Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Der geballte Zorn der Gerührten“

Dezember 2019

Sie schreiben gleich zu Beginn Ihrer aktuellen Streitschrift: „Politischer Kitsch hat Hochkonjunktur!“ Inwiefern? Und was ist politischer Kitsch? 

Fangen wir beim Kitsch an. Kitsch kennen wir zunächst als ästhetischen Kitsch: Gartenzwerge, Häkeldeckchen, Hummelfiguren. Kitschig daran ist das Übertriebene, das Sentimentale, das Gefühlige und Süßliche. Kitsch tröstet so über die Realität hinweg und entführt in eine überzuckerte Fantasiewelt. Mit dem politischen Kitsch verhält es sich nicht anders. Politischer Kitsch ist eine überzogene Form politischer Kommunikation, die penetrant an Gefühle, Sentimentalitäten und naive Ideale appelliert.

Nun gilt aber offenbar gerade das als authentisch ...

Seit den 1960er Jahren hat sich eine Kultur der Gefühligkeit breitgemacht. Anfangs besonders in den Jugendbewegungen, denken Sie nur an die Hippies. Später in der gesamten Gesellschaft. Schuld daran war auch eine popularisierte Psychoanalyse, wonach das Verborgene, Verdrängte, also die Gefühle und Affekte die eigentliche Persönlichkeit ausmachen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass gefühlige Menschen besonders authentisch sind. Der gefühlige Mensch gilt als echt, unverstellt und glaubhaft. Gefühle öffentlich auszuleben ist nicht peinlich, sondern ein Zeichen von Menschlichkeit. Selbst Staatsmänner und Wirtschaftsführer müssen daher heutzutage Gefühle zeigen. Die kitschige Inszenierung wird nicht als aufgesetzt wahrgenommen, sondern als glaubwürdig.

Konstatieren Sie deswegen: „Einseitigkeit wird zur Tugend, Borniertheit zum Ideal“? 

Das ist die Konsequenz. Kitsch kennt keine Differenzierung. Kitsch kennt nur das Schöne, das Paradies, die Welt im Weichzeichner. Und auf der anderen Seite steht das Hässliche, das Verdorbene, das Kaputte oder kurz: die Realität. Wenn Kitsch das Denken kontaminiert, wird es eng, einfältig und undifferenziert, dann kennt es keine Zwischentöne mehr, dann gibt es nur noch Gut und Böse. Das Böse, das sind dann alle, die mit Rationalismus und Realismus an Probleme gehen, das Gute hingegen ist das kitschige Denken selbst, die Rührseligkeit, die Betroffenheit. Wer etwa in sozialen Fragen, bezüglich des Migrationsproblems oder hinsichtlich des Umweltschutzes auch nur differenzierte Ansichten vertritt, wer skeptisch ist oder hinterfragt, setzt sich dem geballten Zorn der Sentimentalen und Gerührten aus.

Ein herrlicher Satz aus Ihrem Buch: „Und dann versammelt sich das erbauungsgierige Publikum, um der gesammelten Phraseologie moralischer Einfalt und den gängigen Plattitüden guter Gesinnung zu lauschen ...“

Sagen wir so: Kitsch hat auch immer ein religiöses Moment: die Sehnsucht nach einer anderen Welt, nach dem Heil, nach Erlösung, nach dem Paradies. Das ist latent kitschig. Umgekehrt hat säkularer Kitsch daher immer eine klerikale Note, das macht die Sache noch peinlicher. Hier geht es um Erbauung und Erlösung durch gute Worte, ergreifende Symbole und reine Gesinnung.
Sie sagen auch, dass die Gesellschaft dadurch in einen andauernden Alarm­zustand versetzt werde.
Kitsch zielt auf Affekte, auf Emotionen. Eine zunehmend kitschige Rhetorik in der Politik versucht permanent zu emotionalisieren: Eine Katastrophe jagt die andere, ein Unglück das nächste, überall herrschen Ungerechtigkeit und Elend. Und immer sind wir schwer betroffen. Oder besser noch: traurig und betroffen. Das ist nicht nur infantil, das führt auch dazu, dass die Gesellschaft ihre Problemlösungsfähigkeiten einbüßt. Ein kühler Kopf ist ein hohes Gut.

Das kitschige Bewusstsein weigert sich, die Realität wahrzunehmen. Das ist der Kern allen Kitsches.

Und die Demokratie nimmt Schaden?

Sie muss Schaden nehmen. Denn hoch emotionalisierte Menschen werden schneller ungeduldig. Hoch emotionalisierte Menschen haben kein Verständnis dafür, dass es Zielkonflikte gibt, dass man vielleicht abwägen muss, dass man einen Schaden nicht immer verhindern kann, sondern manchmal Schadensbegrenzung die bessere Wahl ist. Das kitschige Bewusstsein ist daher früher oder später radikalisiert. Und das führt in einer Demokratie zu Problemen.

Sie sagen ja auch, dass das Ganze auch insofern problematisch sei, als „politischer Kitsch unverkennbar autoritäre Politik zu legitimieren scheint“. Inwiefern?

