort laut Strolz: „Aber ich kann es.“ Und Strolz sagt, die Selbstverständlichkeit, mit der ein damals Dreißigjähriger gesagt habe, er könne dies, habe ihn zum Abbruch der Verhandlungen bewogen. In den Folgejahren fühlte er sich bestätigt. 
Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“: „Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigt.“
Matthias Strolz ist jedenfalls zu dem Schluss gekommen: „Viele Menschen wählen mit Begeisterung jene, die am unverschämtesten lügen.“ Beweisen lässt sich das freilich nicht. Es bleibt eine Behauptung. Aber wer weiß, vielleicht ist da schon was dran? 
Bevor wir hier einen Abgesang anstimmen auf die Politik und ihre Lügen, gerade jetzt sind ja viele in Österreich auf der Suche nach der Wahrheit in der Politik: Die politische Konkurrenz im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, Staatsanwälte, Journalisten. Den einen geht es um Fakten, die sie in der politischen Auseinandersetzung nutzen können, um Aufklärung. Die anderen müssen hieb- und stichfeste Beweise finden, ohne die es keine Fortsetzung einer juristischen Aufarbeitung geben kann. Und worum geht es den Journalistinnen und Journalisten? Um Aufklärung, klar!
Aber was ist, wenn die Aufklärer selbst in die Kritik geraten, weil Chats, also unwiderlegbare Tatsachen, zeigen, dass es Absprachen gab, ein wechselseitiges System der Begünstigung also öffentlich wurde? Kann man den Informationen in den Medien noch trauen, ist das Berichtete objektiv, also faktentreu? Schon vor der Pandemie machte das Wort von der Lügenpresse die Runde. Die Medien sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Fake News zu verbreiten. 
Eine Reaktion sind Faktenchecks, die in immer mehr Medien Einzug halten. Wir beschäftigen uns gerade sehr viel mit den Informationen, die aus dem Ukraine­krieg zu uns dringen. Was ist richtig oder falsch? Das müssen wir klären – und zwar von beiden Seiten. Denn wie Ayschilos schon richtig sagte: „Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit!“
Einen regelrechten Boom dieser Faktenchecks gab es in den USA seit Beginn der Amtszeit von Donald Trump. Und es gab allerhand zu tun. In seiner Amtszeit hat Trump mehr als 22.000 irreführende oder falsche Behauptungen verbreitet, wie sich in der Datenbank der Washington Post nachlesen lässt. 
Und Trump ließ sich auch nicht beirren. Manche seiner alternativen Fakten wiederholte er immer und immer wieder, sie wurden zu regelrechten Klassikern: So hatte Trump mehr als 260 Mal versprochen, die Mauer zu Mexiko sei bald fertig. Mehr als 400 Mal behauptete Trump, er habe die erfolgreichste Wirtschaft der Geschichte geschaffen. Auch dies lässt sich durch Fakten nicht belegen. Ihn kümmert’s nicht, seine Anhängerinnen und Anhänger auch nicht – Fakten sind offensichtlich schlicht überbewertet. Wahr ist, was er behauptet.
Aber an dieser Stelle ein Verweis auf Abraham Lincoln: „Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute die ganze Zeit – aber alle Leute die ganze Zeit zum Narren halten, das kann man nicht.“ Ob sich das als wahr herausstellt, werden die nächsten Wahlen zeigen.
Faktum ist jedoch, dass Trump einer der aktivsten Verbreiter von Falschinformationen über Covid war und ist. 
Angesichts der Fülle von Informationen zu dem Thema mag es überraschen, aber Untersuchungen zeigen, dass 60 Prozent aller Covid-Falschinformation weltweit nachweislich zwölf Individuen zuzuordnen sind, die ihre Informationen mit Hilfe der sozialen Medien unter die Leute gebracht haben. Hier sind Superspreader von Falschinformation am Werk. Aber es gibt auch Desinformationskampagnen, die gezielt gestreut werden. Bots werden losgeschickt, ihre Urheber sitzen häufig am Balkan oder in Russland.
Es werden auch traditionelle Medien missbraucht, um Falschinformationen zu verbreiten. So wurden seit August dutzende große Nachrichtenseiten für eine gezielte Desinformationskampagne nachgebaut, darunter finden sich Imitationen von „Spiegel“, „T-Online“, „Bild“, „Welt“, „FAZ“ und auch der „Süddeutschen Zeitung“. Deren Macher haben einigen Aufwand darauf verwendet, Stimmung gegen den proukrainischen Kurs der deutschen Bundesregierung zu machen. Das sind Desinformationskampagnen, die gezielt gesteuert werden, um die Glaubwürdigkeit von Qualitätsmedien zu untergraben. Die Urheber versuchen augenscheinlich, jene Menschen zu erreichen, die bekannten Medien vertrauen. Und die sollen gezielt verunsichert werden – welchen Informationen kann man nun doch trauen?
