Elisabeth Heidinger

Die 38-jährige Kulturwissenschaftlerin leitet seit 2019 als Geschäftsführerin das Carl Lampert Forum.

Grenzen überschreiten

November 2020

Man stelle sich eine Diktatur vor. Sie kennzeichnet sich durch starre Grenzen nach außen und niedergerissene Schranken im Privaten mit einhergehenden strikten Einengungen hinsichtlich Freiheit. Die Trennung der Sphären von Individuum und Gesellschaft wird aufgehoben durch ein funktionierendes Bespitzelungswesen, welches den unbegrenzten Herrschaftsanspruch verteidigt. Kritikern bleibt die Kapitulation ins eigene Schicksal, Widerstand oder Flucht über Grenzen.
Walter Schmolly, Caritasdirektor: Flucht­geschichten damals beginnen so wie heute immer wieder Flucht beginnt. Grenzen der Gerechtigkeit werden überschritten, Menschenrechte außer Kraft gesetzt. Getrieben von politischen und religiösen Ideologien, die blind machen, von Wirtschafts- und Machtinteressen, die entarten oder von Gedankenlosigkeit in unserem Lebensstil, die zur Gleichgültigkeit verkommt, wird einem anderen Menschen sein Lebensort genommen. Er wird vertrieben. Solche Grenzübertretungen sind in Vorarlberg nicht unbekannt. 
Christof Thöny, Historiker: Die Entwicklung Vorarlbergs war vom Thema der „Grenzen“ geprägt, vor allem für die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Damals existierte hierzulande eine der wenigen neutralen Grenzen des Dritten Reiches in das Ausland – die Schweiz. Deshalb spielten sich an dieser Grenze viele Fluchtgeschichten von Menschen ab, die der Verfolgung zu entkommen versuchten. Auch berühmte Biographien wie jene von Jura Soyfer nahmen entlang dieser Grenze eine tragische Wendung.
In Vorarlberg werden dank der akribischen Forschungsarbeit immer mehr Geschichten über Fluchthilfe und ihre Helden bekannt. Thöny: Dies gilt etwa für jene von Julius Iger, der ein Geschäft in Bludenz betrieb. Seine Familie zählte nach dem „Anschluss“ Österreichs zu den wenigen noch in Vorarlberg wohnhaften jüdischen Familien. Als begeistertem Alpinisten war ihm die Gebirgsregion des Rätikons wohlbekannt. Dadurch konnte er zahlreiche jüdische Flüchtlinge in die rettende Schweiz führen. Als sein Geschäft „arisiert“ wurde, setzte er sich selbst in die rettende Schweiz ab.
Die Bilder von damals ähneln in erschütternder Weise der Fluchtbewegung von heute, nur erfahren wir diese aus einer anderen Perspektive. Statt über und aus Vorarlberg zu flüchten, flüchten Menschen nach Europa. Angesichts jüngster Ereignisse wird sich die Situation eher verschlimmern. Schmolly: Die Corona-Pandemie verschärft die Lebenssituation von Menschen, denen wenig zur Verfügung steht, ganz besonders in den Ländern des Südens, und wird so zu einem weiteren Treiber von Flucht.
Grenzlinien sind nur eine Art der Barriere. Auch den gesetzlich verankerten Rechten sind Grenzen gesetzt. Politische Institutionen regulieren in einer Demokratie Bedürfnisse des Menschen. Zäsuren wie – wenn man es so bezeichnen kann – Covid-19 verschieben Grenzen zwischen Freiheit und Sicherheit, was sogar zu Brüchen in der Gesellschaft führt. 
Wolfgang Weber, Politischer Bildner: Mit dem Covid-19-Maßnahmengesetz und dessen fehlender zeitlicher Einschränkung befürchteten die wenigen Kritiker einen Eingriff in die Grundrechte. Verstöße wurden individuell zum Beispiel durch Verwaltungsstrafen sanktioniert – so wie sie individuell von eifrigen Bürgern angezeigt und dienstbeflissenen Polizeibediensteten unter anderem unter Anwendung ihrer Dienstwaffe ausgeführt wurden. Dieses Beispiel illustriert, wie schnell eine scheinbar unantastbare Grenze erreicht wird. Ändern sich Grundregeln, läuft der „anständige“ Mensch Gefahr, die Grenzen des Anstandes zu überschreiten. Es reicht aus, aus vermeintlicher Angst um Sicherheit zu stigmatisieren und denunzieren. Aber es gibt auch jene Menschen, die in Grenzsituationen über das Menschliche hinauswachsen.
Bischof Benno Elbs: Menschen wie der selige Carl Lampert haben die Grenzen der Freiheit, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erweitert und sind dabei mit politischen Systemen in Konflikt geraten. Carl Lampert hat seinen Glauben mit einer bestimmten Praxis verbunden, die sogar die Vergebungsbitte für die Täter miteingeschlossen hat. Im Angesicht seines Todes hat er nicht einmal sie ausgegrenzt.
Grenzen überwinden funktioniert im gemeinsamen, transparenten Agieren, ansonsten erleidet eine Partei unüberbrückbare Verluste. Weber: Wer konsequent in seinen Aussagen und Handlungen die Grenzen jenes Rechtsstaates überschreitet, der in Österreich als gemeinsames Projekt der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung 1945 etabliert wurde, der überschreitet Grenzen, die als Schutzwall für diesen Erfolg errichtet wurden.
Tut er das in einem offenen und transparenten sowie partizipativen Prozess ist das der Lauf der Dinge. So werden Grenzen nachvollziehbar geändert. Tut er das nicht, ist das bedenklich. Denn er überschreitet Grenzen ohne Rücksicht auf die Gründe, warum sie errichtet wurden.
Überschreitet man Grenzen, hängt die positive Resonanz also davon ab, aus welchem Motiv und mit welchem Zweck diese errichtet wurden. Übertritte sind nicht per se schlecht. An der Grenze berühren sich Dinge und an ihnen unterscheiden sie sich. Von Bedeutung ist, dass die Grenzen im partizipativen durchlässig sind, das Verbindende sichtbar wird.
Elbs: Den Gedanken der einen Menschheitsfamilie hat Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika Fratelli tutti auf unumstößliche Weise stark gemacht. Die Grenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“, von Innen und Außen werden hier radikal durchgestrichen. Vielmehr sind alle Menschen unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder religiösem Bekenntnis miteinander verbunden und tragen gemeinsam Verantwortung für die Welt.

Der 2011 seliggesprochene Märtyrer Carl Lampert wurde nach mehrmaliger Gestapo-Haft und Konzentrationslager am 13. November 1944 in Halle (Saale) enthauptet. Das Carl Lampert Forum hält die Erinnerung an Carl Lampert und Märtyrer der NS-Zeit wach.
Dieses Jahr thematisiert die Carl Lampert Woche Flucht (heute und während der NS-Zeit), stellt mutige Menschen im Widerstand in den Fokus und präsentiert die Ergebnisse des anlässlich der Auswirkungen von Covid19 vom Forum initiierten Nachdenkwettbewerbs „VerANTWORTE“, das Veranstaltungsprogramm finden Sie unter www.carl-lampert.at

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