Aus genannten Gründen. Kitschiges Denken verleitet zu dem Schluss, dass jetzt endlich mal gehandelt werden muss. Es ist kein Zufall, dass die großen totalitären Regime des 20. Jahrhunderts im Kitsch geradezu gebadet haben. In Nordkorea können sie das heute noch bewundern. Das Autoritäre und Bedrohliche daran ist die Weigerung, die Komplexität der Welt wahrzunehmen, und das Versprechen einer großen, strahlenden Zukunft, das keine Alternativen zulässt.

Der politische Kitsch habe seinen Siegeszug angetreten als Teil eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels ...

Ich sagte es schon zu Beginn des Gesprächs: Emotionen, Gefühle zeigen, sensibel sein – das alles hat heute eine ganz andere Reputation als vor einhundert Jahren. Was früher als unangemessen galt oder läppisch, das gilt heutzutage als besonders wertvoll. Der moderne Mensch muss sozial kompetent und empathisch sein. Dagegen spricht ja erst einmal nichts, und wir wollen sicher nicht die Steifheit des 19. Jahrhunderts zurück. Man kann sich aber manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass wir über das Ziel hinausgeschossen sind. Wir werden zunehmend eine larmoyante Gesellschaft im Modus der Nabelschau.
 
Und welche Rolle spielen da die Massenmedien?

Eine große. Warum gibt es Massenmedien? Um zu informieren? Nein, natürlich nicht. Dafür bräuchte es nur Agenturmeldungen. Massenmedien gibt es, um zu unterhalten. Unterhalten fühlt sich der Mensch durch starke Emotionen: Spannung, Angst, Empörung. Und die intensivsten Gefühle lösen nun einmal Katastrophen, Schicksalsschläge, Unglück und Leid aus. 
Und wer sich nicht darauf einlässt, der hat die schlechte Nachrede?
Wer auf diese Emotionalisierungsstrategien, auf ergreifende Bilder, anrührende Berichte oder empörende Nachrichten mit kühler Analyse, mit Sachargumenten und rationalen Erwägungen reagiert, der ist für das kitschige Gemüt ein Unmensch – oder einfach ein alter weißer Mann.

Diese schlechte Nachrede dürften Sie haben. 

Mag sein, das spielt aber keine Rolle. 

Was früher als läppisch galt, das gilt heutzutage als besonders wertvoll.

Kitsch, ein Narkotikum des Geistes, sei „allenfalls als Produkt von Zynismus hinnehmbar“, auch das schreiben Sie in Ihrer Streitschrift.

Es ist doch offensichtlich: Kitsch ist allenfalls erträglich, wenn er berechnend und mit kühlem Verstand eingesetzt wird, etwa in der Werbung. Als mündiger Verbraucher sollte ich das durchschauen und damit umgehen können. Kitsch hingegen, an den geglaubt wird, der ernst gemeint ist und aus einer inneren Überzeugung kommt, ist gefährlich.

Weil es für das kitschige Gemüt nur eine legitime moralische Überzeugung gibt – und zwar die eigene?

Das erste Opfer des kitschigen Bewusstseins ist das kitschige Bewusstsein selbst. Es versinkt in Gefühligkeit, Larmoyanz und Infantilität. Das heißt, es verabschiedet sich im Grunde aus dem rationalen Diskurs. Es verbarrikadiert sich hinter seinen gefühlten Überzeugungen und ist für rationale Argumente nicht mehr zugänglich. Gut ist, was sich gut anfühlt.

Weil Kitsch überall dort entsteht, wo die nüchterne Wirklichkeit aufgegeben wird?

Genau. Das kitschige Bewusstsein weigert sich, die Realität wahrzunehmen. Das ist der Kern allen Kitsches. Des ästhetischen ebenso wie des politischen. Mit Hilfe des ästhetischen Kitsches flieht das kitschige Bewusstsein in eine heile Welt, etwa das Cornwall der Rosamunde-Pilcher-Romane. Der politische Kitsch hingegen beschwört die politisch heile Welt, nachhaltig, friedlich, sozial und gerecht. Das können jedoch allenfalls Leitlinien des Handelns sein, nicht aber erreichbare Zustände.

Dieser Satz! „Letzter Richter über Wahr­­heit und Realität wird das subjektive Empfinden.“

In modernen Gesellschaften bekommt das persönliche Empfinden und Fühlen eine immer bedeutendere Rolle. Das setzt schon in der Aufklärung ein und gewinnt über das 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart immer stärkere Bedeutung. Letztlich ist diese Entwicklung das Ergebnis von Individualisierung und Emanzipation. Das Ich und sein Weltempfinden werden zentral. Nicht objektive Kriterien sind relevant, sondern subjektive Eindrücke. Sogar das Geschlecht ist eine Frage des persönlichen Empfindens, nicht etwa objektiver Tatsachen. Das alles ist nur konsequent und hat eine innere Logik. Ob unsere Gesellschaft das aushält, ist eine andere Frage.

Vielen Dank für das Gespräch!

Buchtipp 

Alexander Grau „Politischer Kitsch“ Claudius Verlag, München 2019

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