Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Ein toxischer Nebeneffekt“

September 2020

Netzaktivistin Katharina Nocun (33) sagt im Interview, dass Datenschutz die soziale Frage der Zukunft sein werde. Die Buchautorin warnt gleichzeitig: „Wenn die Bürger gläsern werden, wird auch die Demokratie zerbrechlich.“ Ein Gespräch über die Macht US-amerikanischer Internet-Giganten, über umfassende Datensammlungen – und eine „längst überfällige Debatte“.

Frau Nocun, warum akzeptieren wir im digitalen Leben, was wir im analogen Leben nie akzeptieren würden – diese vollständige Überwachung?
Überwachung riecht man nicht, man schmeckt sie nicht, sie ist unsichtbar. Ich bin bei einem Saunabesuch in Berlin von einer Überwachungskamera in der Umkleidekabine aus drei Perspektiven nackt abgefilmt worden. Wer rechnet denn bitteschön mit so etwas? Zudem ist es meistens so, dass es erst dann Diskussionen über die Themen Tracking und Überwachung gibt, wenn Daten bereits zum Nachteil des Nutzers eingesetzt worden sind. 

Sprechen wir doch über sensible Daten, beispielsweise über Gesundheitsdaten.
Datensammlungen in diesen Bereichen bergen gesamtgesellschaftlich ein riesiges Gefahrenpotenzial, weil sie das Solidaritätsgebot aushebeln können. In den USA gibt es längst schon Versicherungsmodelle, in deren Rahmen es heißt: „Du entscheidest dich für diesen günstigeren Tarif und bekommst einen Fitness-Tracker ans Handgelenk, aber wenn du nicht täglich die vorgegebenen zehntausend Schritte gehst, dann musst du am Ende des Jahres einen nicht unerheblichen Betrag nachzahlen.“ Und was soll nun eine alleinerziehende Mutter tun, die tagsüber einem Büro-Job nachgeht? Soll die dann am Abend im Wohnzimmer auf- und ablaufen, weil sie sich weder den höheren Tarif noch einen Babysitter leisten kann? Solche Modelle haben wenig mit Freiheit oder mit Gerechtigkeit zu tun, sondern vor allem mit Gängelung. Ich sehe viele Chancen in der Digitalisierung, ich bin ein großer Freund neuer Technologien. Allerdings müssen wir genau hinsehen, welche Grenzen wir bestimmten Geschäftsmodellen setzen, damit neue Technologien eine Bereicherung und kein Schaden für unsere Gesellschaft sind. Denn nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch gesellschaftlich wünschenswert.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass aus dem mündigen Bürger der willige Datengeber geworden sei. Dieser Datengeber aber verteidigt sich oftmals mit dem Argument, er habe ja nichts zu verbergen, also könne man mit seinen Daten auch nichts anfangen. Ärgert Sie dieses Argument?
Ziel meiner Buchrecherche war es, die Datenspuren, die wir in unserem Alltag hinterlassen, sichtbar zu machen. Basierend auf Artikel 15 der EU-Datenschutz-Grundverordnung hat jeder Nutzer das Recht, seine Daten kostenlos von dem jeweiligen Anbieter anzufordern. Das habe ich bei zahlreichen großen Anbietern gemacht. Und gerade bei Amazon habe ich gemerkt, wie schockierend eine solche Datenspur tatsächlich ist. Da waren über einen Zeitraum von 14 Monaten 15.365 Clicks aufgelistet und zu jedem dieser gemessenen Datenpunkte gab es bis zu 50 weitere Zusatzinformationen. Da ist jedes einzelne Produkt, das ich auch nur angesehen habe, verzeichnet. Das ist, als würde im Supermarkt ein eigens abgestellter Mitarbeiter hinter mir herlaufen und alles mitschreiben, was ich kaufe oder anschaue. Wenn die Menschen erst einmal sehen würden, welche Analysen anhand solcher Daten möglich sind, dann würden wir heute eine vollkommen andere Debatte führen! 

Nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch gesellschaftlich wünschenswert.

Also hat doch jeder etwas zu verbergen?
Ja. Wir haben alle etwas zu verbergen: Dieses Etwas nennt sich Privatsphäre. Privatsphäre ist eine zentrale Voraussetzung für eine lebenswerte digitale Welt. Überwachung ist also kein individuelles Problem, das wir nur auf dieser Ebene diskutieren sollten. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem! Und wenn jemand meint, er habe nichts zu verbergen – wobei ich prinzipiell davon ausgehe, dass das bei den meisten Menschen sowieso nicht stimmt – dann kann man das auch nicht so ohne weiteres auf andere Menschen übertragen. Es gibt Menschen, die sehr gute Gründe haben, bestimmte Dinge zu verbergen, etwa, wenn man homosexuell ist, aber eher in einer konservativen Gegend wohnt und Angst hat, wie die Familie oder das Arbeitsumfeld darauf reagieren würden. Vom Quellenschutz im Journalismus müssen wir erst gar nicht reden. Oder vom Verhältnis zwischen Arzt und Patienten. Oder vom Arbeitgeber. Ja natürlich verrate ich meinem Arbeitgeber nicht alles über mich, ich bin ja ihm gegenüber in einem Abhängigkeitsverhältnis. Bei informationeller Selbstbestimmung, bei der Frage, wer was über mich wissen darf, geht es ganz oft um Machtgefälle. 

Der Satz „Wissen ist Macht“ scheint also mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten?
Wir alle sind mit dem Wissen aufgewachsen, dass wir unterschiedliche Rollen in unserem Leben haben, und das ist auch vollkommen normal. Ich erzähle meiner besten Freundin etwas anderes als meinem Arbeitgeber oder meinem Arzt oder meinem Partner. Es ist etwas vollkommen Natürliches, bewusst zu entscheiden, welchen Teil von mir ich wem offenbare. Und ich würde davor warnen, in der Digitalisierung dieses Grundprinzip des sozialen Miteinanders auszuhöhlen. Es käme dann zu einem sehr großen Machtgefälle zwischen denen, die sehr viele Informationen über uns haben und gleichzeitig über wichtige Fragen unseres Lebens entscheiden können, und den einzelnen Menschen, die dem schutzlos ausgeliefert sind.

