Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Eine Wahrheit braucht keine Mehrheit“

März 2021

Politikwissenschaftlerin und Buchautorin Ulrike Guérot (57) fragt im Interview, ob Europa nochmals das findet, was einst das europäische Lebenselixier war: Aus den Erfahrungen einer Krise einen Systemwechsel herbeizuführen. Ein Gespräch über geschlossene Grenzen, ein Jahrzehnt der Enttäuschungen –
und „die abgeschaffte Mindermeinung“ in Sachen Corona.

Sie hatten in Servus TV einen starken Auftritt, sagten dort, es werde über Corona nicht richtig diskutiert, weil jeder, der Kritik übe, sofort als unvernünftig gelte. 
In der Tat glaube ich, dass wir in der Corona-Krise eine Grundvoraussetzung der Demokratie nicht berücksichtigt haben – zwischen Sprecher und Argument zu trennen. Aus einem dummen Mund kann das richtige Argument kommen und aus einem klugen Mund das falsche. Das hat schon vorher eingesetzt, aber Corona potenziert das. Heute heißt es: Wenn du das sagst, bist du ein Alu-Hut. Man denunziert das Gegenüber und muss dann gar nicht mehr hinhören, was der sagt, das Argument ist diskreditiert. In dem Moment aber, in dem man Sprecherpositionen und Argument nicht mehr trennt, findet keine strittige Debatte mehr statt, keine vernünftige Gegenüberstellung von Argumenten.

Es wurde und wird erst gar nicht diskutiert?
Es gab vor allem zu Beginn der Corona-Krise eine Verengung des Diskussionsraums, eine geschlossene Meinungsdecke. Das Diskursfeld war sehr eng abgesteckt. Und es war auch ein Fehler, dass wir begonnen haben, auf einmal von der Wissenschaft nur im Singular zu sprechen. Damit haben wir den Wissenschafts-Pluralismus abgeschafft, wir haben die Mindermeinung abgeschafft, wir haben so getan, als gäbe es eine „evidenzbasierte Politik“. Dabei gibt es meistens eine Wahrheit, aber mehrere Perspektiven auf diese Wahrheit. Über die verschiedenen Perspektiven auf diese Wahrheit muss man streiten können, genau das ist die demokratische Aushandlung. Uns ist der Raum für legitime Kritik verloren gegangen. Und das kann eine Demokratie nicht aushalten, ohne sich zu entzweien und notwendigerweise in der Polarisierung zu landen.

Sie haben dort auch gesagt, es sei nicht allein schon deswegen etwas vernünftig, nur, weil es eine große Mehrheit sage.
Eine Wahrheit braucht keine Mehrheit. Sophie Scholl hatte eine Wahrheit. Aber sie war nicht in der Mehrheit.

Apropos Wahrheit. Das Virus, das keine Grenzen kennt, hat dafür gesorgt, dass es in Europa wieder Grenzen gibt. Ist das paradox?
Das ist absolut paradox. Es ist ja geradezu absurd, dass wir die Grenzen schließen, um ein Virus zu bekämpfen, das keine Grenzen kennt. Ich habe mich immer dafür ausgesprochen, lokale Ausbruchherde wie etwa in Heinsberg, Ischgl oder in den vielen Schlachthöfen abzuriegeln. Nur hat die Abriegelung von Risikogebieten nichts mit Grenzen zu tun. Politisch entscheidend ist aber, dass die Frage nach der Souveränität – also die Frage, wer entscheidet in Europa? – nach wie vor unbeantwortet ist. Die Staats­chefs herrschen über ihre jeweiligen Territorien. Frau von der Leyen konnte die Grenzen weder zu- noch aufmachen. Wir haben bei Ausbruch der Pandemie tatsächlich gesehen, dass Europa in Krisenzeiten nicht handeln kann.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass „die alte Dame EU alles überlebt, aber nichts glanzvoll gemeistert“ habe, weder die Bankenkrise noch die Eurokrise, weder die Sparpolitik noch die Flüchtlingskrise. Wird Corona da nur eine weitere Etappe sein?
Das fürchte ich. Die EU wird das natürlich überleben. Man muss keine Neomarxistin sein, um zu analysieren, dass die Kapitalinteressen am Euro viel zu wichtig sind. Auch wenn den meisten Menschen nicht klar ist, dass an der EU unser aller Geld hängt. Mich interessiert aber vielmehr eine andere Frage …

