Matthias Heitmann

* 1971 in Frankfurt am Main, ist freier Journalist, Kommentator, Buchautor und Kabarettist. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

Entpört Euch!

September 2020

Emotionalität, Betroffenheit, Wut – dieser Dreiklang gilt als das Grundgerüst des modernen, engagierten Menschen. Doch es entstehen Misstöne: Denn Engagement, das fast nur von der Emotion lebt, ist nicht nur flüchtig,
sondern aufgrund ihrer abgrundtiefen Oberflächlichkeit auch leicht zu manipulieren.

Das Jahr 2020 ist nicht eben arm an Anlässen, die zu emotionalen Ausbrüchen einladen. Dabei sollen Gesellschaften in „Corontäne“ ja gerade nicht ausbrechen, auch nicht emotional, sondern sie sollen wohl geordnet, im Gleichschritt und mit andächtigem und bedachtem Sicherheitsabstand den Anordnungen der fürsorglichen Obrigkeiten Folge leisten. Die Welt präsentiert sich uns als fortdauerndes Geisterspiel einiger weniger mehr oder weniger geistreich Handelnder. Die traditionelle Schweigeminute, in der für einen Moment lang der Alltagslärm gemeinsamer innerer Besinnung weichen soll, hat ausgedient: 2020 ist inoffiziell zu einem Schweigejahr auserkoren worden.
Doch gerade deswegen schlagen vielerorts schäumende Gemütswellen an den Gestaden der öffentlichen Meinung hoch. Aufgrund der gesundheitspolitisch verordneten strikten Zurückhaltung in nahezu allem genügen zuweilen nur ein paar Schlagworte, Gerüchte oder zu früh durchgesickerte Zukunftspläne, um gefühlsgetriebene Mikro-Tsunamis auszulösen. Und wie in einem richtigen Strudel, so kommen auch hier dann die Wellen aus allen möglichen Richtungen. „Rechte“ unterscheiden sich von „linken“ Empörungen nur noch durch den Auslöser. Aber wer interessiert sich für den, wenn für alle lebensbremsenden Maßnahmen heute ein lapidares „wegen Corona“ ausreicht, um amtlichen Segen zu erfahren?
In Neu-Coronistan haben es sogar erprobte Empörungswellenreiter schwer, die Pole Position in Sachen Aufmerksamkeit zu halten. Viele wurden vom rasant-rasenden und zunehmend humorlos-intoleranten Mainstream geschluckt wie Ausreißergruppen beim Radrennen. So sieht zum Beispiel die nur oberflächlich betrachtet „jugendliche“ Klimabewegung „Fridays for Future“ derzeit ziemlich alt aus. Verzweifelt versucht sie, Covid-19 zu einer Folge von Kapitalismus und Klimawandel umzudeuten, um im Auge des Entrüstungssturms zu bleiben. Auch die sich ansonsten eher an Asylanten abarbeitenden Apokalypsenapostel aus dem geistigen Abendland müssen den beschwerlichen Umweg über die Virologie in Kauf nehmen, um sich Gehör zu verschaffen. Einzig die dauerempörten Anti-Trump-Drummer stehen gut im Futter und bieten sich als bequemer gemeinsamer Nenner all jenen an, die gemeinsame äußere Feinde benötigen.
Ohne Empörung läuft nichts mehr, und auch nichts mehr zusammen. Sie ist das neue Bindeglied einer Gesellschaft mit Berührungs- und Bindungsangst. Wer sich nicht empört, gilt als naiver und gefährlicher Verharmloser, egal von was. Der Druck, sich gefälligst mitzuereifern, hat inhaltlich motiviertes Engagement ersetzt. Nach langen Jahren der von oben gepredigten politischen Alternativ­losigkeit vermischt sich hier die Furcht vor einer stärkeren Polarisierung mit einer diffusen Offenheit für Veränderungen. Diese Stimmungslage pflügt die verkarstete politische Landschaft gründlich um, ohne allerdings neue Strukturen zu entwickeln, die eine politische Orientierung zuließen. 
Daher sind auch nicht die vermeintlich extremen Gegensätze zwischen den verschiedenen Totengräbern der alten politischen Ordnung interessant, sondern ihre Gemeinsamkeiten. Gemeinsam nutzen sie inhaltliche Versatzstücke einstiger Diskursthemen als Sprungbretter in die Arena der Empörungskultur, die alles ist, nur nicht politisch. Was zählt, ist die Macht des kurzfristigen Imagegewinns, der zumeist nicht länger hält als der Schaum vor den Mündern der Geifernden. Mit alter Politik hat die Empörungskultur nichts am Aluhut, vielmehr tanzt sie auf den implodierten Ruinen alter ideologischer Gedankengebäude ihren ganz eigenen Wehleidigkeits- und Opfertanz. Wer diesen Tanz verweigert, ist genauso schnell ein potenzieller Systemverbündeter, wie für Polit-Archäologen jeder, der öffentlich-rechtliche Wahrheiten infragestellt, ein Nazi ist. Und das gilt nicht Nuhr für Eckhart, sondern auch für Hinz und Kunz. 
Der aufgewühlte Tümpel namens Empörungskultur schwappt in alle Richtungen über, und er weist den Weg zurück in voraufklärerische, vordemokratische Zeiten. Diese „emotionale Demokratie“ ist keine, auch dann nicht, wenn die politische Klasse sich dem Treiben anschließt. Denn wer politischen Dissens personalisiert und emotional verunreinigt, nimmt Menschen die Möglichkeit, unterschiedlicher Meinung sein zu können, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Der Tümpel wird so lange weiter brodeln und müffeln, bis wir der Empörung überdrüssig werden und uns wieder Argumenten und Debatten zuwenden. Das mag desillusionierend klingen, ist es aber nicht: Wenn Empörung heimat- und orientierungslos ist, dann heißt das eben auch, dass die alten politischen Parameter „links“ und „rechts“ tatsächlich nur noch als mit heißer Luft gefüllte Ballons existieren, bei denen zumeist kleine Nadelstiche helfen, um ihre wahre Größe aufzuzeigen. 
Wir lernen derzeit, dass Empörung kein Ersatz für Substanz ist. Dieser Lernprozess vollzieht sich nicht über Nacht, und auch nicht automatisch. Ob er sich langfristig durchsetzt und gelingt, hängt von jedem Einzelnen ab. Mir ist es jedenfalls völlig egal, ob sich jemand links oder rechts nennt. Für mich zählt, ob jemand ruhig und rational seinen Standpunkt vertritt. Emotionalisten und Berufswütende sind Langweiler. Empörung ist öde. Wir können mehr. Entpört Euch!

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