Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das Böse lockt, weil wir alle schon einmal dunkle Gedanken hatten“

Juli 2019

Die deutsch-kanadische Kriminologin Julia Shaw (32) sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass die meisten Menschen zumindest temporär Mordfantasien hätten, der Mensch aus unterschiedlichsten Gründen aber nicht über seine dunklen Gedanken sprechen wolle. Ein Gespräch mit der Psychologin und Bestseller-Autorin über ein „antiquiertes Konzept“, den Einfluss der Soziologie - und Serienmörder in den USA.

Was fasziniert die Menschen eigentlich am Bösen, Frau Shaw?

Das Böse lockt, weil wir alle immer wieder dunkle Gedanken haben. Und weil wir uns, da wir nicht sämtliche Teile unserer Persönlichkeit so gut kennen, bei jeder schrecklichen Nachricht in den Medien stets fragen: Wäre ich zu so etwas auch in der Lage? Zwar verneinen das die allermeisten, aber die Wissenschaft lehrt uns: Ein jeder Mensch wäre zu Schrecklichem fähig. Jeder!

Hat denn wirklich jeder Mensch eine dunkle Seite? Eine verborgene, dunkle Seite?

Ja. Wobei manche dunklen Seiten im Menschen verborgener sind als andere. Aber wir unterschätzen uns gerne im Bösen. Wir meinen alle, wir seien gute Menschen, aber dieser Auffassung legen wir nur die Kontexte unserer bisherigen Entscheidungen zugrunde. 

Das Böse, sagt etwa Philosophin Bettina Stangneth, sei eine Projektionsfigur, die unser eigenes Versagen relativiere und deswegen für viele Menschen so attraktiv sei ...

Ich unterscheide mich von vielen Philosophen, wenn ich sage, dass es das Böse im Endeffekt gar nicht gibt. Es gibt nicht den bösen Menschen. Das Konzept des Bösen, das teilweise durch die Religion geprägt wurde und unsere Vorstellungen bestimmt, ist antiquiert. Wir sollten es nicht mehr benutzen. Denn das Wort „böse“ vereinfacht nur eine viel interessantere Realität. Wir müssen das Denken in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß, hinterfragen und durch Abstufungen ersetzen. Wir müssen die Konzepte hinter dem, was wir als „gut“ oder „böse“ bezeichnen, verstehen und auch, warum ein Mensch zu einer krassen Straftat fähig ist. Wenn, dann gibt es das Böse nur in unseren Albträumen, in unseren Ängsten, in unserer Subjektivität. In dem Moment, in dem man etwas als „böse“ etikettiert oder wahrnimmt, kreiert man das Böse für sich selbst.

Also ist es auch ein Irrglauben, anzunehmen, man könne einen bösen Menschen erkennen?

Wir haben leider alle automatische Reaktionen auf Menschen. Aber meistens folgen wir in unserer Einschätzung nur stereotypischen Vorstellungen, wie ein böser Mensch aussehen sollte. Der Realität entspricht das nicht. Man kann Menschen nicht anschauen und sagen, wer da nun wirklich böse ist und wer nicht. Ein Experiment hat das deutlich gezeigt. Da haben Forscher ihren Probanden Fotos vorgelegt und gebeten, einzuschätzen, wer auf den Bildern vertrauenswürdig ausschaue und wer nicht. Was die Probanden nicht wussten: Auf den Fotos waren je zur Hälfte Nobelpreisgewinner und die meistgesuchten Verbrecher der USA – „America’s Most Wanted“ – zu sehen. Und das Ergebnis? Die Teilnehmer an diesem Experiment konnten auf diesen Bildern nicht unterscheiden, wer denn nun vertrauenswürdig war und wer nicht. Das zeigt, dass wir zwar glauben, wir hätten einen gut kalibrierten Radar. Aber das haben wir nicht – unser Unheimlichkeitsradar ist leider nicht besonders gut.

Der Clown, heißt es an einer Stelle in Ihrem Buch, sei vielen Menschen unheimlich.

Der Clown ist für viele der unheimlichste Beruf. Der am wenigsten unheimliche Beruf ist übrigens der Wettervorhersager (lacht). Aber warum der Clown? Weil wir uns auf die Augen verlassen. Wenn wir jemanden treffen, schauen wir zuerst in die Augen dieses Menschen. Und wenn diese für uns unheimlich sind, dann geht es schon los mit dem Verdacht. Dazu kommt, dass die Figur des Clowns mittlerweile auch stark mit Horrorfilmen verbunden ist, die von einem echten Serienmörder inspiriert sind, von John Wayne Gacy, der – als Clown verkleidet – über 30 Menschen umgebracht hatte. 