Sie zitieren Googles langjährigen Chef Eric Schmidt, der 2009 gesagt hatte: „Wenn es irgendetwas gibt, was man nicht über Sie wissen sollte, dann sollten sie es vielleicht erst gar nicht tun.“ 
Einige Akteure aus dem Silicon Valley haben in den letzten Jahren immer wieder erklärt, Datenschutz sei altmodisch, das brauche man in der modernen Gesellschaft nicht. Das Problem ist, dass wir zu lange eine Datenschutz-Debatte geführt haben, die den Nutzern die Schuldkarte zugespielt hat, nach dem Motto‚ du bist selber schuld, wenn du diese Dienste nutzt‘. Ich habe allerdings das Gefühl, das sich das in den vergangenen Jahren stark gedreht hat, vor allem durch mehrere Datenmissbrauchs-Skandale, die deutlich gemacht haben, dass große Datensammlungen eben immer auch ein riesiges Gefahrenpotenzial bergen. Der Skandal rund um Camebridge Analytica hat dazu geführt, dass erstmals in der Breite diskutiert worden ist, welche große Rolle der Grundsatz „Wissen ist Macht“ bei digitalen Wahlkämpfen spielen kann. Wenn man weiß, welche Sehnsüchte ein Nutzer hat und wofür er sich besonders interessiert, dann kann man das natürlich auch für politische Manipulation nutzen und damit im Zweifel auch Wahlentscheidungen maßgeblich beeinflussen. 
Viele Menschen scheinen aber nach wie vor kein Problem damit zu haben, persönliche Daten im Internet preiszugeben. Warum ist das so?
Die Nutzung eines Dienstes bedeutet nicht unbedingt, dass die Menschen alles kritiklos hinnehmen. Aber wenn man sich im Internet bewegt, ist es quasi unmöglich geworden, dem Tracking bestimmter großer US-Anbieter aus dem Weg zu gehen. Und die Menschen gehen ja auch nicht zu Facebook, Instagram oder WhatsApp, weil diese Dienste besonders datenschutzfreundlich wären. Und wie frei ist eigentlich die Entscheidung, bei bestimmten sozialen Netzwerken zu sein, wenn das Nicht-Nutzen soziale Ausgrenzung bedeuten würde, etwa in der Klassengemeinschaft? Oder im Freundeskreis? Und können kleine und mittlere Unternehmen, die sich starker Konkurrenz ausgesetzt sehen, auf bestimmte Werbeformen und auf Social Media einfach so verzichten? Gerade, wenn wir es mit Anbietern zu tun haben, bei denen man nicht wirklich von einer freien Wahl sprechen kann, und Tracking online quasi omnipräsent ist, finde ich es schwierig, aus der Nutzung eines Dienstes oder des Internets im Allgemeinen abzuleiten, dass die Nutzer damit kein Problem hätten. Den Datensammlungen der großen Anbieter, die quasi eine Monopolstellung haben, kann man sich selbst bei Nicht-Nutzung bestimmter Angebote kaum entziehen. Zahlreiche Apps haben etwa Tracking-Dienste von Facebook oder Google eingebunden …

Sorgt diese Marktmacht auch dafür, dass Nutzer in ihren Filterblasen gefangen sind?
Das Konzept von Filterblasen ist durchaus umstritten. Menschen suchen sich auch analog eher Bezugspunkte, die sie in ihrer Meinung bestärken. Die Wahrscheinlichkeit ist recht groß, dass im Freundeskreis die Meinungen zu bestimmten politischen Inhalten meist recht ähnlich sind. Und natürlich übertragen sich solche analogen Echoblasen dann eben auch ein Stück weit auf den digitalen Raum, weil man dort ja wieder mit denselben Menschen befreundet ist. Gleichwohl verstärken soziale Netzwerke solche Dynamiken. Die Algorithmen, die Facebook oder YouTube nutzen, spielen eine große Rolle, wenn es um die Frage geht, wie Nutzer überhaupt erst auf bestimmte Gruppen oder Inhalte aufmerksam werden. Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Empfehlungs-Algorithmus von YouTube Videos von Verschwörungsideologen lange Zeit sehr begünstigt hat, weil diese Inhalte zu einer längeren Verweildauer der Nutzer auf der Plattform führen. Wobei da mit Sicherheit keine ideologische Absicht dahintersteckte, bestimmte Gruppierungen oder Influencer gezielt zu stärken. Das war schlichtweg ein toxischer Nebeneffekt eines Optimierungs-Algorithmus, der einfach den Auftrag bekommen hat: Maximiere die Verweildauer der Nutzer auf der Seite! Derartige Dynamiken sind in vielen Bereichen brandgefährlich …

