Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Das ist das neue Zeitalter, in das wir eingehen

Mai 2019

Richard David Precht (54) sprach im Rahmen einer Veranstaltung der FH Vorarlberg über seine Utopie einer digitalen Gesellschaft. „Thema Vorarlberg“ bat den Philosophen in Dornbirn anschließend zum Interview.

Sie sagten in Dornbirn: Die menschliche Hand wurde ersetzt, jetzt wird das menschliche Gehirn ersetzt.

Das menschliche Gehirn wird natürlich nicht in allem von Maschinen ersetzt, nicht in jenen Bereichen, die mit Emotion zu tun haben, aber sehr wohl dort, wo das menschliche Gehirn aus Sicht der künstlichen Intelligenz defizitär ist. Das gilt in erster Linie für das Rechnen, aber langfristig gesehen auch für das strategische Planen, das Analysieren. Das ist das neue Zeitalter, in das wir eingehen. Dieses Zeitalter fängt jetzt an – und es wird gewaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.

Der Wandel findet in anderer Form statt als in vergangenen Epochen, aber das Resultat ist dasselbe: Bedrohliche Zukunftsszenarien lösen Ängste aus, die Menschen sind verunsichert.

Ist das, was ich erzähle, so bedrohlich? Vor dem Hintergrund der alten bürgerlichen Leistungsgesellschaft ist die Vorstellung, dass immer weniger Menschen in klassischer Erwerbsarbeit sein werden, natürlich eine bedrohliche Vorstellung. Für den Philosophen ist das Wegfallen von langweiliger, eintöniger Arbeit dagegen eine schöne Vorstellung. Und wenn am Ende eine Gesellschaft steht, in der die Leute weniger arbeiten, aber das, was sie dann machen werden, lieber tun als ihre heutige Arbeit – dann kann ich darin nichts Beängstigendes erkennen. Ich sehe aber einen großen politischen Handlungsbedarf, weil das alles nicht von alleine kommen wird …

Medien skizzieren künftige Horrorszenarien, Zukunftsforscher Matthias Horx spricht da von einem apokalyptischen Spießertum und sagt, dass man sich mitten im stabilen Wohlstand schrecklich fürchte, sich dabei aber ziemlich wohl fühle. Halten Sie es da mit Horx?

Da bin ich bei der Digitalisierung nicht so sicher. Ich kann in diesem Thema keinen genussvollen Katastrophismus erkennen. Wenn man sich darin wirklich wohlfühlen würde, dann würden auch die Politiker damit arbeiten. Das tun sie aber nicht. Ganz im Gegenteil, die Politiker machen einen großen Bogen um die Zukunft der Beschäftigung und der Lohnarbeit, weil sie Angst haben, die Menschen zu verschrecken, wenn sie ihnen reinen Wein einschenken würden. Es suhlt sich bei dieser Materie keiner im Katastrophismus, in manchen anderen Katastrophen dagegen schon, da bin ich bei Horx. Überfremdung durch Migranten, das löst beispielsweise durchaus einen solchen katastrophischen Schauder aus …

Dann ist die Studie von Osborne und Frey, wonach binnen der nächsten 20 Jahre die Hälfte aller Jobs durch Roboter ersetzt würden, nur ein großes Missverständnis? Oder ein Ausdruck dessen, was wirklich kommt?

Die Osborne-Frey-Studie ist Opfer dessen, was gemessen worden ist. Und gemessen worden ist nicht, was wegfällt, sondern was rein technisch gesehen wegfallen könnte. Deswegen werden die Zahlen zu Recht als übertrieben wahrgenommen. Trotzdem war die Studie ein Warnschuss, insoweit, als man darüber nachdenken muss, ob die Zukunft der Arbeitswelt tatsächlich so organisch sein wird, wie viele zuvor behauptet haben. Und so übertrieben die Studie auch ist: Selbst wenn nur die Hälfte von dem eintreffen sollte, was Osborne und Frey prognostiziert haben, würden wir in einer gänzlich anderen Gesellschaft leben.

Was wird denn alles digitalisiert und automatisiert werden?

All die Berufe, für die man nichts Besonderes können muss. Und das sind immens viele. Wenn Sie in einer Bank arbeiten, in einem normalen Routinejob, dann machen sie nichts, was ein Ungelernter letztlich nicht auch in drei Monaten lernen könnte. Das gilt auch für Versicherungen. Schadensbearbeitung bei einer Versicherung? Das kann jeder von uns in drei Monaten lernen. Das gilt aber auch schon für höherqualifizierte Berufe, wie beispielsweise niedere juristische Arbeiten. Das gilt für Fahrdienstleistungen, das gilt für Steuerberater, die nur herkömmliche Sachen erledigen, das gilt für Verwaltungen, das gilt für vieles in der Produktion. Wir kommen da, Deutschland und Österreich zusammengerechnet, auf viele Millionen Beschäftigungsverhältnisse.

