Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Jeder kennt diese Versuchung“

Mai 2021

Der Schweizer Benediktiner Martin Werlen (59) ist seit August 2020 Propst der Propstei St. Gerold.
Der Philosoph, Theologe, Psychologe und Buchautor, Alt-Abt des Klosters Einsiedeln, geht in mancher Hinsicht unübliche Wege: Er reist des Öfteren per Autostopp, nutzt seit langem Twitter – und sagt im Interview, dass die Kirche heute „Gott sei Dank“ nicht mehr jene Macht hat, die sie über Jahrhunderte hatte. Der Pater im Interview über abgeschottete Verantwortungsträger, Menschen, die nicht hören wollen – und allzu einfache Argumente.

Pater Martin, es kommen die unterschiedlichsten Menschen nach St. Gerold, auch viele hohe Manager. Und denen, die Gefahr laufen, abzuheben, raten Sie: Nehmt öfter mal den Zug!
Jeder Mensch – besonders aber, wenn er Verantwortung trägt –, ist der Gefahr ausgesetzt, sich nur noch in seinen eigenen Kreisen zu bewegen und dort eingeschlossen zu bleiben. Man verliert den Kontakt zu konkreten Menschen, man nimmt die Not der vielen Menschen gar nicht mehr wahr. Wer immer in seinen eigenen vier Wänden bleibt, lebt vielleicht sein ganzes Leben in dieser Blase und merkt das nicht einmal. Ich kann nicht Auto fahren. Ich habe nicht einmal einen Führerschein. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Dankbar?
Ja. Denn das hat eben dazu geführt, dass ich stets mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder per Autostopp gereist bin. Das hat mich geprägt, in meiner Arbeit in Verantwortung als Abt oder in der Bischofskonferenz. Es hat mich Menschen begegnen lassen, denen ich sonst nie begegnet wäre. Es hat mich Gespräche führen lassen, die ich sonst nie geführt hätte. Auch hier in Vorarlberg. Ich habe einmal auf Twitter geschrieben: „Wer im Auto unterwegs ist, bleibt in seinen eigenen vier Wänden. Wer mit dem Zug fährt, begegnet der ganzen Welt.“

Wenn man abgeschottet ist, fehlt das Korrektiv. Ist es das, was Sie damit meinen?
Ja. Großes entsteht nicht in einem einzelnen Kopf, es entsteht in der Begegnung. Natürlich kann der einzelne Mensch seine eigenen Erfahrungen einbringen, seine eigenen Einsichten. Aber das ist nie alles. Erst im Austausch mit anderen entsteht Neues. Es ist dieses Miteinander, das gerade in der benediktinischen Spiritualität ganz wichtig ist. Benedikt sagt, der Abt solle mehr vorsehen als vorstehen. Und vorsehen kann nur, wer Augen und Ohren offenhält, um zu bemerken, was sich entwickelt.

Apropos. Das Haupthaus der Propstei wird ab Juli saniert …
Wir weben weiter an der langen Geschichte dieses Ortes. Das ganze Haupthaus wird saniert, das ist eine große Herausforderung. Es ist vielen nicht bewusst, aber ein Teil der Propstei stammt aus dem elften und zwölften Jahrhundert und zählt damit zur ältesten Bausubstanz in Vorarlberg überhaupt. In den vergangenen sechs Jahrzehnten wurde vieles wiederaufgebaut, man hat die Räume nach Bedarf erschlossen, aber das hat dazu geführt, dass im wertvollsten, im ältesten Teil heute beispielsweise die Wäscherei untergebracht ist. Das wollen wir nun ändern, wir wollen mit der Sanierung des Haupthauses das Ursprüngliche wieder zum Leuchten bringen. In diesen Räumen sollen keine Maschinen mehr sein, es sollen sich Menschen dort aufhalten können. Und ich denke, wir haben Grund genug, um Unterstützung für die Sanierung des Haupthauses zu bitten. Denn die Sanierungsmaßnahmen sollen sich an dem orientieren, was St. Gerold zutiefst ist.

