Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Die Vorarlberger Frage, die es nie gab?

Oktober 2022

In zwei Beiträgen wurde bisher die Anschlussbewegung an die Schweiz zwischen 1918 und 1920 skizziert, ein dritter und letzter beleuchtet das Ende dieser Geschichte bis 1922.

Obwohl die Note des Obersten Rates vom Dezember 1919 gegen die Anschlussbestrebungen Vorarlbergs Stellung genommen hatte, betonte die Vorarlberger Landesregierung im August 1920 in ihrer an den Obersten Rat des Völkerbundes gerichteten Denkschrift, der Anschluss Vorarlbergs an Österreich habe lediglich einen „provisorischen Charakter“ (Denkschrift, 1920, S. 2). Im Herbst 1920 suchte Österreich um die Aufnahme in den Völkerbund an. Der Schweizer Bundespräsident Guiseppe Motta machte in der entscheidenden Verhandlung deutlich, dass die Schweiz das Bestehen des gegenwärtigen Österreichs wünsche, aber „man müsse aber den Fall in Betracht ziehen, daß die Integrität Oesterreichs Veränderungen erfahre.“ Aus Mottas Rede geht hervor, dass man Vorarlberg einerseits kein „barsches Veto“ habe entgegensetzen können, andererseits sei die Anschlussbewegung als „reine Gefühlssache“ betrachtet worden und habe seitens der Schweiz „keine Ermutigung“ erfahren. Für den Fall einer künftigen „fundamentalen Änderung“ der Integrität Österreichs spreche sich die Schweiz für das „Recht der freien Selbstbestimmung“ aus.
Vielen war dieses vermeintliche „Recht der Selbstbestimmung“, das man ganz offensichtlich nicht durchsetzen konnte, suspekt geworden. Doch obwohl niemand mehr damit rechnete, ergab sich für einen Anschluss an die Schweiz noch eine weitere Chance. Denn die angesprochene Integrität Österreichs wurde im Winter 1921/22 tatsächlich bedroht, diesmal durch das Szenario eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs, der sich durch den völligen Verfall der österreichischen Kronenwährung ankündigte. Zwischen 1914 und 1918 hatte der Schweizer Franken gegenüber der österreichischen Krone um den Faktor 2,6 gesteigert. Aber die einsetzende Hyperinflation, vor allem 1921 und 1922, pulverisierte die Währung. Hatte man 1914 für 100 Kronen 95,70 Schweizer Franken bekommen, so war der Gegenwert für 100 Kronen September 1922 kaum noch zu beziffern, es waren nur noch 0,0065 Franken!
Zunächst war die Inflation, dieser „Hexensabbath der Entwertung“ (Elias Canetti), nicht sofort gleichbeutend mit dem Untergang. Österreich wurde zu einem beliebten Reiseland, der Absatz österreichischer Waren stieg, die Produktion wurde extrem angekurbelt. Inflationsspekulation wurde sehr beliebt, die Zahl der Bankinstitute explodierte von 500 im Jahr 1914 auf 1500 im Jahr 1924. Nicht wenige unter ihnen waren allerdings dubios. Sie verschwanden spätestens mit der Einführung der neuen Schillingwährung ab 1925. Gerade in Vorarlberg, wo der Umgang mit dem Schweizer Franken als zweiter Landeswährung vielen Geschäftsleuten vertraut war, konnten gute Geschäfte gemacht werden. Diese Inflationskonjunktur hatte jedoch Folgen: die weitere Kapitalzufuhr unterblieb, niemand wollte unter derart riskanten Bedingungen hier investieren. Österreich saß auf einem Berg von Kriegsschulden, hatte 1918 viel zu viele Offiziere und Beamte, die nicht alle von heute auf morgen abgebaut werden konnten. Auf den internationalen Finanzmärkten war niemand bereit, Österreich einen ausreichenden Wiederaufbaukredit zu geben. 