Warum beschränkt sich das Phänomen der Serienmörder eigentlich nahezu auf die USA?

Weil in den USA Waffen frei erhältlich und damit viel verfügbarer sind als in anderen Ländern. Damit ist es auch viel einfacher, Menschen umzubringen. Und weil in den USA die Fälle oft auch popularisiert und glamourös dargestellt werden. Serienmörder werden zumindest in den USA dann auch sehr oft berühmt; in einem Land, in dem ohnehin viele Menschen berühmt werden wollen. Diese Kombination aus Popularität und freier Verfügbarkeit an Waffen ist toxisch. 

Apropos: Sie schreiben in Ihrem Buch auch von der „toxischen Männlichkeit“ und zitieren aus einer UN-Studie, wonach 95 Prozent aller Morde von Männern begangen werden. Warum ist das so? Warum werden die allermeisten Morde von Männern begangen?

Die allermeisten Männer morden natürlich nie, und es wäre geradezu lächerlich, zu denken, alle Männer wären dazu programmiert, so etwas zu tun. Aber: Es werden in der Tat die allermeisten Morde von Männern begangen, und viele sind da der Ansicht, Männer seien einfach aggressiver und das habe mit Testosteron zu tun. Aber das ist eine schlechte Erklärung. Ich mache die Sozialisierung verantwortlich. Diese Erklärung scheint mir viel interessanter und richtiger zu sein. Die Gesellschaft lässt destruktivem, aggressivem und gewalttätigem Handeln von Männern oft zu viel Spielraum. Wenn kleine Jungs in diese Richtung tendieren und keine Selbstkontrolle – wie bei Frauen üblich – aufbauen, dann sagen wir ihnen nicht oft genug, dass sie sich kontrollieren und nicht so aggressiv sein sollen. Wir sehen nicht, dass sich diese mangelnde Selbstkontrolle in der Kindheit im späteren Leben negativ auswirken kann. Wir müssen da sehr aufpassen, wir müssen schon den Kleinen ganz klar sagen, dass wir schlechtes Benehmen nicht tolerieren, wir müssen Grenzen setzen und deutlich machen: So nicht!

Wieso tun Menschen böse Dinge? Gibt es auf diese einfache Frage eine einfache Antwort?

Nein. Eine Antwort auf diese Frage ist um vieles komplizierter. Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum Menschen schreckliche Dinge tun. Die einen handeln impulsiv, anderen gerät eine Situation außer Kontrolle, wieder andere treffen in einer bestimmten Situation eine falsche Entscheidung. Damit soll nichts entschuldigt werden, aber es ist ein Auftrag, zu hinterfragen, aus welchen Gründen es zu Straftaten kommt und wie solche Taten verhindert werden können.
Nun hätten, auch das sagen sie, die meisten normalen Menschen Mordfantasien. Zumindest ab und an …
Viele Menschen, die normal sind und sich selber als gut bezeichnen würden, haben ab und zu Mordfantasien. Sie wollen ihren Kollegen umbringen, ihren Chef, ein Familienmitglied oder einen völlig unbekannten Menschen. Der Grund dafür scheint zu sein, dass wir Ängste haben, die dann automatisch zu temporären Mordfantasien werden. Das heißt natürlich nicht, dass wir diesen Gedanken auch Taten folgen lassen wollen, aber laut Evolutionsbiologen ist es sogar etwas Gutes, dass wir solche Mordfantasien haben.

Warum denn das bitteschön?

Weil wir die Fähigkeit haben, abstrakt zu denken. Der Mensch spielt sich solche Szenarien geistig durch und bedenkt die Konsequenzen. Man beschäftigt sich mit dem Gedanken und kommt zum Schluss, dass man so etwas gar nie tun möchte und könnte. Die allermeisten Fantasien bleiben Fantasien, und das ist selbstredend gut so. Wobei es da schon einen Zusammenhang gibt: Nicht alle, aber viele Menschen, die gewalttätig sind, fantasieren öfter als andere; die müssten sich Hilfe suchen. Doch auch da gilt, was in anderen Bereichen zutrifft …

Und das wäre?

Wir gestalten unsere Gesellschaften so, dass unser Unbehagen auf ein Minimum reduziert wird, und wir nicht ständig an unsere Widersprüche erinnert werden. Aber: Wenn wir Probleme ignorieren, verschwinden diese nicht. Die Themen, die uns unangenehm sind, sind oft die, die wir am dringendsten ansprechen müssen. Doch wir sprechen aus unterschiedlichen Gründen nicht gerne über unsere dunklen Gedanken; zum einen, weil wir nicht wissen, dass viele Menschen ebenfalls solche Gedanken haben, zum anderen aber auch, weil wir gar nicht wahrhaben wollen, zu was wir fähig wären. Wir wollen gar nicht wahrhaben, dass auch wir zum Monster werden könnten. Wir müssen unbedingt über diese Tabu-Themen reden, weil diese unangenehmen Gedanken und Ideen Menschlichkeit auch ausmachen. Und wenn wir das ignorieren, nicht analysieren und nicht diskutieren, dann könnten wir bei auftauchenden Problemen auf eine Art und Weise unmoralisch agieren, die uns selber erschreckt. 