Trotzdem gibt es viele, die sagen, dass im Fortschritt wegfallende Arbeitsplätze durch neu entstehende Arbeitsplätze kompensiert werden. Sind das Realisten? Oder nur Träumer?

Im deutschen Sprachraum gibt es erstaunlich viele Vertreter dieser Kompensationstheorie, viel mehr als in anderen Ländern. Ich gehe davon aus, dass sich diese Menschen für Realisten halten. Ich sehe in dieser Theorie allerdings Tücken, die deren Vertreter nicht wahrnehmen. Ich weiß, woher die ihre Zahlen nehmen, ich kenne deren Modelle, ich sehe aber, was die nicht sehen: Diese weltanschaulich übrigens meist konservativen Kompensationstheoretiker scheinen zu glauben, dass der Arbeitsmarkt ein Nullsummenspiel ist. Drei Millionen alte Jobs fallen weg, drei Millionen neue Jobs entstehen – also alles kein Problem! Wenn das aber tatsächlich so wäre, dann hätten wir ja jetzt schon weder Fachkräftemangel noch Arbeitslose …

Das Angebot am Arbeitsmarkt kann die Nachfrage nicht decken, zu groß ist die Differenz zwischen nachgefragter und angebotener Qualifikation. Ist es das, was Sie meinen?

Ja! Lassen Sie uns das an konkreten Beispielen erklären: Viel zu wenige wollen noch Handwerker werden, und kaum jemand will Altenpfleger werden, obwohl Handwerker und Altenpfleger gesucht sind und es in Deutschland genug Hartz-IV-Empfänger gibt. Da könnte man ja leicht sagen: „Schult doch diese Menschen zu Altenpflegern oder zu Handwerkern um, und das Problem ist gelöst!“ Dann gäbe es weniger Arbeitslose und mehr Handwerker und Altenpfleger. Aber das funktioniert nicht, und das wird auch in Zukunft nicht funktionieren. Man kann das nicht erzwingen, nicht in einem freien demokratischen Staat.

In Vorarlberg hat das Handwerk einen hohen Stellenwert, und da klingt ihre folgende Prognose recht erfreulich: „Das Handwerk wird zu den großen Profiteuren der Digitalisierung gehören.“ Warum eigentlich?

Ab den 1960er Jahren begannen immer mehr Kinder von Handwerkern nicht dem Vorbild ihrer Eltern im Beruf zu folgen, sondern Matura zu machen und anschließend in akademische Berufe zu gehen, beispielsweise in Banken und Versicherungen. Diese Tendenz verstärkte sich in den 1970er und 1980er Jahren weiter. Das Handwerk verlor sukzessive an Image, für den gesellschaftlichen Status wurde es immer wichtiger, Matura zu haben. Diese Tendenz aber wird sich umkehren – insofern, als eben sehr viele Berufe, die die Menschen statt des Handwerks gelernt und gemacht hatten, in Zukunft wegfallen werden. Im gleichen Maß wird das Handwerk profitieren und wieder aufgewertet und, ehrlich gesagt, das freut mich.

Ein guter Handwerker kann, was ein Roboter nicht kann und das lässt sich mit dem Ausdruck „das Wissen der Hände“ recht gut auf den Punkt bringen …

Mit diesem Ausdruck vom „Wissen der Hände“ kann ich sehr viel anfangen! Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, was Roboter können und welchen unglaublichen Aufwand man treiben muss, bis ein Roboter beispielsweise eine Stecknadel aufgreifen kann. Und ein Mensch? Der kann das mal eben so. Also selbst wenn ein Roboter theoretisch in der Lage wäre, die gleichen handwerklichen Arbeiten zu verrichten, wie ein Mensch, würde er sehr viel mehr kosten. Ergo wird das nicht der Bereich sein, in dem Roboter in naher Zukunft Spitzenleistungen vollbringen. Die liegen vielmehr im Sehen, im Hören und im Rechnen, also in Bereichen der Sensoren, Kameras und Rechenleistungen. Und weil Sie vom „Wissen der Hände“ sprachen …

Ja, bitte?