Vor allem in Wirtschaftskreisen wurde daher immer häufiger und immer intensiver über einen Zerfall Österreichs spekuliert und im Frühjahr 1922 wurde auf den internationalen Finanzmärkten, an den Börsen, den Großbanken, aber auch in den diplomatischen und politischen Kreisen Europas der Zusammenbruch Österreichs prognostiziert. Der Regierung in Wien gelang es in dieser Situation zunächst nicht, eine große internationale Anleihe zu bekommen, die eine Sanierung des Staatshaushaltes ermöglicht hätte. Wie immer, wenn es ernst wird, kommen die Militärs ins Spiel. Der Schweizer Generalstabschef Emil Sonderegger berichtete Karl Scheurer, dem Chef des militärischen Departments, am 25. Jänner 1921, es sei „bekanntlich nicht ausgeschlossen, dass Österreich in nächster Zeit zusammenbricht“, daher werde „die Vorarlbergerfrage dringend“. Die Vorarlberger Landesregierung habe die Absicht, „beim Eintritt der Katastrophe Österreichs sofort die Autonomie Vorarlbergs zu erklären und eine Art Anschluss an die Schweiz zu suchen, bestehend in Gemeinsamkeit von Zoll, Post und Auslandsvertretung.“ Es würden dafür schon Vorkehrungen getroffen. Das Schweizer Militär müsse Vorkehrungen treffen, falls diese Entwicklung durch einen Putsch von „Sozialisten oder Alldeutschen“ gestört werde und „ein Anschluss an Deutschland drohe“. Dann dürfe man nicht mehr „ruhig zusehen“ „Ein solcher Putsch kann zu einer Art Bürgerkrieg werden“, warnte Sonderegger. Wenig später, am 7. März 1921 informierte Guiseppe Motta ebenfalls das Militärdepartement, man beurteile auf dem Finanzmarkt „die Aussichten Österreichs auf neue Kredite sehr schlecht“ – ein weiterer Versuch der österreichischen Regierung in London Unterstützung für einen Völkerbundkredit zu erlangen, war gerade gescheitert. Man müsse daher „mit tiefgreifenden Veränderungen im Laufe des Frühjahrs“ rechnen. 
Doch noch brach Österreich – erstaunlich genug – im Jahr 1921 nicht zusammen, obwohl die Geldentwertung immer phantastischere Formen annahm. Bei Abstimmungen im Mai und April 1921 sprach sich die Bevölkerung bei hoher Beteiligung für einen Anschluss an Deutschland aus (in Tirol 98, in Salzburg zu 99 Prozent). Als auch in der Steier­mark eine derartige Abstimmung für den Juli geplant wurde, musste sie auf internationalen Druck abgesagt werden. Pläne für eine bundesweite Abstimmung mussten ebenfalls aufgegeben werden. Weil die österreichische Regierung zwecks Entlastung des Haushaltes, die Lebensmittelzuschüsse Anfang Dezember 1921 einstellte, kam es am 5. Dezember in Innsbruck und Wien zu schweren Hungerkrawallen. Nach mehreren krisenbedingten Regierungswechseln wurde Ende Mai 1922 der Moraltheologe Ignaz Seipel, der mächtigste Mann der Christlichsozialen, Bundeskanzler. Als im August darauf die Inflation besonders stark anstieg, die britische Regierung einen 15 Millionen-Pfund-Kredit verweigerte und auch der Völkerbund keine Finanzhilfe gewährte, begann der steirische Landeshauptmann Anton Rintelen mit dem italienischen Gesandten in Österreich zwecks eines Anschlusses seines Landes an Italien zu verhandeln, um für den Fall, dass Österreich sich auflöse, die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln sicherzustellen. In dieser Situation unternahm Ende August 1922 Bundeskanzler Seipel eine später legendär gewordene Reise, die ihn zu Verhandlungen nach Prag, dann nach Berlin und schließlich nach Italien führte. Er bot der Tschechoslowakei Österreichs Beitritt zur kleinen Entente an, verhandelte mit Italien über eine Zoll- und Währungsunion und erreichte damit zumindest europaweit Aufsehen. Schon am 6. September konnte er in einer Rede vor dem Völkerbund in Genf die Lage Österreichs darstellen und bekam die Zusage für die große und langfristige Anleihe, um die man sich seit Jahren erfolglos bemüht hatte. Einen Monat später wurden am 8. Oktober die „Genfer Protokolle“ unterzeichnet. Unmittelbarer Effekt dieser Kreditzusage war die Stabilisierung der Währung im September 1922.
