David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Die Ökonomie der öffentlichen Meinung

September 2021

Ob Klima, Flüchtlinge, Mohren-Bier oder -Köpfe – in vielen Bereichen gilt die öffentliche Meinung als polarisiert. Doch oft fehlt die Meinung der schweigenden Mitte. 

Die Meinungsverfälschung im öffentlichen Diskurs

Ob der einzelne Bürger seine private Meinung öffentlich kundtut und am Prozess der gesellschaftlichen Willensbildung teilnimmt, hängt vom Zusammenspiel dreier Abwägungen ab. Erstens kann der Einzelne einen direkten Nutzen daraus ziehen, sich selbstdarstellerisch zu verhalten und seine Meinung vehement zu vertreten. Zweitens spielt der intrinsische Nutzen eine Rolle. Intrinsischer Nutzen entsteht, wenn die Meinungsäußerung eines Bürgers zu einer politischen Entscheidung führt, die seinen tatsächlichen Wünschen entspricht. Drittens ist im öffentlichen Diskurs die soziale Ächtung relevant, die einem Bürger widerfährt, wenn er eine bestimmte Meinung öffentlich vertritt. 
Der Einzelne hat im Regelfall einen vernachlässigbar kleinen Einfluss auf die öffentliche Meinung, und die öffentliche Meinung führt – wenn überhaupt – erst mit Verzögerung zu Politikentscheidungen. Daher ist bei der Abwägung, sich öffentlich zu äußern, eine mögliche soziale Ächtung besonders relevant. 
Die soziale Ächtung einer Meinung hängt vom medial veröffentlichten Meinungsklima ab. So wird sich der durchschnittliche Pendler derzeit eher hüten, öffentlich für niedrigere Belastungen des Automobilverkehrs einzutreten, selbst wenn dies sein privater Wunsch ist. Er kann die öffentliche Meinung kaum beeinflussen. Öffentlich möchte er nicht als „Umweltsau“ dargestellt werden, nur weil er mit dem Auto pendeln möchte und die Budgetschäden durch die Subventionierung des öffentlichen Verkehrs für gesellschaftlich unvertretbar hält. Um im veröffentlichten Meinungsklima der Gefahr öffentlicher Ächtung zu entgehen, wird er schweigen oder vielleicht sogar gegen seine private Meinung behaupten, er würde eigentlich mit dem Bus fahren wollen, wenn dieser denn regelmäßiger ins Dorf käme. Aus Angst vor sozialer Ächtung nimmt er davon Abstand, seine Meinung wahrheitsgemäß kundzutun.
Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass Einzelne ihre Meinung selbstdarstellerisch ohne große Berücksichtigung sozialer Ächtung öffentlich bekannt machen. Wer ohnehin extremere Positionen vertritt, wagt es eher, sich überhaupt zu äußern. Die öffentliche Meinung erscheint dadurch polarisierter.

Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit 

Weil die Meinung des Einzelnen die öffentliche Meinung kaum beeinflusst und der öffentliche Meinungsdruck zu sozialer Ächtung abweichender Meinungen führen kann, schweigen viele. Andere verfälschen ihre Meinung, sofern sie sich überhaupt öffentlich äußern. In solch einem Umfeld kann aus Meinungsverfälschung eine allgemeine Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit folgen. Diese Unwahrhaftigkeit ist mit hohen Kosten verbunden und führt zu schlechten politischen Entscheidungen. Meinungsfreiheit und die gelebte öffentliche Anerkennung von Meinungsvielfalt sind deshalb besonders wertvolle Güter in der Demokratie, die durch zunehmende Intoleranz und Filterblasen der (sozialen) Medien gefährdet sind. 
Ein hoher Grad an allgemeiner Unwahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit muss glücklicherweise nicht bestehen bleiben. Einzelne Vorkommnisse können dazu führen, dass bestehende öffentliche Meinungsmonopole implodieren, insbesondere wenn echte Kosten drohen. So formierte sich die Gelbwestenbewegung in Frankreich wegen einer geplanten höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe. Klimaziele hin oder her, ist es die private Präferenz vieler Franzosen, für Treibstoff nicht immer noch tiefer in die Tasche greifen zu müssen, insbesondere wenn die neuen Belastungen anderswo zu keinen Steuerentlastungen führen. 
Unter Umständen reicht sogar die öffentlich geäußerte Meinung weniger Bürger, weitere zu überzeugen, sich ebenfalls wahrheitsgemäß zu äußern. So bedurfte es im Märchen von Hans Christian Andersen nur eines Kindes, das wahrheitsgemäß sagte, der Kaiser wäre nackt, damit alle Bürger öffentlich das sagten, was sie insgeheim wussten – der Kaiser ist nackt.

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