Die da lautet?
Ob wir noch einmal das hinbekommen werden, was einst das europäische Lebenselixier war: Aus der Erfahrung einer Krise einen Systemwechsel herbeizuführen. Alles das, wovon wir heute leben und worauf wir heute in Europa stolz sind, geht auf Systemänderungen zurück: Auf Schengen, auf den Binnenmarkt, auf den Euro. Aber heute? Heute tun wir so, als ob wir ganz viel Europa wollen. Aber sind wir denn wirklich noch bereit, auch nur ein Subsystem auf Europa umzustellen, also zu vergemeinschaften, wie etwa das Steuersystem, das Arbeitslosengeld oder meinetwegen die Außenpolitik? Was haben wir jetzt in der Pandemie rigoros auf Europa umgestellt? Wir reden viel über Gesundheitspolitik, wir haben jetzt die gemeinsamen Anleihen. Doch kann man diesen Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro ins Feld führen, um zu sagen, wir hätten in dieser Krise systemisch etwas umgestellt? Sind diese 0,6 Prozent mehr fiskalischen Leistungen über die Grenzen hinweg genug, um ein Systemwechsel zu sein? Nein!

Europa hat sukzessive an Idealismus und an Elan verloren. Und da greifen wir die Fragen auf, die Sie in Ihrem Buch selbst stellen: Was ist denn der Grund, was ist das Ziel Europas? 
Diese Fragen werden heute nicht mehr gestellt. Ich kann Ihnen aber sagen, warum ich Europa will: Weil ich diesen Kontinent als kulturelle Einheit betrachte, geeint durch die Ideengeschichte, ausgehend von der griechischen Republik, geeint trotz der verschiedenen Sprachen durch das, was man im Mittelalter die „République des Lettres“ genannt hat. Und insofern können wir schon sagen, was das Ziel Europas ist: Diesen Kontinent in seiner kulturellen oder auch geistigen Einheit geeint zu halten; ganz zu schweigen davon, ihn auf der internatio­nalen Bühne zu einem geeinten Akteur zu machen.

Ein Zitat von Ihnen lautet: „Mindestens seit einer Dekade kennen der europäische Kontinent und damit seine Jugend nur noch Krisen. Und die EU ist Teil des Problems.“
Die österreichische Jugend war außen vor, sie hat die Flüchtlingskrise als erste Krise wahrgenommen, aber von der Bankenkrise und ihren Folgen nichts gemerkt. Dazu ist Österreich viel zu reich. Wie überhaupt alle jenseits der Alpen nie verstanden haben, was da im Süden los war. Aber in Spanien, in Griechenland, in Süditalien, in Frankreich, da ist die Sache anders. Die Tumulte, die sich rund um die Inhaftierung des Rappers Hasél abgespielt haben, waren ja nur Ventil einer Jugend, die seit einer Dekade nur Enttäuschung erlebt hat. In Spanien gibt es eine Bewegung namens „der leere Bauch“, die sich so nennt, weil viele Frauen keine Jobs, keine eigene Wohnung, kein Geld haben, sodass sie sich gar keine Kinder mehr leisten könnten, selbst wenn sie einen Partner hätten. Das sind Menschen, die keine Sekunde Stabilität in ihrem bisherigen Leben hatten. Wie alt sind Sie?

48. Warum?
Weil das wichtig ist, wenn man mit jemandem über Europa spricht. Denn für die europäische Sozialisierung ist das Alter ganz entscheidend. In welches europäische Projekt wurden die Menschen hin­eingeboren? Ich bin Jahrgang 1964. In den 1980er-Jahren gab es Kohl, Delors, Mitterrand. Da hieß es, Deutschland und Frankreich machen jetzt Europa, so bin ich sozialisiert worden. So habe ich felsenfeste europäische Überzeugungen gewonnen. Aber wenn Sie um das Jahr 2000 geboren wurden und dann noch – beispielsweise – in Süditalien, dann ist das eine ganz andere Sozialisation. 