Es ist sehr schade, dass in einer immer digitaleren Gesellschaft das handwerkliche Können immer weiter nachlässt, obwohl gleichzeitig ein Bedürfnis darin besteht, etwas mit seinen Händen zu tun oder anzufertigen. Da gibt es eine große Parallele zum Sport: Früher hatten die Menschen auf den Feldern gearbeitet, die mussten keinen Sport machen, sie waren abends auch so fertig, körperlich ertüchtigt, zum Teil aber auch zerstört. Erst als die Menschen anfingen, Büroarbeit zu machen, begannen sie auch damit, nebenher Sport zu betreiben. Im Augenblick gibt es wieder so ähnliche Trends: Man macht irgendeinen Digital-Job an einem Flachbildschirm, aber eigentlich hat man das Bedürfnis, irgendetwas mit seinen Händen zu gestalten. Und ich glaube, dass diese Tendenz keine Mode ist, sondern dass sie ähnlich wie der Sport immer stärker werden wird. 

Verspürt denn auch der Philosoph Precht ab und an das Bedürfnis, mit den eigenen Händen etwas zu schaffen?

Ja! Ich schreibe fast jedes Jahr ein Buch, dann türmen sich auf meinem Schreibtisch bis zu 500 Seiten an Papier. Natürlich gibt es den Moment, an dem ich den Stapel durchblättere und stolz darauf schaue, weil das Papier ja auch eine gewisse Haptik hat. Aber wenn ich drei Wochen lang eine Wohnung renoviere oder ausmale oder im Garten arbeite, dann bin ich unendlich viel stolzer. Daran kann ich mich berauschen, tagelang, obwohl es ja viel weniger Arbeit ist. Aber das Sinnliche, das Haptische dabei, das gibt auch mir, der ich in einem akademischen Beruf arbeite, tiefste Befriedigung.

Apropos sinnlich. Sie sagten, den größten Wachstumsbereich von allen werden künftig die Empathie–Berufe haben.

Alle Berufe, bei denen man Wert darauf legt, dass ein Mensch sie macht, werden Bestand haben und weiter an Bedeutung gewinnen. Und das ist auch gut so. Aber nehmen Sie nur das Beispiel Altenpflege: Wir legen großen Wert darauf, dass ein Mensch das macht, aber es ist ein Beruf, den kaum noch jemand machen will. Wir müssen all diese Berufe daher auch gesellschaftlich aufwerten – und besser bezahlen. In dem Punkt wäre meiner Meinung nach aber auch schnell Einigkeit zu erzielen. Pflegen, kümmern, Probleme lösen, das wird immer wichtiger. Der Problemlöser ist der Beruf der Zukunft. Der Mensch wird verstärkt das Gefühl haben wollen, in guten Händen zu sein, und dass sich jemand um ihn kümmert, ein Mensch, der sehr viel Empathie hat. Aber die Leute, die diese Empathie nicht haben, die braucht in bestimmten Berufen keiner mehr.

Sie sagten in Dornbirn auch, es sei eine Illusion, zu glauben, im Wandel der Zeit an der Leistungsgesellschaft festzuhalten zu können.

Es ist eine Illusion, an der flächendeckenden Leistungsgesellschaft festzuhalten, wie wir sie bisher kannten; eine Leistungsgesellschaft, die an jeden den Anspruch stellt, dass er etwas Geldwertes leisten kann und leisten muss. Dieser Anspruch, der in der ersten industriellen Revolution entstanden ist, dieser Anspruch, dem Menschen im 19. Jahrhundert zu sagen „Sei tüchtig!“ und im 20. Jahrhundert: „Mach was aus Deinem Leben“ wird dauerhaft nicht bestehen bleiben. Nicht in seiner jetzigen Form. Natürlich wird es auch in Zukunft noch Leistung geben. Es wird Fußballspieler geben, die an ihrer Leistung gemessen werden, auch bei Managern und Künstlern wird das weiter so sein, ohne Zweifel. Aber der flächendeckende Anspruch, dass jeder eine geldwerte Leistung zu erbringen hat, wird deutlich geringer werden. 

Sie sind sich auch deswegen sicher, dass das bedingungslose Grundeinkommen kommen wird.

Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass das bedingungslose Grundeinkommen die Reaktion auf die steigende Arbeitslosigkeit sein wird. Und ich bin mir auch deswegen so sicher, weil ich viele Gespräche mit Spitzenpolitikern geführt habe, die deshalb mit mir in Kontakt treten. Auch wenn die meisten Politiker noch immer nicht wirklich wissen, was sie wollen, ist deutlich zu erkennen, dass sich zumindest bei den klügeren so langsam das Gefühl einschleicht, sich mit dieser Frage eingehend beschäftigen zu müssen. Und das ist schon ziemlich viel. Vor fünf Jahren galt das bedingungslose Grundeinkommen noch als Schnapsidee. In wenigen Jahren streiten wir nicht mehr darüber, ob wir es einführen, sondern in welcher Form.
 
Vielen Dank für das Gespräch!

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