Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„In die Enge getrieben, ist Putin zu allem fähig“

Mai 2022

Heinz Gärtner (71), Professor für Politikwissenschaft und vormals Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, spricht im Interview über Putins Krieg und die neue Weltordnung. Die Ukraine sei nur ein kleiner Teil einer globalen Auseinandersetzung, sagt Gärtner; die Aussagen von US-Präsident Biden hält er für höchst riskant: „Sollte all das, was der Westen fordert, auch eintreffen:
dann blieben Putin nur mehr die Nuklearwaffen.“

Herr Professor Gärtner, wird die Geschichte Europas, wird die Geschichte der Welt derzeit neu geschrieben?

Wenn man in Betracht zieht, dass Globalisierung und kooperative Sicherheit die Intentionen der vergangenen Jahre waren, dann wird die Geschichte derzeit neu geschrieben. Die idealistischen Vorstellungen sind abgelöst, es scheint sich doch wieder eine konfrontative Weltpolitik durchzusetzen. Allerdings hat sich die Polarisierung bereits vor dem heutigen Ukraine-Konflikt abgezeichnet. Zwar ist die Welt nun in drei Pole geteilt, zwischen den USA, Russland und China; aber im Endeffekt geht es wie im Kalten Krieg um Einflusszonen. Putin hat die Einflusszonen zurück nach Europa gebracht, er hat den Krieg zurück nach Europa gebracht …

Hat sich ein neuer Eiserner Vorhang zwischen Ost und West gelegt? Oder sind die Begrifflichkeiten der Vergangenheit im 21. Jahrhundert obsolet geworden?

Nein, diese Begrifflichkeiten sind nicht obsolet geworden. Dieser neue eiserne Vorhang ist sehr stark sichtbar. Allerdings sind die ideologischen Vorzeichen heute andere: Es geht nicht mehr um die Konfrontation zwischen Kommunismus und Staatswirtschaft einerseits und Demokratie und Marktwirtschaft andererseits; es geht heute um die Konfrontation zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie. Wobei das heutige Russland keine Soft Power mehr zu bieten hat …

Putin denkt in den Kategorien des Kalten Krieges.

Soft Power? 

Der Ausdruck geht auf den US-amerikanischen Politologen Josef Nye zurück. Nye hatte gesagt, dass die USA sowohl militärische Stärke als auch Attraktivität brauchen, um entsprechend Macht ausüben zu können. Die USA sind militärisch stark – und sie sind, bei all ihren Schattenseiten, auch attraktiv, durch ihr Wirtschaftssystem, durch ihre Kultur, durch den „American Way of Life“. Das heutige Russland hat keine solche Attraktivität mehr. Hatte der Kommunismus der Sowjetunion noch eine gewisse Attraktivität, auch im Westen, weil er theoretisch war, weil er sich auf Marx bezogen hatte, hat Putin heute nur noch einen gekünstelten Nationalismus, den er vor seine geopolitischen Ambitionen schiebt. Er weiß das, mangels attraktiver Ideologie setzt er auf rohe Gewalt. 

Sie sagten 2019 in einem Thema-Vorarlberg-Interview: ‚Russland und China stehen in einem Konflikt mit den USA, der nicht auf Ideologie basiert, sondern auf Geopolitik.‘ Prophetische Worte …

Demokratie versus Nicht-Demokratie, das ist die neue Ideologie, die aber letztlich nur das verdeckt, um was es wirklich geht: Um die Geopolitik. Denn die USA unterhalten auch mit Nicht-Demokratien beste Beziehungen, wenn es notwendig ist, beispielsweise mit Saudi-­Arabien, Ägypten, China, Vietnam, den Philippinen oder Indien. Geopolitik gewinnt immer gegen Ideologie. Immer.

Die grundlegende Annahme war eigentlich, dass Konflikte zwischen konkurrierenden Staaten im 21. Jahrhundert mit ökonomischen und nicht mehr mit militärischen Mitteln ausgetragen werden …

Wenn Pole entstehen, dann haben sie immer drei Dimensionen: Eine wirtschaftliche, eine militärische, und eine kulturelle. Es sei denn, es gäbe einen Multilateralismus, der die Polarisierung mildert. Und das ist das Problem, das wir heute haben: Trump hat praktisch den gesamten internationalen Multilateralismus zerstört und Biden hat ihn nicht wirklich wiederbelebt. Dabei war der Multilateralismus im Kalten Krieg noch in der Lage, Konflikte abzufedern, mit seinen Organisationen, seinen Rüstungskontrollabkommen und seiner Entspannungspolitik. Heute haben wir die Polarisierung, aber keinen Multilateralismus mehr, und das ist die gefährliche Situation. Die Ukraine ist da nur ein kleiner Teil dieser globalen Auseinandersetzung. 

Die Ukraine ist nur ein kleiner Teil dieser globalen Auseinandersetzung.

