Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Erst die Entfremdung macht den Mensch zum Menschen“

April 2022

Philosoph Alexander Grau (54) schreibt in seinem neuen Essay mit dem Titel „Entfremdet“, dass die Suche nach dem eigenen Selbst der Kult unserer Zeit geworden sei. Doch diese Suche müsse zwangsläufig scheitern, sagt Grau im Interview: „Weil man versucht, Einzigartigkeit mit Hilfe von Massengütern zu inszenieren.“ Ein Gespräch über „rundumbetreute“ erwachsene Menschen, eine infantile Gesellschaft – und die „Moral als letzte Heilsgewissheit“.

Herr Grau, Ihr aktueller Essay trägt den Titel „Entfremdet“. Ist der Mensch der Gegenwart sich selbst fremd geworden? Und wie äußert sich diese Entfremdung? 

Die Entfremdung des Menschen spätmoderner Gesellschaften zeigt sich in einer Reihe unterschiedlicher Facetten. Da ist zum einen das ganz Offensichtliche: Menschen unternehmen alles Mögliche, um sich endlich selbst zu finden, wahlweise auch sich selbst zu suchen. Sie meditieren, treiben Extremsport, suchen sich ein ausgefallenes Hobby. Schon solche Indikatoren zeigen, dass es in unserer Gesellschaft ein enormes Empfinden dafür gibt, ein falsches Leben zu leben. Nicht bei sich zu sein. Ein weiteres Indiz ist das gigantische Angebot an Produkten, die Authentizität versprechen: Vom Landliebe-Magazin, über Manufactum-Produkte, bis zur Hildegard-von-Bingen-Seife aus dem Kloster. Selbst die Alltagsmode der Hipster: Bart, Tattoos und Workerwear sind Ausdruck der Suche nach Authentizität. Und gleichzeitig gibt es eine große Künstlichkeit, ein sich Entfernen vom Natürlichen: Denken Sie nur an die Debatte um Geschlechtsidentitäten.
 
Sie schreiben, die Suche nach dem eigenen Selbst sei der Kult unserer Zeit geworden …

Ja. Wahrscheinlich gab es noch keine Epoche und keine Kultur, in der sich die einzelnen Individuen so verbissen mit der Suche nach dem eigenen Selbst befasst haben. Es muss eine starke Sinn- und Orientierungskrise geben, die das Gefühl auslöst, irgendwie nicht bei sich selbst zu sein, also in einem falschen Leben zu leben und sich daher selbst suchen zu müssen. Der Abgesang des Christentums als Sinnressource hat eine Leerstelle hinterlassen. Die Ersatzreligionen der Vergangenheit – vor allem politische Ideologien – sind diskreditiert. Soziale Beziehungen sind fragil und austauschbar geworden. Zudem lösen sich traditionelle Rollenbilder auf oder werden aufgelöst. In einer solchen Situation wird das eigene Selbst als defizitär, fragil und unauthentisch empfunden.

Es heißt in Ihrem Essay: Der Mensch suche sich. Und finde sich nicht. 

Die Suche nach dem authentischen Selbstsein scheitert zwangsläufig. Das hat zwei Gründe: Zunächst und vor allem ist der Mensch das entfremdete Wesen an sich. Seine intellektuellen Möglichkeiten setzen ihn in Distanz zur Welt. Er kann nun die Welt gleichsam von außen betrachten, sie zu verstehen suchen. Damit steht der Mensch außerhalb jener Welt, zu der er zugleich gehört. Zum Menschsein gehört das Gefühl der Fremdheit gegenüber der Welt daher im existentiellen Sinne dazu. Erst die Entfremdung macht den Mensch zum Menschen. Sensiblere Gemüter haben sich daher immer gefragt, was wahres, wirkliches Menschsein ausmacht. Hinzu kommen – zweitens – die Selbstfindungsstrategien moderner Konsumgesellschaften. Sie sind aus naheliegenden Gründen zum Scheitern verurteilt. 

Warum?

Weil all die Extremsportarten, Meditationskurse oder Kreativworkshops letztlich Produkte jenes Systems sind, das die Entfremdungserfahrung erst erzeugt. Die Konsumlogik unserer Massenkonsumgesellschaft ist nicht in der Lage, die Wunden zu heilen, die sie geschlagen hat. Denn das Problem dieser Selbstfindungsstrategien ist, dass sie etwas versprechen, was sie nicht halten können: Selbstfindung durch Konsum von Massenwaren. Gemäß der Logik von Moden gefällt dem Menschen das, was Millionen anderen Menschen auch gefällt. Man versucht also Einzigartigkeit mit Hilfe von Massengütern zu inszenieren. Das muss scheitern und treibt die Menschen in eine permanente Erneuerungsspirale. In der Wirtschaft würde man von Innovationsdruck sprechen. Dem setzt sich aber nur aus, wer über keine stabile Selbstidentität verfügt. Mit Mode kann nur derjenige seine Persönlichkeit ausdrücken, der keine hat. 

