Josef Windegger

Germanist, Historiker und Politologe mit Fokus auf Politische Bildung; Leiter des Hochschullehrgangs „Politische Bildung kompetenzorientiert“ (Kooperation der KPH Edith Stein und PH Vorarlberg). 

Demokratie ist die Antwort

April 2022

Österreicher der Aussage voll zu, dass „die meisten Politiker, egal von welcher Partei, gute Absichten haben.“ Grund genug, einen Aufsatz zu schreiben, der ein positives Politikbild skizziert und Menschen für politisches Engagement zu professionalisieren versucht. Vor dem Hintergrund dessen, was gerade in der Ukraine passiert – zu verantworten von einem Geschichtsklitterung betreibenden Autokraten mit frech zur Schau getragenem demokratischem Feigenblatt –, gewinnt diese Intention aktuelle Relevanz.

Der Mensch ist gemäß Aristoteles ein „zoon politicon“, ein „homo politicus“, der das Politische konsequent in eine „res publica“ münden lässt, weil er in einem gesellschaftlichen Netzwerk existiert und agiert. Sobald der Mensch mit anderen als soziales Wesen interagiert, entsteht das Politische im weiten und engen Sinn, weil seine Kernfaktoren zum Tragen kommen, nämlich die Auf- und Verteilung materieller und immaterieller Güter – von Zeit über Raum bis zum Geld –, deren Besitz erstrebenswert ist, aber nicht in der Quantität vorhanden sind, dass jede und jeder jederzeit und überall Zugriff darauf hat.
Aus diesem Defizit resultieren Konflikte, deren möglichst konsensuell orientierte Lösung mittels Entscheidungsmacht notwendig ist, um ein Dasein in einem funktionierenden Miteinander zu fristen – die dümmste Option ist Krieg, weil sie alle zu Verlierer:innen macht! 
Plakativ formuliert, ist Politik damit beauftragt, gesellschaftliche Verteilungsfragen gerecht zu behandeln und verhandeln. Insofern ist „die Politik“ definiert als ein breites Spektrum von Optionen zur Herstellung eines verbindlichen Normensystems sowohl für das individuelle als auch gesellschaftliche Wohlbefinden. 
Politik ist die spannende Provokation des homo sapiens im Hinblick auf sein rationales und emotionales Instrumentarium zur Bewältigung dieser Aufgabe. Allein aktuelle Beispiele wie Kämpfe um „Freiheit“ und „Macht“ manifestieren diesbezüglich Bildungslücken im öffentlichen Diskurs: Freiheit ist ein zentrales, unabdingbares Element von Demokratie. Aber: Von einer Minderheit lautstark präsentiert und eingefordert wird ein Konzept von Freiheit, das keine Grenzen kennt. „Aber diese Vorstellung einer ungehemmten, absoluten Freiheit ohne jede Beschränkung ist nicht Freiheit. Es ist Willkür. Gesellschaftliche Freiheit bedarf der vernünftigen Einschränkung, um Freiheit für alle zu sein“, hielt die Philosophin Isolde Charim im „Falter“ (8/22) nachdrücklich fest. 
Machtbefugnisse, die notwendig sind, um ein im Sinne des Gemeinwohls nötiges Ordnungssystem zu installieren, sind folgerichtig auch nicht willkürliche Ingredienzen der Politik, sondern sind legitimiert, kontrolliert und befristet den Entscheidungsträger:innen überantwortet. Welche schrecklichen Konsequenzen unkontrolliertes und illegitimes Machtvolumen im Besitz von Oligarchen zeitigt, führt der Überfall auf den souveränen Staat Ukraine fast irreal anmutend vor Augen. 

Politik als Lebenselixier

Die These vom „Lebenselixier“ Politik lässt sich resümierend insofern verifizieren, als ihre Grundlagen – die „Knappheit“ aller Güter, der daraus resultierende „Konflikt“ der Verteilung und legitimierte, befristete, kontrollierte „Macht“ – empirisch belegbar sind, sowohl im weiten als auch engen Politikverständnis zum Tragen kommen und uns permanent fordern und fördern. 
Der Mensch ist ein Individuum und als solches einzigartig und einmalig: mit eigenen Interessen, mit eigener Attitüde, mit Vernunft begabt und „dessen Würde unantastbar ist“. Insofern ist die gesellschaftliche Heterogenität ein natürliches Phänomen, dem die politische Konzeption des Zusammenlebens vernunftbasiert Rechnung zu tragen hat. 
„Je mehr Konflikte eine Gesellschaft zulässt, desto freier ist sie“ – ein nicht uninteressanter Denkanstoß zur Eröffnung des Diskurses über die Facetten menschlichen Zusammenlebens. 

Ein Plädoyer für Demokratie

Meine Favorisierung der Demokratie gegenüber allen anderen Formen basiert auf dem Faktum, dass dieses politische System so vielen Menschen politische Teilhabe offeriert wie kein anderes. Es ermöglicht ein dem Menschen würdiges Ausmaß an wertschätzender Einbindung in die Gemeinschaft, also das Spezielle im Generellen zu verorten und zu verankern – eine bestmögliche Balance von Individualität und Mündigkeit. 
Der weitaus größte Teil der Staatenwelt rühmt sich, eine Demokratie zu sein, hält er sich doch laut eigenen Angaben an die Minimalkriterien der Definition: Freie Wahl. Freie Abwahl. Freie Kontrolle der Regierenden durch die Regierten. 
Die Einhaltung dieser drei systemrelevanten Auflagen obliegt in letzter Konsequenz der jeweiligen „Demokratie“, Einmischungen von außen werden nicht selten als Verletzungen der staatlichen Souveränität gebrandmarkt. Noch schwieriger wird die Einforderung ergebnisorientierter Aspekte von Demokratie: Personen verfügen nicht nur über freie Beteiligung an demokratischen Prozessen, sondern haben Anspruch auf Wahrung persönlicher Rechtsmanifestationen, – Menschenrechte, Grundrechte, Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit –, die ein menschenwürdiges Leben garantieren. 
Varianten wie „Demokratur“ (Siegfried Wolf) und „illiberale Demokratie“ (Viktor Orban) beziehungsweise „Postdemokratie“ (Colin Crouch) entsprechen nicht meinen Vorstellungen von Demokratie, die in ihrer wahren Form auch den Zusatz „liberal“ nicht benötigt, weil sie es per se ist! Insofern stimme ich Anton Pelinkas pointierter Conclusio zu, der zufolge ein Zuviel an Demokratie noch nie geschadet habe, ein Zuwenig aber schon …