Fakten sind das Fundament für die Berichterstattung in den Medien und der Wesenskern der Wissenschaft, die auch mit Abgesängen konfrontiert ist. Seit der Pandemie sieht sich die Wissenschaft verstärkt mit Zweifeln konfrontiert.
Es herrscht allgemein auch die Vorstellung vor, dass sich auf das, „was Fakt ist“, eigentlich alle einigen können müssten, die „gesunden Menschenverstand“ und funktionierende Sinnesorgane haben. Aber Streit über Tatsachen kann dadurch entstehen, dass Wörter durch verschiedene Menschen verschieden verwendet werden oder eine andere Bedeutung haben. Man kann so weit gehen, zu erklären, die Wirklichkeit sei einfach die Summe aller Tatsachen, wie es Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico philosophicus formuliert hat: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“
Was macht man in Zeiten wie diesen? Das Lexikon der Gegenwart ist Wikipedia. Wer googelt, erfährt mehr – aber auch das Richtige und Wahre? Ein Algorithmus bestimmt, was angezeigt wird. Den kann man beeinflussen durch Rankings, durch Bezahlung, es gibt Filter. Einen Wahrheitsfilter gibt es nicht. Und so bleibt wesentlich, was Immanuel Kant in seinem Leitspruch für die Aufklärung geprägt hat: Sapere aude! Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Also auch zu hinterfragen: Kann das stimmen? Man kann, ausgehend von Fakten, auch zu unterschiedlichen Ergebnissen und Interpretationen kommen. Davon lebt auch der konstruktive Diskurs. 
Aber davon unterscheiden sich die angeblich alternativen Fakten. Denn der Unterschied ist: Tatsachen werden nicht oder nicht mehr als solche anerkannt. Jede Bezugnahme auf objektive Gegebenheiten wird durch die Bezugnahme auf alternative Fakten begraben. Alternative Fakten sind ein Totschlagargument – wie passend für diese Gelegenheit! 
Was geschieht, wenn die „Kraft des Faktischen“ nicht mehr anerkannt wird? Wenn sich in einem Diskurs – ob im privaten Austausch, in den sozialen oder den traditionellen Medien – sich nicht mehr das aus sachlichen Gründen bessere Argument durchsetzt? Wenn abstruse oder rein ideologisch motivierte Aussagen nicht mehr einem Faktentest unterzogen werden, weil nicht einmal mehr Konsens darüber besteht, was Fakten überhaupt sind? 
Dieses Desinteresse an Fakten ermöglicht die Manipulation der öffentlichen Meinung und wird im Spiel um Macht und Kontrolle eingesetzt. So gilt als Regel im politischen Verteidigungskampf das, was Trumps Berater Steve Bennon öffentlich gemacht hat: „Flood the Zone with Shit!“ Man muss also nur genügend Negatives verbreiten, damit man sich dann nicht mehr mit dem eigentlich Wesentlichen beschäftigt, mit den Fakten.
Der Unterschied zwischen alternativen Fakten und Fake News ist ein gravierender: Fake News sind falsche Nachrichten, etwas, das nicht den Tatsachen entspricht. Alternative Fakten stellen dagegen die Wahrheit als solche überhaupt infrage. Das ist viel grundlegender, weil hier kein Fakten-Check – ein inzwischen in der Medien beliebtes Recherchemittel – ansetzen kann. Bei Fake News gibt es eine Trennlinie zwischen fake und real – falsch und richtig. Bei der Formel der alternativen Fakten gibt es diese Unterscheidung gar nicht mehr. Damit stellt die Rede von alternativen Fakten einen viel grundsätzlicheren Angriff auf die Wahrheit dar als die Verbreitung von Fake News. Fake News erfinden Geschichten über die reale Welt. Die Fiktion erzählt Geschichten über eine erfundene Welt.
Um so viel einfacher wäre es, auf Fakten einfach keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Jeder erfindet und beschreibt die Welt, so wie sie ihm oder ihr gefällt. Eine Pippi-Langstrumpf-Welt für alle!
Aber möchten wir in so einer Welt leben? Deshalb sollten wir nach diesem Abgesang auf die nicht mehr für nötig befundenen Fakten und die nicht mehr geschätzte Wahrheit – unabhängig von der Religion – daran glauben: Nach dem Tod kommt die Auferstehung und das Leben. Na, ob das wahr ist? Jedenfalls können wir uns daran aufrichten: Die Wahrheit ist tot! Es lebe die Wahrheit! Und schon Goethe sagte: „Man muss das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen.“ Das ist eine Zehrung für die Zukunft.

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