Haben Politikwissenschaftler, haben internationale Beobachter des Geschehens mit dieser Verschärfung des Konflikts, mit dieser Eskalation denn gerechnet?

Der Konflikt war da, er war angelegt, mit der NATO-Osterweiterung und mit Putins Warnungen. Aber dass es so eskaliert, das war unerwartet. Wenngleich man eine Analogie zur Vergangenheit ziehen kann: Auch im Kalten Krieg hatte es neben klaren Einflusszonen auch umstrittene Gebiete gegeben, die zu Weltkrisen und zu Kriegen geführt haben. Korea, Vietnam, Afghanistan, afrikanische Länder: Bei all diesen Kriegen haben Großmächte versucht, umstrittene Gebiete für sich auszunutzen. Und man sieht noch eine Analogie zu damals: In allen Fällen, in denen eine militärische Großmacht in einem solchen Land direkt involviert war, hat die andere Großmacht die betreffenden Milizen unterstützt und Waffen geliefert und Ideologie verbreitet, aber sie hat sich nicht direkt eingemischt – um einen Weltkrieg zu verhindern. Und jetzt ist die Ukraine ein solches umstrittenes Gebiet. Und davon gibt es mehrere in der Welt: das Südchinesische Meer, Taiwan, der Mittlere Osten.

In der „Zeit“ hieß es, Putin wolle vorwärts in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts. Teilen Sie diese Einschätzung?

Da gibt es verschiedene Interpretationen. Ich gehe eher davon aus, dass Putin doch in Einflusszonen denkt, also eher in den Kategorien des Kalten Krieges. Putin will eine Weltordnung, in der Russland eine wichtige Rolle spielt und in der es seine Einflusszonen hat; er will nicht nur als Unruhestifter auftreten. Russland hat schon auch Interesse an Stabilitäten, in den Gebieten, in denen es seinen Einfluss nicht geltend machen kann. Und was die angesprochene Regellosigkeit betrifft: Großmächte brechen Regeln. Putin hat das Völkerrecht in der Ukraine eklatant gebrochen, das wirft man ihm zu Recht vor. Aber als Trump 2018 aus dem Iran-Abkommen ausgestiegen ist, war das auch eine Verletzung des Völkerrechts, die beinahe zu einem Krieg im Mittleren Osten geführt hätte …

Steigt die Gefahr, dass sich der derzeit auf die Ukraine begrenzte Krieg ausweiten könnte? Je länger er dauert?

Es steigt zunächst die Gefahr, dass der Krieg in der Ukraine vollständig eskaliert. Carl von Clausewitz‘ Buch über den Krieg, im 19. Jahrhundert geschrieben, ist faktisch eine Beobachtung des jetzigen Krieges. Von Clausewitz schreibt, dass jeder Krieg zum Äußersten drängt. Der Krieg hört nicht auf. Er hat eine eigene Dynamik, er kennt keine Grenzen. Und das schließt Zerstörung, Vernichtung, Massaker, das Töten von Zivilisten, alles das, was wir da in der Ukraine sehen, mit ein. Die Gefahr, die ich sehe, ist, dass der Krieg über die Grenzen schwappen könnte, dass beispielsweise russische Raketen auf polnischem Territorium einschlagen und die NATO dann ihren Artikel 5 ausruft. Im Konfliktfall wirkt er eskalierend, insbesondere, weil er durch die Beistandsverpflichtung alle NATO-Staaten involvieren würden, was im schlimmsten Fall einen Nuklearkrieg auslösen könnte. Ganz Europa wäre betroffen. Alle würden zu Kriegsparteien. Aber dass Russland intentional NATO-Staaten angreifen würde, halte ich nicht für wahrscheinlich, außer die NATO greift militärisch direkt in den Konflikt ein.

Warum?

Hätte Russland die Intention gehabt, einen imperialen Krieg zu führen, dann sieht man das zumindest nicht im Militärbudget. Vor dem Krieg in der Ukraine hatten die Russen ihre Militärausgaben nicht signifikant erhöht, es ist kein Budget, mit dem sich ein großer Krieg führen ließe: Die russischen Militärausgaben betragen gerade einmal sechs Prozent der entsprechenden Ausgaben der NATO. Damit lässt sich kein imperialer Krieg führen. Selbst wenn Putin wollte: Er hat die Kapazität nicht. Er hat sich ja auch in der Ukraine verschätzt. Aber: Zu glauben, die Ukraine könne wegen der Schwäche der russischen Invasion nun leicht gewinnen, das ist ein ziemlicher Trugschluss, der die Situation nur noch weiter eskalieren lässt. Wenn beide Seiten glauben, sie könnten gewinnen, dann hört ein Krieg nicht auf.

Es muss Alternativen zum Krieg geben!

Sind die zunehmenden Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine in russischen Augen nicht fast schon einem NATO-Angriff gleichzusetzen?