In Ihrem Buch taucht der Ausdruck „Gerechte-Welt-Glauben“ auf.

Das ist die Idee, dass guten Menschen Gutes und schlechten Menschen Schlechtes passiert. Wir nutzen diesen Glauben, um eine Welt verstehen zu können, die voller Ungerechtigkeit ist. Wenn man etwa an einem Obdachlosen vorbeiläuft und sich sagt, der hat das doch verdient, der muss sich ja nur einen Job suchen! Man sagt sich, dieser und jener Mensch ist jetzt in einer schlechten Situation, weil er ein schlechter Mensch ist und weil er schlechte Entscheidungen getroffen hat. Das Problem dabei? Man verliert den Kontext, man vergisst, wie beeinflusst der Mensch von Dingen ist, über die er keine Kontrolle hat. Wir vergessen, dass unsere Umwelt ausschlaggebend dafür ist, wie unser Leben aussieht. Unserem „Gute-Welt-Glauben“ widerspricht es, zu akzeptieren, dass guten Menschen auch Schlechtes und schlechten Menschen auch Gutes passieren kann. Das ist mit unserem Gefühl von Ordnung und Kontrolle nicht vereinbar. Das geht sogar so weit, dass wir Opfern die Schuld geben, weil es sich doch irgendwie sicherer anfühlt, dass ein Opfer sein Schicksal verdient hat, anstatt zu glauben, dass wir ebenso gut ein Angriffsziel hätten sein können.

Sie wollen mit einem Startup Menschen helfen, die gemobbt und diskriminiert werden.

Menschen mobben und diskriminieren andere, weil unsere Kultur und unsere Gesellschaft dies ermöglicht. Mobbing wird in den allermeisten Fällen aber nicht gemeldet, aus Angst vor möglichen Folgen, und das ist alarmierend. An diesem Punkt setzt unser Reporting Tool „talktospot.com“ an. Das ist eine Online-Anwendung, die Menschen hilft, Belästigungen und Diskriminierung am Arbeitsplatz zu melden. Spot urteilt nicht, es nimmt als Chatbot auf, was passiert ist. Man kann sich da namentlich oder anonym melden und wir arbeiten dann direkt mit dem Arbeitgeber zusammen, um das jeweilige System zu verbessern, damit man wieder zur Arbeit gehen kann, ohne gemobbt oder diskriminiert zu werden.

Gewalt wird ständig sichtbarer, sei es im Fernsehen oder in sozialen Netzwerken. Was macht das mit den Menschen?

Das führt dazu, dass Menschen glauben, dass die Welt immer schlimmer werde und Gewalt überall und ständig passiere. Es stimmt, es gibt viel Schreckliches in dieser Welt. Aber es ist eben so, dass wir mittlerweile online auch jeden Moment sehen, in dem etwas Schreckliches passiert. Wir sind ständig mit allem Leid dieser Welt konfrontiert, und das gab es so noch nie. Und da müssen wir aufpassen, dass wir nicht die falschen Schlüsse ziehen. Natürlich wären wir alle zu schlechtem Benehmen fähig, und wir müssen das offen deeskalieren, indem wir den Menschen nicht als böse denken. Denn die Welt ist eigentlich großartig. Die meisten Menschen versuchen, gute Menschen zu sein und einander zu helfen, sie versuchen, ihre Familie zu lieben. Wir sind Menschen, und komplexe Ideen und komplexes Benehmen gehören zum Menschsein dazu. Das ist interessant. Und schön.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person Julia Shaw 

* 1987 in Köln geboren und in Kanada aufgewachsen, ist Wissenschaftlerin in der Abteilung für Psychologie am University College London. Dort forscht sie im Bereich der Rechtspsychologie, Erinnerung und Künstlichen Intelligenz. Sie berät Polizei, Bundeswehr, Rechtsanwälte, Justiz und Wirtschaft in deutsch- und englischsprachigen Ländern und ist eine viel gefragte Rednerin weltweit. Ihr Sachbuch-Debüt „Das trügerische Gedächtnis“ wurde 2016 international zum Bestseller. Das Interview basiert auf Julia Shaws zweitem internationalen Bestseller „Böse. Die Psychologie unserer Abgründe“, Hanser, München 2018.

www.drjuliashaw.com

 

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