Politikunterricht 

„Demokraten fallen nicht vom Himmel.“ Herbert Dachs’, eines Doyens der österreichischen Politikwissenschaft, die Lehrveranstaltung eröffnender Satz besitzt für mich bleibende Aktualität: Demokratie muss man lernen, Diktatur nicht. Ein mittlerweile etabliertes und innerhalb der Wissenschaft ziemlich unumstrittenes didaktisches Konzept liegt in Form der Politischen Bildung vor. Dass der Politikunterricht ein Politikum mit parteipolitischen Machtinteressen abseits wissenschaftlicher Entwicklungen in der Vergangenheit war und in der Gegenwart ist, zeigen signifikante Tendenzen. 

Es war einmal … 

… ein die ersten drei Jahrzehnte der Zweiten Republik Österreich dominierendes politisch-pädagogisches Modell – firmierend unter „Staatsbürgerliche Erziehung“ oder „Staatsbürgerkunde“. Die Inhalte korrelierten mit den Zielen: Der junge Mensch wird mittels eines Tugendkanons in einem staatlichen Kollektiv assimiliert, das wertzuschätzen, aber nicht zu hinterfragen ist: Österreich ist Österreich ist Österreich! 
Didaktische Prinzipien orientieren sich an diesem Fokus im Eins-zu-Eins-Maßstab: Autoritärer Frontalunterricht in Reinkultur, der mittels Trichtermethodik die Schüler:innen mit elementarem Wissen über den Staat als ideales Gefüge gemeinschaftlichen (nicht gesellschaftlichen!) Zusammenlebens zwangsernährt, sodass vollmündige Untertanen – das meiste bleibt nämlich unverdaut – die schulische Bildungsstätte verlassen und als domestizierte Teile des Staatswesens funktionieren. Staatsfunktionismen mussten nicht verstanden werden, sie waren per se von höchster Qualität. Störende Elemente des Betriebs konnten nur Einzelne sein, die sich gegen die quasi heilige und ewig gültige homogene Ordnung stellten. Dieses Konstrukt entspricht nicht der Realität einer demokratischen Gesellschaft.

Umdenken in den 1970ern

Die 1970er revoltieren und pochen nachhaltig auf individuelle Grundrechte im Sinne einer wirklichen Demokratie, deren oberste Maxime Freiheit ist, die dem Einzelnen Partizipationsrechte gewährt, es ihm ermöglicht, eigene Perspektiven in den politischen Diskurs einzubringen. 1978 wird Politische Bildung als Unterrichtsprinzip installiert, das genau diesem Anliegen Rechnung trägt: Mündige politische Menschen sind die Träger eines demokratischen Staates, der zwar auf unumstößlichen Pfeilern ruht – Menschenrechte, Rechtsstaat, Verteilungsgerechtigkeit etc. –, aber gesellschaftliche Werte und Bedingungen stets aufs Neue hinterfragt, diskutiert und ausverhandelt, um als ein probates Format menschlichen Zusammenlebens legitimiert zu sein. 
Die Konsequenz in Form der Akzeptanz von Pluralismus und Heterogenität und daraus entstehenden Konflikten, die in respektvoller Art und Weise gelöst werden müssen, stellt meiner Meinung nach eines der wichtigsten demokratischen Prinzipien dar. 

Enttäuschte Hoffnung

Doch wer glaubte und hoffte, dass es dabei bleibt für alle Zeit, der sei eines Schlechteren belehrt: Eines der 100 Projekte der neuen türkisen (mittlerweile schon Farbkorrektur mit Personalwechsel durchgeführt!) ÖVP klang sehr nach Althergebrachtem: „Staatskunde“ als neues Schulfach. „Grundzüge unserer Verfassung und des österreichischen Rechtsstaats“ sowie „Werte und Traditionen der österreichischen Kultur“ wurden als Inhalte avisiert, die sehr altbacken sind. Es ist dies eine Geisteshaltung, ein Politikverständnis, das an das Schul­organisationsgesetz von 1962 denken lässt, in dem damals stand: „Entwicklung und Heranbildung der Jugend nach „sittlichen, religiösen und sozialen Werten des Wahren, Guten und Schönen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich.“
Der Zielparagraph fokussiert Politik­unterricht auf eine Wertelandschaft, die erstens den maßgeblichen staatsbürgerlichen Kanon darstellt und zweitens nicht zu hinterfragen ist. Der ÖVP-Vorschlag bedeutete nichts anderes, bedeutete die Akzeptanz des Vorgegebenen ohne Diskurs, weil es das Modell des Homo Austriacus beschreibt, das anzustreben ist – von allen, die Österreich als Heimatland definieren beziehungsweise hier leben! 
Ein provokantes Kontra zur Politischen Bildung! Einziger Lichtblick der kurzen Kurz’-schen Initiative: Offensichtlich bestünde Platz für ein Fach Politikunterricht in österreichischen Stundenplänen. Füllen wir ihn doch mit Politischer Bildung!

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