In russischen Medien wird das bereits so dargestellt: Das ist ein Kampf gegen die NATO. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Wenn das nun das russische Narrativ wird, ist der Schritt nicht mehr weit, dass Russland die Lieferungen als Angriff der NATO interpretiert. Und dann haben wir den Weltkrieg. Putin hat nicht die Kapazitäten, gegen die NATO zu kämpfen. Aber er hat Nuklearwaffen.

Biden hatte Ende März zum Sturz Putins aufgerufen, seine Worte waren vom US-Präsidialamt, auch von Außenminister Blinken aber unverzüglich kalmiert worden …

Es ist eine typische amerikanische Reaktion, schnell nach einem Regime-Change, nach einem Regierungswechsel zu rufen. Und das haben uns die USA ja vorgeführt, in fast einhundert Fällen während des Kalten Krieges. Das haben sie im Iran gemacht, in Guatemala, in Chile, und auch in Vietnam vor dem Krieg. In Venezuela und im Iran hat man es jetzt wieder versucht. Aber: Russland ist eine Nuklearmacht. Das hat Biden in seiner Emotion vermutlich nicht mitbedacht. Der US-Präsident hat sich da sehr weit vorgewagt. Man muss vorsichtig sein mit solchen Äußerungen. So moralisch verständlich sie auch sind, muss man das politisch mit Augenmaß und Verhältnismäßigkeit sehen. Denn Putin würde, bevor er vor einem Tribunal in Den Haag landet, zu Nuklearwaffen greifen. 

Das heißt, die Gefahr eines Atomschlages ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr?

Ja. Sollte es zu Konfrontation zwischen der NATO und Russland kommen, sollte sich Putin ganz ins Eck gedrängt sehen, sollte also all das, was der Westen fordert, auch eintreffen: dann blieben Putin nur mehr die Nuklearwaffen. Putin würde bis zum Äußersten gehen. Das würde ich ihm zutrauen. In die Enge getrieben, ist Putin zu allem fähig.

Und niemand könnte das verhindern?

Im Kalten Krieg wurde sehr oft mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht, aber es hat immer wieder Mechanismen gegeben, die das aufgefangen haben. Dem ständig betrunkenen Nixon hatte man beispielsweise einen Atomschlag zugetraut; man hatte damals entschieden, dass Verteidigungsminister Schlesinger sofort informiert wird, sollte Nixon auch nur in die Nähe einer solchen Entscheidung kommen. Damals entstand die Madman-Theory. Verschiedene Beobachter haben auch heute die Hoffnung, dass russische Generäle das noch verhindern könnten, sollte Putin zu dieser Entscheidung gelangen. Aber diese Hoffnung habe ich nicht, angesichts dieser streng hierarchischen Struktur. Ich bezweifle stark, dass jemand Putin aufhalten würde.

Dramatisch …

Diplomatie hat noch eine Chance, das würde ich nicht ganz ausschließen. Es liegen gute Vorschläge am Tisch, etwa die Neutralität der Ukraine; dieser Vorschlag würde die Frage der Einflusszonen auflösen. Es gäbe keine NATO-Erweiterung, die russischen Truppen würden abziehen, die Ukraine würde neutral, nach österreichischen Vorbild. Das wäre schon eine ganz gute Basis für Verhandlungen. Wenn es Putin denn tatsächlich nur um Einfluss­zonen geht. Irre ich mich, und Putin hat trotz mangelnder Kapazitäten die imperiale Absicht, die alte Größe der einstigen Sowjetunion wieder zu errichten, dann gibt es keine Verhandlungslösung. Dann gibt es nur eine militärische Lösung …

Eine erschreckende Aussicht!

Es muss Alternativen zum Krieg geben! Putin hat Krieg und Konfrontation wieder nach Europa gebracht. Es ist schwer, das als neue Normalität zu akzeptieren. Bedrohung kann durch die Erhöhung militärischer Sicherheit angestrebt werden. Entsprechend des Sicherheitsdilemmas wird das von anderen ebenfalls als vergrößerte Bedrohung wahrgenommen werden. Sicherheit kann aber auch durch Verminderung der Bedrohung erhöht werden, indem man ein kooperatives Umfeld schafft. Das muss das langfristige Ziel bleiben. Die Alternative wären permanente Spannungen, die gewaltsame Entladungen immer wahrscheinlicher machen. Bertha von Suttner hatte diese Ahnung in dem Roman ‚Die Waffen nieder‘ niedergeschrieben. Er hat den Ersten Weltkrieg nicht verhindern können.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person

Heinz Gärtner  *1951 in Kärnten, ist Lektor an den Universitäten Wien und Krems. Der Politikwissenschaftler ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) in Wien sowie des Beirates Strategie und Sicherheit der Wissenschaftskommission des Österreichischen Bundesheeres. Er war langjähriger wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und an den Universitäten Stanford, Oxford, Johns Hopkins in Washington und in Deutschland tätig. 

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