Ein Beispiel?
Wenn Sie bei der Google-Suche „Impfungen sind ...“ eingeben, nennt die Auto-Vervollständigung Vorschläge, wie beispielsweise „Impfungen sind Gift“ oder „Impfungen sind krebserregend“, „Impfungen sind ja doch nur ein Komplott der Pharmaindustrie.“ Das ist wissenschaftlich vollkommener Unsinn. Aber die Suchmaschinen-Autovervollständigung funktioniert eben nach dem Prinzip: Angezeigt wird, was viele andere gesucht haben. Ein Nutzer, der vielleicht noch nicht einmal impfkritisch eingestellt ist, will sich informieren und wird aus Neugier dabei auf Seiten geführt, auf denen gezielt Ängste geschürt und Verschwörungsideologien verbreitet werden. Es entsteht eine Eigendynamik, denn was vorgeschlagen wird, wird auch häufiger ausgewählt. So etwas kann gravierende Auswirkungen haben, etwa wenn Eltern aufgrund einer solchen „Kurzrecherche“ entscheiden, ihre Kinder nicht impfen zu lassen. Egal ob Suchergebnisse oder Social Media Newsfeed – was uns online angezeigt wird, ist häufig nach bestimmten Regeln vorgefiltert worden. Für den Nutzer sind diese Vorentscheidungen meist intransparent. Wir haben quasi den Schritt übersprungen zu fragen, nach welchen Kriterien uns Informationen überhaupt präsentiert werden. Es ist aus meiner Sicht höchste Zeit, eine größere gesellschaftliche Debatte darüber zu führen. 

Sie sagen auch, dass „die Debatte um Datenschutz eine Debatte um die Zukunft unserer Demokratie“ ist. Inwiefern?
Ich bin überzeugt davon, dass Datenschutz die soziale Frage der Zukunft sein wird. Weil Diskriminierung auf Datenbasis zuerst meist bei denen stattfindet, die sich nicht wehren können. In welchen Bereichen ist denn die Überwachung am Arbeitsplatz am stärksten ausgebaut worden? Bei prekären Jobs, im Bereich der Paketzustellung oder in der Fließbandarbeit. Wir hatten in Deutschland große Datenschutzskandale bei Diskountern, da sind Mitarbeiterinnen teilweise bis in die Ruhebereiche hinein überwacht worden, um etwaiges Fehlverhalten herauszufinden. Es wurden Dossiers angelegt, in denen penibel Details aus dem Privatleben der Mitarbeiter vermerkt waren. Die Digitalisierung senkt die Kosten für Überwachung. Ich glaube, dass wir in ganz vielen Bereichen aufpassen müssen, nicht in eine Gesellschaft hineinzuwachsen, in der das Solidaritätsprinzip aufgegeben wird und in der es plötzlich in Ordnung ist, Menschen in einer Art und Weise zu überwachen, die ihnen die Menschenwürde nimmt. Kein Mensch möchte sich wie eine Schraube in einer großen Maschine fühlen, wie ein Gegenstand, dem grundsätzliche Rechte abgesprochen werden. Von daher würde ich mir wünschen, dass Europa mit der Datenschutz-Grundverordnung nicht aufhört, sondern weiter diskutiert, wie ein besserer Schutz der informationellen Selbstbestimmung aussehen kann. Wir müssen uns fragen: In welchen Bereichen brauchen wir bessere Standards, auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern? Denn Bürgerrechte sind auch Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Ich frage mich ja angesichts der politischen Entwicklung zunehmend, was jetzt bereits existierende Datensammlungen eines Tages in den Händen einer rechtsextremen oder rechtspopulistischen Partei in der Regierung bedeuten könnten. Das sind wichtige Fragen, die wir künftig vermehrt stellen müssen. Datenschutz ist eine der zentralen, wichtigsten Machtfragen sowohl in Bezug auf das Verhältnis zwischen Verbraucher und Wirtschaft, als auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Wenn die Bürger gläsern werden, wird auch die Demokratie zerbrechlich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Wir haben alle etwas zu verbergen: Dieses Etwas nennt sich Privatsphäre.

Zur Person

Katharina Nocun * 1986 ist eine deutsche Bürger­rechtlerin, Netzaktivistin und ehemalige Politikerin der Piraten­partei. Die studierte Ökonomin und Buchautorin leitet in Deutschland bundesweite Kampagnen zum Thema Datenschutz. Von Katharina Nocun erschienen: „Die Daten, die ich rief“ (2018) und gemeinsam mit Pia Lamperty „Fake Facts – wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ (2020).

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