Weil man dann Teil einer Jugend ist, die nur Krisen kennt?
Ja. Diese Jugend hat Bankenkrise, Sparkurs, Arbeitslosigkeit und Bildungsmisere erfahren, dann die Flüchtlingskrise und die Tatsache, dass die EU Italien in seinem Elend damals alleine gelassen hat. Und jetzt erleben sie eine Pandemie und das Versagen ihres Gesundheitssystems, das zuvor kaputtgespart worden ist. Und da will man ernsthaft in Süditalien noch einen Italiener finden, der sagt, Europa ist toll? Wie wollen sie denen denn beibringen, dass Europa gut ist? Die Jugendlichen in den südlichen Ländern haben gelernt, dass sie von Europa nichts zu erwarten haben. Deswegen stellt sich ja dringend die Frage, wo das neue europäische Narrativ ist. Der Friede tut‘s nicht mehr. Den haben wir.
Sie schreiben, dass die Erinnerung an das, was wir in diesen Ausnahmemonaten gemeinsam erlebt haben, die Zukunft Europas in der nächsten Dekade bestimmen wird.
Das ist die „Theorie der Erinnerung“, die darauf beruht, dass sich der Mensch immer an Erlebtem abarbeitet. Deswegen stellt sich ja die Frage, welche Erfahrung wir jetzt in der Pandemie machen. Vor einem Jahr sind wir alle auf den Balkonen gestanden, haben gesungen und geklatscht und den Alten- und Pflegekräften applaudiert. Das macht heute keiner mehr. Heute sitzen alle nur noch zuhause, schauen Netflix und haben drei Kilogramm zugenommen. Die parlamentarische Demokratie ist weitgehend außer Kraft gesetzt, aber das interessiert fast niemanden auch nur einen feuchten Kehricht. Man hat sich an die Krise gewöhnt, wartet ab, lässt sich halt impfen, es wird schon wieder weitergehen. Wenn ich da nur irgendeinen Impetus sehen würde, dass aus dieser gemeinsamen Krisenerfahrung nach Bergamo etwas Europäisches entstanden wäre, ein großes Grundrauschen, dass jetzt ein neuer Systemwechsel, beispielsweise bei der sozialen Säule, notwendig wäre! Ich weiß nicht, ob Sie da etwas fühlen …

Nein. Die Krise hat nicht mehr Europa gebracht. Sie hat ein Mehr an Nationalstaat gebracht. 
Und ein Mehr an die Regionen. Schauen Sie nur, wie die Katalanen gewählt haben. Und Tirol ist ja auch interessant. Immer wieder Tirol, ein bisschen auf Krawall gebürstet. Aber Sie haben vollkommen recht, es geht wieder um Grenzen und um die Frage, wer drinnen und wer draußen ist. Ich könnte der Form halber ins Feld führen, dass das europäische System natürlich reagiert. Frau von der Leyen hat eine große Konferenz zur Zukunft der Union ausgerufen, es finden Bürgerdialoge statt, in den nächsten beiden Jahren sollen 300.000 europäische Bürger*innen zur Zukunft der Union befragt werden. Das kann man jetzt dahingehend deuten, dass jemand verstanden hat, dass über Europa diskutiert werden muss. Man könnte aber auch sagen, dass es nur, wie es in der Politikwissenschaft heißt, „simulative Demokratie“ ist.

Soll heißen?
Wenn die EU sich nicht bewegen will, dann gibt es halt eine Bürgerbefragung. Dann werden Berichte und Studien vorgelegt, aber es passiert ja nichts, Hauptsache, wir haben euch befragt. Ich tendiere leider manchmal zu der Annahme, dass das nur Spielereien sind. 

