Elisabeth Heidinger

Die 38-jährige Kulturwissenschaftlerin leitet seit 2019 als Geschäftsführerin das Carl Lampert Forum.

Corona, die Gesellschaft und die Angst – Blick auf den Ausnahmezustand

Februar 2021

Das Carl Lampert-Forum hatte mit dem Nachdenkwettbewerb „VerAntworte“ Jugendliche dazu aufgerufen, einen kritischen Blick auf sich und die Gesellschaft zu werfen und Kategorien wie Freiheit, Werte, Solidarität, Sicherheit und Fake-News neu zu beurteilen. Eine beachtliche Anzahl von Einsendungen hat sich mit dieser Fragestellung mittels kreativer Methodik auseinandergesetzt. Die Ergebnisse werden in einer Ausstellung im Mai 2021 präsentiert.
„Um mich kümmert sich sowieso niemand mehr.“ Diese aufrüttelnden Worte fielen von der Protagonistin in einem prämierten Video einer Schulklasse aus Bludenz. Der Clip skizziert ein schon vielfach erörtertes Problemfeld mit dessen unterschiedlichsten Facetten, nämlich, dass die Pandemie als Katalysator bei familiären Übergriffen, Aggressionsbereitschaft, Depression oder Suchtentwicklung wirkt. Warnungen vor diesen Folgeerscheinungen durch Experten gab es viele, mittlerweile sind sie durch zahlreiche Studien untermauert.

Wer ist stark genug für die eigene Familie?

Zurück zum prämierten Video: Das Mädchen freute sich anfänglich, mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Allerdings schlug diese Vorfreude bald in existenzielle Angst um, da der Vater seine Arbeit verlor. „Nun fragte sich die ganze Familie, wie wir die hohe Miete für unsere Wohnung noch bezahlen sollen“, schilderte die Erzählerin. Sie gerieten öfters in Streit, der Vater griff zum Alkohol. Das Mädchen kapselte sich immer mehr ein, blieb in ihrem Zimmer, entwickelte eine Essstörung, gekoppelt mit einer Sportsucht als Ventil für die unterdrückten Probleme. Den Eltern und der Schwester fiel die selbstgewählte Isolation nicht auf. Die Aggression innerhalb der Familie verschärfte sich zusehends. WhatsApp-Protokolle, die ins Video eingebunden wurden, belegen Hilfesuche an die Freundin. Sie artikulierte sich zuerst zögerlich, dann immer deutlicher, scheute sich aber professionelle Unterstützung zu holen, bis der Chat letztlich unbeantwortet abbrach. Hier erfolgt ein Sprung, und die Klasse definiert Gründe für zunehmende häusliche Gewalt. 

Der Alltag bricht weg – Ängste entstehen

Die Jugendlichen haben sich in diesem rund 15-minütigen Video auf mehrerlei Arten den sozialen Problemfeldern der Corona-Pandemie angenähert und treffsicher veranschaulicht: Wut ist eine der potenziellen Antworten auf reale oder antizipierte Ängste. Die Unsicherheiten, die der Angst zugrunde liegen, beziehen sich nicht nur auf die epidemischen Gefahren, sondern sind genauso durch existenziellen Druck bedingt. Verstärkung erfahren sie durch mangelnde, als Reset-Mechanismus dienende Aggressionsventile wie Sport, Frustrationsverstärker wie Isolation sowie Reaktanz durch Freiheitseinschränkung, bis sie sich in zunehmenden aggressiven Akten manifestieren.
Durch die Ausnahmesituation sind und waren nun auch Eltern für Aggressionsausbrüche anfällig, die sich bisher nicht aggressiv gesehen haben. Einerseits hängt es mit dem neu entstandenen Druck zusammen, anderseits ist der Familienverband ohne Ablenkung intensiv mit sich selbst beschäftigt. 
Die Krise macht(e) sichtbar, was das vorhandene Krisenfeld ist: Arbeits-, Einkommens- und Bildungsverteilungsproblematik werden von Mechanismen, die Ungleichheiten verstärken, verschärft. Familiärer Zusammenhalt ist ohne Zerstreuung fragiler als vermutet. Bestehende Spaltungen der Gesellschaft, bedingt durch Krisen der Vergangenheit werden neu verlegt und ausgedehnt durch Dichotomien von Coronagläubigen und -verweigerern, von Jung und Alt, von angstvollen Betroffenen zu ostentativ sorglosen Nichtbetroffenen.
Unsicherheiten hinsichtlich der Zukunft machten sich breit. Zukunftsängste beeinflussen unsere Psyche unmittelbar. Angst ist der schlechteste Ratgeber in allen Entscheidungen und trägt zu einem massiven Druck bei, welcher weitergegeben wird. Vulnerable Schichten brauchen mehr an Energie, um den Arbeitsalltag zu bewältigen, auch ohne diese außerordentliche Belastung, von der wir nicht wissen, wie lange sie dauert. Und Ängste – wir haben es von der Schülerklasse aus Bludenz aufgezeigt bekommen – sind mit ein Grund, weswegen es zu einem Anstieg von psychischen Problemen und mitunter zu Gewalt kommt.

Wir auf dem Prüfstand

Die Gesellschaft ist jetzt selbst auf dem Prüfstand, sie hat durch die corona-bedingte Entschleunigung Distanz zu sich und die Möglichkeit, über Dinge nachzudenken, für die ansonsten die Zeit oder die Energie fehlen. Deswegen wird vielerorts eine Chance durch die Krise erhofft. Es stimmt, wir lernen aus Problemen, aber es gibt leider keinen Umkehrschluss, dass aus Zwangslagen stets gesellschaftsrelevante Schlüsse gefunden werden. 
Die Schulklasse aus Bludenz hat – wie andere Beiträge ebenfalls – im Nachdenkwettbewerb Schlüsse gezogen, Kontingenzen aufgezeigt und Ursachen thematisiert. Die wahre Herausforderung wird aber sein, welche Antwort beziehungsweise VerANTWORTung die Gesellschaft auf diese Problemfelder geben wird, welche für die Zukunft bedeutsamen Möglichkeitsräume sich dadurch offenbaren, und ob es gelingt, genügend gemeinsame Solidarisierung aufzubauen, um eine Spaltung der Gesellschaft auszuschließen. 
Die Jugendlichen haben uns vor Augen geführt, dass wir in sozialen Verhältnissen leben, dass Einsamkeitspotenziale nicht nur durch Corona existieren und Konsum und Leistung den Menschen in Krisenzeiten nicht resilienter machen, sondern er einen anderen Anker, ein Fundament, benötigt.

Das Carl Lampert-Forum erinnert in seiner Arbeit an den im nationalsozialistischen Regime hingerichteten Märtyrer Carl Lampert. Dieser Einsatz ist ein bleibender Auftrag, den Stachel der Erinnerung immer spürbar zu erhalten, um eine mahnende Stimme zu sein. Ein Projekt ist der initiierte Nachdenkwettbewerb „VerAntworte, dessen Ergebnisse im Mai 2021 in einer Aus­stellung präsentiert werden: www.carl-lampert.at

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