Just am 6. September, dem Tag von Ignaz Seipels großer Rede in Genf, legte das Schweizer Militärdepartement eine militärpolitische Studie zu Vorarlberg vor. Hier wurden mehrere Szenarien skizziert: 1. Österreich bleibt selbständig, alles bleibt wie gehabt, die Schweizer Ostgrenze ist kein Problem; 2. Vor­arlberg wird selbständig, ein für das Schweizer Militär unhaltbarer Zustand, überhaupt nicht wünschenswert, da das Land nicht lebensfähig wäre und sich auch nicht verteidigen könne. 3. Vorarl­berg schliesst sich Deutschland an, das hätte „für unsere Landesverteidigung die schwersten Nachteile zur Folge“, 4. Vor­arlberg würde von Italien besetzt, das wäre „militärisch ein ganz unabsehbarer Nachteil für uns“. Resümee: „Wir kommen deshalb zum Schluss, dass, vom militärischen Standpunkt aus beurteilt, die Angliederung des Vorarlberg’s an unser Land von entschiedenem Vorteil ist.“
Vorarlberger Politiker wie Otto Ender, Jodok Fink und Johann Josef Mittelberger, hielten zu diesem Zeitpunkt, so berichtete der Gemeindeamann von Rorschach, Arnold Engensperger, „das heutige Österreich wirtschaftlich nicht [für] lebensfähig“ und glaubten, „dass es durch allfällige Geldzuschüsse und dergleichen auf die Dauer auch nicht lebensfähig gemacht werden kann. […] Die leitenden Vorarlberger vertrauen übrigens darauf, dass die Schweiz nötigenfalls zum wirtschaftlichen Anschluss Vorarlbergs [die] Hand bieten wird, weil die Schweiz selbst ein wesentliches politisches Interesse daran hat, dass Vorarlberg nicht einen solchen Anschluss mit einem andern Nachbarn der Schweiz eingehe.“
Das brachte die Österreichpolitik der Schweiz auf den Punkt: Man befürwortete keinen Anschluss Vor­arlbergs, wollte aber für den Eventualfall eines Zusammenbruchs, der eben im Frühjahr und Sommer 1922 gekommen schien, eine Option auf Vorarlberg haben. 
Doch mit der Genfer Anleihe, einem innenpolitisch äußerst umstrittenen großen Kredit, der für die nächsten Jahre mit einem rigorosen Sparprogramm gekoppelt war, war im Herbst 1922 die Vorarlberger Frage endgültig entschieden. Die auf 20 Jahre geliehenen 650 Millionen Goldkronen verhinderten den weiteren Zerfall Österreichs – ohne den ein Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz undenkbar war – und ermöglichten die Einführung der stabilen Schillingwährung am 1. Jänner 1925. Das Schweizer Aktionskomitee „Pro Vorarlberg“ hatte sich schon ein Jahr zuvor aufgelöst, auch der Werbeausschuss in Vorarlberg löste sich auf. Als Bundeskanzler Seipel etwa ein Jahr später Vorarlberg einen Besuch abstattete, bemerkte er zur „Vorarlberger Frage“: „Wir haben Zeiten mitgemacht, wo man in diesem Lande Oesterreich fast aufgegeben und sich umgesehen hat, ob man die Zukunft nicht bei einem Nachbarn sichern soll. Mit Genugtuung stelle ich fest, daß das alles aufgehört hat, als man sah, daß in Wien wieder eine Politik des ganzen Volkes gemacht wird.“ 
Was nun nach diesem dritten Abschnitt der Anschlussbewegung kam, war eine letzte Phase der Verarbeitung, Aufarbeitung und schließlich der Erforschung. Dass die Geschichte der Vorarl­berger Frage heute noch von Interesse ist, zeigt die Tatsache, dass die 2009 im Landesmuseum gezeigte Ausstellung mit dem Titel „Kanton Übrig“ (Kuratoren: Gerhard Grabher und Stefan Graf) ein großer Erfolg und das Buch zur Ausstellung bald vergriffen war. Durch die unterschiedlichsten Forschungen wurde auch erkennbar, dass es die internationale Konstellation nach dem Ersten Weltkrieg gewesen war, die den Anschluss verhindert hatte: Die sich gegenseitig eifersüchtig belauernden Staaten blockierten Veränderungen, aber auch das bedrohte innenpolitische Gleichgewicht in der Schweiz (das Verhältnis zwischen den katholischen und nichtkatholischen und das zwischen deutschen und nichtdeutschen Kantone durfte nicht bedroht werden) war ein Hemmnis. Rückblickend schien es manchen, als ob kaum etwas geschehen wäre. Bei Wünschen, die nicht Erfüllung gehen, ist das manchmal so. Daniel Bourcat, der Schweizer Gesandte in Wien, meinte bei seinem Abschied 1925: „In politischer Hinsicht war eine wichtige Frage nach dem Umsturze die Anschlußabsicht Vorarlbergs an die Schweiz. In der Schweiz hat man immer unzweideutig den Standpunkt eingenommen, daß es für den Bund, solange Oesterreich besteht, eine Vorarlberger Frage überhaupt nicht gibt.“ 

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