Und was ist die Propstei?
Die Propstei St. Gerold ist ein Ort zum Aufatmen. Das war sie von Anfang an. Der Überlieferung zufolge war der heilige Gerold, ein Herzog aus Sachsen, im zehnten Jahrhundert hierhergekommen. Er war in großen Schwierigkeiten und hatte einen Ort gesucht, an den er sich zurückziehen und an dem er wieder aufatmen konnte. Und über all die Jahrhunderte hinweg kamen Menschen, aus allen Gesellschaftsschichten, um hier aufatmen zu können, um hier sein zu können. Es ist diese herrliche Gegend, die zum Aufatmen einlädt, bei kulturellen Anlässen, bei der Therapie mit Pferden, in den Seminaren, im Miteinander des Verschiedenen. Es kommen Gesunde und Kranke, Reiche und Arme, Leute aus der Umgebung und aus fernen Ländern, es kommen Menschen, denen es im Leben nicht so gut geht. Und gerade wenn man diesen Menschen begegnet, dann realisiert man etwas vom Geheimnis des Menschen. Man realisiert, dass ein Mensch nicht weniger wert ist, wenn es ihm schlecht geht. Es ist der gleiche wertvolle Mensch. Darf ich etwas vorlesen, was mir ein Mann geschrieben hat, den wir hierher eingeladen hatten?

Bitte!
Er hat geschrieben: „Es war meine erste Urlaubsauszeit in meinem Leben. Zitternd, ängstlich, zerbrochen und müde von dem täglichen Druck bin ich angekommen bei euch und konnte es die ersten Tage nicht glauben, so freundlich und liebevoll waren alle. Ich kannte dies leider nicht mehr, wusste gar nicht mehr, wie damit umzugehen. Kein Druck, Freundlichkeit, Respekt, Liebe und Ruhe. Alles auf einmal, es war eine andere Welt. Ich bin unendlich dankbar, es war jeder Tag ein Geschenk, das ich nie mehr vergessen werde.“ (Pater Martin macht eine längere Pause, Anm.) Dieser Mann ist sein Leben lang unter die Räder gekommen. In St. Gerold konnte er aufatmen. In St. Gerold konnte er bei sich sein, erstmals in seinem Leben. (erneut Pause, Anm.) Ich verbinde die Seminare, die bei uns stattfinden und die künftig viel mehr mit dem Geheimnis von St. Gerold in Beziehung gebracht werden sollen, immer mit einem Besuch des Weinkellers. Wir hören dabei, was der heilige Benedikt zum Maß des Getränks sagt. Er geht diese Frage an mit größtem Respekt vor jedem Menschen und nimmt das Maß am Schwächsten.

Würden Sie denn sagen, dass die Eliten der Gesellschaft prinzipiell zu abgeschottet sind?
Die Gefahr und die Versuchung sind groß, abgeschottet zu bleiben. Wer nicht aktiv eine andere Haltung einnimmt und versucht, ganz bewusst anderen Menschen zu begegnen, bleibt in dieser Abschottung gefangen. Wobei es nicht die Begegnung mit denen braucht, die einem auf die Schulter klopfen. Es braucht die Begegnung mit Menschen, die kritisch sind, die hinterfragen, die einen herausfordern, weiterzudenken und weiterzugehen.

Sagen Sie deswegen, man könne von Menschen, die aus der Kirche austreten, viel lernen?
Natürlich. Wir haben uns doch die Frage zu stellen, warum wir diesen Menschen nichts mehr bedeuten. Und lernen können wir nur, indem wir zuhören.

Ein Zitat von Ihnen lautet ja: „Jeder soll die Demut haben, dem anderen zuzuhören, auch wenn er anderer Meinung ist.“
Da zitiere ich Papst Franziskus. Die Gefahr ist: Man gibt sich nur noch mit denjenigen ab, denen man selbst etwas zu sagen hat. Man wird steril, man genügt sich selbst, man empfängt nichts mehr und erlahmt dabei. Zuhören ist Demut. Das erste Wort in der Benediktsregel, in diesem 1500 Jahre alten Buch, heißt: Höre! Und das letzte Wort lautet: Du wirst ankommen! (In lateinischer Sprache: pervenies.) Darin liegt die ganze Weisheit des Lebens: Höre und du wirst ankommen! Und doch sind so viele nur daran interessiert, den anderen zum Schweigen zu bringen. Ich schaue jeden Abend die „Zeit im Bild“ an …