Endet die Sehnsucht nach Autonomie also in Unfreiheit, wie sie schreiben? 

Zwangsläufig. Wir versuchen unsere Autonomie, unsere Authentizität mit Mitteln zu inszenieren, die uns immer weiter in die Abhängigkeit treiben: von der Industrie, von der Gesellschaft, von dem Zwang, ein hohes Einkommen zu erzielen, um uns all das leisten zu können. Wir werden Gefangene unseres Strebens nach Autonomie. 

Die Spuren dieser Selbstfindungsbestrebungen führen in die Vergangenheit …

In der Tat. Grundzüge moderner Selbstfindungsstrategien finden sich schon in der Antike – bei den damaligen städtischen Eliten. In den Metropolen der Antike entsteht eine Avantgarde der ewigen Moderne, auf der Dauersuche nach sich selbst. Interessanterweise unterlagen also auch schon diese wohlhabenden städtischen Eliten denselben psychosozialen Dynamiken wie moderne Menschen. Bei uns in der Moderne wird das lediglich zum Massenphänomen.

Sie sagen, uns sei die Fähigkeit zur Melancholie verloren gegangen. Eine interessante Feststellung. 

Das Gut-drauf-Sein gehört zu den zentralen Pflichten der Dauerkonsumgesellschaft. So versichern wir uns des scheinbaren Erfolgs unserer Selbstfindung qua Konsum. Egal wohin man schaut, überall herrscht eine synthetische Dauergutgelauntheit, vom morgendlichen Dudelfunk bis zum Power-Pilates-Kurs am Abend. Eine ganze Gesellschaft berauscht sich an ihrer Lockerheit. Für Melancholie ist kein Platz. Allenfalls für Depressionen. Schwermut oder Trübsinn angesichts der Verfasstheit der Welt ist der modernen Spaßgesellschaft fremd.

Wer kritisch fragt, signalisiert mangelnde Zustimmung. Allein das ist ein Vergehen.

Was scheidet denn die Depression vom Schwermut, die Depression vom Trübsinn?

Depressionen sind zunächst ein psychiatrisches Krankheitsbild. Der Patient fühlt sich antriebslos, schafft es kaum aufzustehen, seine Gedanken blockieren ihn, kreisen permanent um sich selbst. Melancholie ist etwas ganz anderes. Melancholie ist eine Traurigkeit über die Welt. Über ihre Verfasstheit. Über ihre Sinnlosigkeit. Der Melancholiker ist im besten Fall ein distanzierter Beobachter, Skeptiker und Kritiker, der sich nicht vereinnahmen lässt und immer auch die Schattenseiten sieht, das Vergebliche und Großspurige menschlichen Tuns.

An einer Stelle in Ihrem Essay heißt es, viele Menschen seien gar „nicht mehr fähig, ihr Leben ohne Gebrauchsanweisung zu leben“ …

Noch nie wurden erwachsene Menschen so sehr rundumbetreut. Der Staat sorgt für Kitaplätze, für die Weiterbildung, für die richtige Ernährung, dafür, dass man nicht raucht. Und privat rennen die Leute zu Therapeuten, Coaches und Psychologen, zu Ernährungs-, Sex- und Partnerberatern. Wir haben es mit einer durch und durch infantilen Gesellschaft zu tun: unfähig, Probleme selbstständig zu lösen, dafür im dauernden Partymodus.

Hat der Mensch vergessen, was das Leben ist? 

Zumindest, dass das Leben Konflikt und Widerstand bedeutet. Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart geworden. Alles hat einfach und reibungslos zu sein. Das beginnt bei den polierten Flächen der Touchscreens, geht über vollepilierten Körper und reicht bis zu glatt lackierten Lebensläufen. Nichts erscheint mehr wirklich, nichts greifbar. Die Welt kommt abhanden. Alles ist verhandelbar oder konstruiert. 

Die Welt kommt abhanden, auch die Geschichte? Ihnen zufolge drohe das 21. Jahrhundert zu einer „Epoche der Enthistorisierung“ zu werden, wie ist das gemeint?