Sagen Sie auch deswegen, dass Europa „die Wiederentdeckung des Politischen“ braucht?
Ja, absolut! Mich sorgt, dass die einzigen, die das Politische in Europa wieder entdecken, die Populisten sind. Die haben das verstanden, im Gegensatz zur liberaldemokratischen Mitte. Denn diese Mitte begnügt sich mit diesem Bürgerpartizipations-Geplänkel, in dem es im Wesentlichen nur darum geht, wer mitdiskutieren darf, in welcher Sprache das gemacht wird und in welcher Form. Alles muss inklusiv sein und natürlich mit Gender-Sternchen versehen. Das ist zwar alles richtig und gut gemeint. Aber mich erinnert es an die Teletubbies: Es kommt mehr auf die Form an als auf Inhalte. Und damit ist es im Kern nicht politisch. Denn es kommt am Ende ja nicht unbedingt eine europäische Arbeitslosenversicherung oder irgendein Game-Change heraus. 

Und alles bleibt, wie es ist …
Es ist wirklich eines der großen Probleme, dass diejenigen, die eigentlich für Europa sind, sich oft an diesen formalen Dingen abarbeiten, während die oft geschickten Populisten genau in diese Kerbe hauen und – leider zu Recht – sagen: ‚Seht her, die EU bekommt wieder nichts hin.‘ Europa muss also das Politische wieder finden, damit es nicht von den Populisten zerfräst wird und damit diejenigen, die gefühlt für Europa sind, das Gefühl haben, gut aufgehoben zu sein. Europa muss politisch werden, weil Systeme auf Dauer nicht überleben, wenn sie sich von innen so entkernen, dass die Bürger*innen nicht mehr wissen, was das eigentlich alles soll. In der Politikwissenschaft sprechen wir da von der Input- und Output-Legitimität.

Und das bedeutet im Fall der EU?
Die Europäische Union wurde von den Bürger*innen so lange akzeptiert, wie es eine Output-Legitimität gab: Es kam der Binnenmarkt, dann ging’s dem Handel besser, es kam der Euro, dann ging’s den Banken besser, es kam Schengen, dann ging’s mit der Freizügigkeit besser. Dieser Faden ist gerissen. Und weil es um die Output-Performance – unter anderem wegen der sozialen Krise – so schlecht bestellt ist, bemüht man sich jetzt um eine Input-Legitimität, also Mitsprache. Das sind dann beispielsweise diese Bürgerbefragungen, gegen die prinzipiell nichts einzuwenden ist, die aber nicht dem Motto folgen dürfen: Wo nichts rauskommt, will ich wenigstens mitreden, die also Ergebnisse durch Partizipation substituieren. Denn man muss die Gefahr sehen: Ein System, das weder Input- noch Output-Legitimität erzielt, ist auf Dauer gefährdet. Wenn wir also die Solidarität, das Soziale, das Demokratische schlechthin in der EU nicht organisiert bekommen, aber trotzdem die Union nicht verlassen können, weil an ihr unser aller Geld hängt, dann ist das ein politisches Problem. Weil das ein System wäre, das nicht mehr überzeugt und in dem keiner vernünftige Mitsprache hat, das aber trotzdem existieren muss, weil es ‚to big to fail‘ ist. Wenn die EU meint, auf Dauer ein System sein zu können, das uns nur einen Markt und eine Währung bietet, dann wird das nicht reichen. Europa muss sozial sein. Oder es wird nicht sein. Denn das Soziale ist das Politische.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Ulrike Guérot * 1964 in Grevenbroich, ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Buchautorin. Guérot ist unter anderem Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Lab. Sie publiziert umfangreich in deutschen und europäischen Zeitschriften und Zeitungen. 2019 wurde Ulrike Guérot mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring und dem Salzburger Landespreis für Zukunfts­forschung ausgezeichnet.

Weiterlesen! Ulrike Guérot,
„Nichts wird so bleiben, wie es war?
Europa nach der Krise. Eine Zeitreise“, 2020, Molden Verlag, Wien – Graz.

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