Ja?
Ja. Und jedes Mal, wenn aus Parlamentssitzungen berichtet wird, denke ich mir: Es ist das größte Problem, auch in der Politik, dass der eine Mensch dem anderen nicht mehr zuhören kann. Das ist ein Armutszeugnis der Politikerinnen und Politiker und des gesamten Systems. Über den heiligen Antonius schreibt Athanasius: „Er ging zu allen, um von ihnen zu lernen.“ Was wäre alles möglich, wenn es im Parlament eine solche Haltung gäbe! Aber solange die Parteien einander als etwas Konkurrierendes und nicht als etwas Komplementäres auffassen, wird sich daran nichts ändern. Ich hatte in der Schweiz oft die Möglichkeit, in politischen Kreisen aufzutreten und habe stets darauf hingewiesen: Euch fehlt das Hören!

Sie haben auch einmal getweetet: „Nicht selten hat nichts Substanzielles zu sagen, wer spricht und spricht und spricht.“
Das war nach einer Medienkonferenz des Vorstandes einer politischen Partei in Österreich …

Ist es denn ein Zeichen der Zeit, dass zu viele reden und zu wenige hören?
Das war durch alle Jahrhunderte ein Zeichen der Zeit. Benedikt hätte seine Regel ja nicht mit dem Wort „Höre“ beginnen müssen, wenn das jemals selbstverständlich gewesen wäre.

Die „Zeit“ hat Sie einmal als den „digitalen Abt“ beschrieben, weil Sie den Kurznachrichtendienst „Twitter“ täglich nutzen. Und das seit 2009! Was ist Twitter für Sie?
So wichtig wie das Bahnfahren. Ich treffe auf Twitter Menschen, die ich sonst nicht treffen würde. Ich lerne dort sehr viel Neues, kann andererseits aber auch Impulse geben, in Kreise, in die ich sonst nie käme. Ich sende jeden Tag einen Tweet von St. Gerold aus, immer ein Bild und ein paar Worte dazu und kann damit sehr vielen Menschen einen Eindruck von der Propstei vermitteln, die ich ansonsten nie erreichen würde. Social Media zu nutzen, heißt in Kontakt-Sein, sich herausfordern lassen. Doch dazu braucht es Leute, die bereit sind, sich hinterfragen zu lassen.

Sich hinterfragen lassen? Sie wenden sich energisch gegen eine abgeschottete Kirche.
Ja, weil das ihrem Wesen zutiefst widerspricht. Jesus ging nicht nur zu den Besseren, er ging zu den einfachsten Leuten. Jesus hatte keine Mühe mit den Schwierigen und den Verachteten, er hatte vor allem Mühe mit denen, die damals führend waren.

Teile der Gesellschaft sehen sich in dieser abgeschotteten Kirche nicht vertreten, Frauen oder Homosexuelle beispielsweise.
Gerade im Umgang mit diesen Fragen zeigt sich, dass wir uns als Kirche sehr oft immer noch als System wahrnehmen, das andere einteilt oder versucht, sich selbst über alles zu stülpen. Das ist nicht der Weg, den Jesus gegangen ist. Jesus hat nicht gefragt: „Bist Du Mann oder Frau? Bist Du homosexuell oder heterosexuell?“. Er ist zu den Menschen gegangen. Und das ist der einzige Weg, den wir auch heute gehen können. Solange es unsere Sorge ist, ein System aufrechtzuerhalten, stehen wir dieser Botschaft Jesu im Weg.

Ein Zitat von Ihnen lautet: Die Menschen haben sich von der Kirche entfernt, weil die Kirche sich von ihnen entfernt hat.
Jahrhundertelang hatten wir die Macht, den Menschen zu sagen, was sie zu tun haben. Diese Macht kam mit der Konstantinischen Wende, als im vierten Jahrhundert das Christentum Staatsreligion wurde und auch der Apparat der Kirche sich immer mehr dem des Staates angeglichen hat. Aber Gott sei Dank haben wir diese Macht, die über Jahrhunderte bestand, nicht mehr; diesen Zeitgeist, der nichts mit dem Evangelium zu tun hatte. Die Menschen müssen heute nicht mehr in die Kirche kommen. Es ist unsere Aufgabe, zu den Menschen zu gehen.

