Rudolf Bretschneider

Einmischung ins Privatleben

Oktober 2014

„Der Kunde ahnt nicht, wie oft Chemiker an ihn denken.“ (Paul Valéry)

Ein Viertel der österreichischen Bevölkerung hat den Eindruck, dass das Ausmaß der gesetzlichen Bestimmungen, die Bereiche des täglichen Lebens betreffen, eindeutig zu groß ist; weitere 46 Prozent halten die Menge derartiger Regelungen und Verordnungen für „lästig, aber auszuhalten“ (GfK 2013). Das ist vermutlich das Ergebnis der Wahrnehmung, dass ständig etwas „gesetzlich geregelt“, „verordnet“, „verboten“ oder „vorgeschrieben“ wird. Das allgemeine Phänomen der – von Jahreszeiten unabhängigen – Gesetzesproduktion erregt die Gemüter dabei weniger als der Einzelfall, den man als Eingriff ins sogenannte Privatleben empfindet (von der Glühbirnenverordnung bis zur Vorschreibung des politisch korrekten Sprachgebrauchs). Und Einmischungen ins Privatleben gelten als höchst störend. Was als privat gilt, unterliegt allerdings seit jeher einem starken Wandel – der von höchst unterschiedlichen Kräften angetrieben wird: von Sprachideologen, religiös motivierten Konsumkritikern, Klimarettern, verkappten Prohibitionisten, Gesundheitsaufklärern, Sicherheitsaposteln, Wirtschaftslobbys etc.

Viele Menschen tragen ihr Privates mehr denn je in eine große Öffentlichkeit; sie spazieren über den elektronischen Marktplatz – oft unter der imperfekten Tarnkappe der Anonymität – und wundern sich, wenn sie beobachtet und identifiziert werden.

Eine Gegenbewegung

In einer seltsamen Gegenbewegung beschäftigen sich der Staat und seine Institutionen mit den Lebensgewohnheiten der Bürger, und das nicht nur im Zusammenhang mit herkömmlichen politischen Problemfeldern wie Bildung, Steuerleistung oder Pensions­antrittsalter. Der Staat befasst sich auch mehr und mehr mit dem Konsumverhalten der Menschen. Den Konsum erleben Menschen, die in relativ wohlhabenden Gesellschaften leben, als einen Bereich, in dem man wählen kann. Man bekommt die Waren und Dienstleistungen, anders als in Planwirtschaften, nicht zugewiesen, kauft nicht dann, wenn es etwas gibt, sondern wenn man es zu brauchen glaubt. Die Auswahl ist groß und vielfältig – manchmal auch verwirrend. Die Entscheidungen, die man trifft, sind nicht immer zweckrational – oft erfolgen sie spontan, mit wenig Information, ohne Reflexion der mittel- oder langfristigen Folgen; aber man erlebt sie als „frei“ und schätzt sie deshalb auch. Mögen andere Menschen auch sagen, man handle unvernünftig, irrational, wider die eigenen „eigentlichen“ Interessen: Das ist einem in der Regel weit lieber, als in seiner Konsumwahl bevormundet zu werden.

Nun wird es immer Menschen geben, die das Verhalten „der anderen“ merkwürdig, irrational, selbstschädigend, moralisch verwerflich etc. finden. Damit findet man sich leicht ab – außer die Kritiker stehen einem nahe, man legt auf ihr Urteil aus anderen Gründen viel Wert oder man hat Angst davor, mit seinem Verhalten negativ aufzufallen und anzuecken. Sozialer Druck aus der engeren Umgebung oder von dem, was man für den „Mainstream“ der Gesellschaft hält, kann durchaus als unangenehm erlebt werden und zu widerwilliger Anpassung führen. Politisch relevant werden die Einmischungen in private Entscheidungen dann, wenn sich staatliche Institutionen damit befassen und „paternalistisch“ agieren. Der Hang und Drang, die Menschen zu ihrem Besten zu zwingen – durch Gesetze und Verordnungen –, hat eine lange Tradition. Dahinter steht der Anspruch, besser als die Menschen selbst zu wissen, was ihnen guttut. Man redet heutigentags zwar viel vom mündigen Bürger, aber oft behandelt man ihn wie ein unvernünftiges Kind. Unter Berufung auf höhere Ziele (und manchmal wohl auch mit Rücksicht auf Lobbys) versucht man, den individuellen Konsum zu lenken. Absurde Beispiele gibt es national und international genug: Ein New Yorker Bürgermeister verordnete (nicht für lange) den Verkauf kleinerer Chips-Mengen und Cola-Flaschen – im Kampf gegen die Fettleibigkeit; aus Energiespargründen wurden die alten Glühlampen aus dem Verkehr gezogen und damit ihr gewohntes Licht auch jenen genommen, die bereit waren, eine höhere Stromrechnung zu zahlen; den Zigarettenrauchern will man ihr Laster (Sünde!) durch hässliche Packungen abgewöhnen (bei umwelt­belastenden Pkw versucht Analoges allerdings niemand); Laubstaubsauger werden wegen des Feinstaubs verboten – wie groß dessen Reduktion dadurch ist, wird wohlweislich nicht verraten. Gewiss, das sind Kleinigkeiten; oft nur symbolische Aktionen, die zeigen sollen, dass die Politik gewillt ist, etwas zu tun: für die Gesundheit, für die Umwelt, das Klima, die Sicherheit usw. Manchmal scheint es so, als habe sich die Sorge um das Seelenheil, der Kampf gegen die Sünde, ein säkulares Gewand zugelegt. Der Nachweis eines geringen ökologischen Fußabdrucks ersetzt den Ablass und berechtigt zu einem guten Gewissen, das man freilich nur durch die ständige Bereitschaft zu einem schlechten Gewissen erwerben kann; man muss sich ständig beobachten, ob man sich politisch korrekt ausdrückt, einen umweltverträglichen Lebensstil pflegt, verantwortlich mit dem eigenen Körper umgeht usw.

Die Reaktionen auf eine Politik, die das Privatleben und die in ihm stattfindenden Konsumakte zu regeln versucht, sind mannigfaltig. Manche Menschen beugen sich; zunächst vielleicht widerwillig, dann – als Bekehrte – werden sie zu Eiferern für die „neue Ordnung“; sie passen ihre Meinungen den aufgezwungenen Verhaltensweisen an. Andere wollen in das Gehäuse der Hörigkeit nicht einziehen: sie reagieren mit Spott, Widerstand, Boykott und verweisen – wie ich meine, mit Recht – darauf, dass sich staatliche Institutionen sehr genau überlegen sollten, welche Probleme sie zu lösen haben und welche Mittel sie dabei einsetzen. Entmündigung per Gesetz oder Verordnung darf nicht im Interesse einer Gesellschaft liegen.

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