Die historischen Großevents und Gedenkrituale verdecken, dass das historische Bewusstsein weitgehend abhanden kommt, das Gefühl für vergangene Epochen, dafür, dass Menschen anders gedacht haben, andere Ideale hatten. Die Vergangenheit erscheint heute vielen als ein rätselhafter Zeitraum, beherrscht von Rassisten, Sexisten und Militaristen. Entsprechend hat in den historischen Diskursen der westlichen Welt inzwischen die moralische Bewertung den Blick für historische Zusammenhänge vollständig ersetzt. Doch wer Denkmäler schleift, walzt Geschichte im Namen aktueller Moralvorstellungen nieder und vergisst dabei, dass Moral selbst ein historisches Phänomen ist.

Ein Zitat von Ihnen lautet: „Unsere Gesellschaft ist nicht nur ebenso gläubig und dogmatisch wie die mittelalterliche, sondern auch genauso engstirnig.“ Tatsächlich?

Unsere Gesellschaft wird beherrscht von einem ganzen Tableau gefühlter Gewissheiten, von intellektuellen Tabus und Überzeugungen, die man zu haben hat, möchte man nicht die soziale Ächtung riskieren. Dies betrifft insbesondere Themen wie Klimaschutz, Migration, Gender oder Minderheiten. Es hat sich so etwas wie eine säkulare Glaubenslehre herausbildet. Wer sie kritisiert oder anzweifelt, gilt als Häretiker und muss entsprechend bestraft werden – nur, dass der Scheiterhaufen heutzutage eben ein medialer ist.

Wer Denkmäler schleift, walzt Geschichte im Namen aktueller Moral­vorstellungen nieder.

Der mediale Scheiterhaufen?

Das Zusammenspiel sozialer und traditioneller Medien eröffnet infame Möglichkeiten, Menschen sozial zu desavouieren. Das ist die moderne Form der Inquisition. Wer in diese Mühle gerät, hat seinen Anspruch auf Gnade verloren.

Es wird ja bereits derjenige geächtet, der es nur wagt, Fragen zu stellen ...

Wer kritisch fragt, signalisiert mangelnde Zustimmung. Allein das ist ein Vergehen. Der moderne Exorzist ist übrigens der Experte. Seine Aufgabe: ketzerische Lehren und ihre Anhänger dem Fegefeuer der öffentlichen Meinung anheimzugeben. Zu diesem Zweck vermischt er empirische Erkenntnis mit normativen Aussagen. Die Grenze zwischen Fakten und Moral löst sich auf. Schließlich wird aus jeder Messreihe ein Vorwurf, aus jeder Beobachtung eine Anklage, aus jeder Studie eine Mahnung. Und die gläubige Gesellschaft lauscht ergriffen und reproduziert die medial verbreiteten Standardsätze des offiziell richtigen Meinens.

Sagen Sie auch deshalb, dass Moral zur letzten Religion wird?

Moral ist die letzte Heilsgewissheit all jener, die an nichts mehr glauben, aber den dringenden Wunsch haben, sich an irgendetwas festzuhalten. Zudem verspricht die richtige moralische Haltung eine Menge sozialer Reputation. Wenn Sie sich zur Nachhaltigkeit bekennen, zu Toleranz und Diversität, steigt ihr soziales Kapital. Wie jede Religion gibt auch dieser moderne Hypermoralismus persönliche Orientierung und soziale Geborgenheit.

Im Versuch, sich ein Reich der Freiheit und der Selbstbestimmung zu schaffen, habe sich der Mensch ein Gefängnis konstruiert, auch das ist ein Zitat von Ihnen. Ist das zugleich das Fazit unseres Gesprächs?

Ich hoffe nicht. Denn es sollte darauf ankommen, aus diesem Gefängnis ausbrechen. Das aber kann nur jeder Einzelne für sich allein erreichen. Und Basis dafür ist, dass wir uns wieder eine gewisse Einsamkeitsfähigkeit aneignen. Denn Einsamkeitsfähigkeit ist die Grundvoraussetzung für Autonomie.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person

Alexander Grau * 1968 in Bonn, lebt und arbeitet in München. Der Philosoph und Publizist arbeitet als freier Journalist unter anderem auch für die „Neue Züricher Zeitung“ und schreibt seit Juni 2013 wöchentlich Kolumnen für „Cicero online“. Von Grau ebenfalls erschienen: Hypermoral. Die Lust an der Empörung (2017), Kulturpessimismus. Ein Plädoyer (2018) und Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität (2019).

 

Lesetipp! 

Alexander Grau „Entfremdet. Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle“ zu Klampen Verlag, 2022

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