Sie sind Autor mehrerer Bücher, auf Ihrem aktuellen steht geschrieben: „Von Pharisäern mit Vorsicht zu genießen!“ Das ist ein, mit Verlaub, recht ungewöhnlicher Verweis …
Das, was in den Pharisäern im Evangelium dargestellt ist, das ist die Versuchung eines jeden Menschen. Und vor allem von Menschen, die in Verantwortung stehen, ob das nun in der Politik ist, in der Wirtschaft, in der Kirche. Dass wir nicht mehr auf die anderen hören, dass wir meinen, den Tarif durchgeben zu können, dass wir die anderen von oben herab behandeln, dass wir uns nichts mehr sagen lassen und immer recht haben, das ist diese Haltung, die sich in den Pharisäern so in den Evangelien abzeichnet. Das Buch ist eine Herausforderung, sich dieser Versuchung im eigenen Leben zu stellen.

Dort schreiben Sie unter anderem auch, dass die Suche nach Eindeutigkeit heute überhandnehme. Der Mensch will Antworten, einfache Antworten.
Das Leben ist komplex. Und die pharisäische Versuchung ist auch Eindeutigkeit. Aber das wird dem einzelnen Menschen nicht gerecht. Es gibt in unserer Welt äußere und innere Widersprüche, mit denen wir zu leben haben. Das ist die Herausforderung. So einfach wie wir manchmal argumentieren, ist das Leben Gott sei Dank nicht.

Wer auf der Suche nach Eindeutigkeit ist, verkennt also die Komplexität des Lebens?
Das zeigt uns die derzeitige Krise. Es gibt Menschen, die mit dieser Komplexität der Welt derart Mühe haben, dass sie sogar die Regierung für die Pandemie verantwortlich machen. Sie stecken den Kopf in den Sand: Was nicht sein darf, ist einfach nicht. Und gehen dann auch noch auf die Straße. Um gegen das Virus zu demonstrieren? Also, wenn das Virus darauf hören würde, dann ginge ich auch demonstrieren (lacht). Im Übrigen gibt es viele Menschen, die sich wünschen, dass es wieder so wird, wie es einmal war. Doch das ist illusorisch. Es wäre auch schade um die Erfahrung, die wir gerade zu Beginn der Pandemie gemacht haben: Dass wir uns miteinander dieser Situation stellen müssen. Solidarität!

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Martin Werlen * 1962 in Obergesteln im Kanton Wallis, Benediktiner, Mönch des Klosters Einsiedeln und Philosoph, Theologe und Psychologe, war von 2001 bis 2013 der 58. Abt des Klosters und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz.
Seit August 2020 ist Pater Martin Propst der zum Kloster Einsiedeln gehörenden Propstei St. Gerold. Vom mehrfachen Bestsellerautor zuletzt erschienen ist das Buch „Raus aus dem Schneckenhaus“, Verlag Herder, 2020.

Die Propstei

Die Propstei, in der seit Jahrhunderten Mönche aus Einsiedeln leben und wirken, unterstützt und begleitet Menschen in schwierigen Lebenssituationen durch Erholungsaufenthalte und Therapie mit Pferden; die Propstei bietet auch ein umfangreiches Kultur- und Seminarprogramm an und ist für selbiges weit über die Grenzen hinaus bekannt.
Das denkmalgeschützte, teilweise viele Jahrhunderte alte Bauwerk wird mit großer Sorgfalt schrittweise saniert. Zwischen 2014 bis 2018 wurden die neue Gastronomie sowie neue Gästezimmer und neue Seminarräume realisiert, danach wurden Pferdestall und Reithalle saniert. Ab Juli ist nun das historische Hauptgebäude an der Reihe.
https://propstei-stgerold.at

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