Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, bei der „Presse“ im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technolo­gie, Militärwesen, Raumfahrt und Geschichte.

Kann denn Fliegen Sünde sein?

April 2023

In der „Flugscham“ spricht das Gewissen zu uns, das ja häufig Sache der Religionen ist. Flugscham hilft uns zwar nicht weiter und ist recht dünn begründet. Aber auch Kleinvieh macht halt Gewissensmist. Für manche fühlt sich das sogar gut an. Vor allem, wenn sie es demonstrativ herzeigen können.

 
Jessas, hat’s also einmal die Grünen erwischt. Jüngst tauchten Fotos auf, die die Vorarlberger Nationalrätin Nina Tomaselli im Linienflieger Wien-Altenrhein zeigen. Eine Grüne als Klimasünderin! Zugfahren predigen und Flugtomatensaft trinken, oder? Das böse CO2 wegen zwei, drei Stunden Ersparnis bis Feldkirch. Sie flugschäme sich!
Die ÖVP verspottete sie als „unglaubwürdigen Moralapostel“. Wegen ihrer Rolle als Grünen-Fraktionsführerin im VP-Untersuchungsausschuss sind da noch Hennele zu rupfen. Schräg ist, dass Ex-Umweltlandesrat Johannes Rauch laut VN einst 24 Flüge von VP-Finanzstaatssekretär Magnus Brunner anno 2020 anprangerte (meist Ländle-Wien), während Tomaselli 33 Mal flog, Rauch das aber verschwieg.
Das Verpfeifen einer Person, die zumindest nichts Illegales tut, mittels heimlicher Fotos ist eher letztklassig, typisch Spitzel. Man darf aber süffisant sagen, dass hier halt jemand den Moralspieß umgedreht hat, mit dem gute Linke sonst auf Andere zeigen. Links hat man speziell das Anprangern per Internet, (a)sozialen Medien und Shitstorms früher entdeckt als anderswo, und viel Kunstfertigkeit darin erlangt. Wer im öffentlichen Verbreiten rechtlich fragwürdig entstandener beziehungsweise erlangter Bilder, Textnachrichten und dergleichen, die politisch unkorrekte, unmoralische oder halbseidene Dinge zeigen, so viel Erfahrung hat, darf nicht heulen, wenn ihm umgekehrt so Zeug ins Gesicht fliegt.
Aber egal: Lasst sie fliegen! Der Einfluss von Kurzstreckenflügen (in diesem Fall netto eine Stunde, rund 530 Kilometer) auf das Klima wird übertrieben. Für 2019 zeigte die Eurocontrol, dass in Europa zwar ein Viertel aller Flüge maximal 500 Kilometer überbrückten, aber nur 3,8 Prozent der hier zurechenbaren Schadgasemissionen erzeugten. Fernflüge über 4000 Kilometer stellten sechs Prozent der in Europa startenden Flüge, aber die Hälfte der Abgase. Fazit: Weniger Kurzstrecke senkt die hohe Flugdichte, aber die Emissionen kaum; Langstrecke ist böse, aber schwer ersetzbar – besonders übers Meer, und wenn man keine Öko-Jachten nützen kann wie Greta Thunberg für ihre Atlantikquerungen.
Ich flog früher ab und zu von Wien nach Friedrichshafen, meist nur One Way, als es noch die InterSky gab. Via Altenrhein ist mir zu teuer. Zugfahren ist schön, die Arlbergpassage ein Wunder. Aber wer Klimaschutz zur starren Ideologie macht (ja zur Religion, dazu später), die Fliegen dämonisiert und Flugscham beschwört, den misst man halt anders. Es wird dann leicht zur Frage des Heuchlerischen.
Da gab’s jüngst ein arges Beispiel: Ein in der deutschen Klimakleberszene bekanntes Pärchen, Yannick und Luisa (je Anfang 20), sollte im Herbst wegen einer Aktion auf einer Straße in Baden-Württemberg in Stuttgart vor Gericht. Doch sie jetteten zuvor nach Thailand und winkten freundlich zurück. Vor einigen Wochen waren sie noch immer dort. Tja, wer sich’s leisten kann und viel Zeit hat …
Nach Protesten bereuten die Langstreckenkleber den Ausflug: Das Gewissen plage sie, aber über Land komme man eben nur schwer dorthin. Ein Boot hatten sie nicht. Sie versprachen: Der Rückflug werde „der letzte ihres Lebens“ sein. Hm, man soll mit so großen Schwüren in jungen Jahren vorsichtig sein. Das hält oft nicht so gut wie Loctite. Die Aktivistencombo „Letzte Generation“ hatte die beiden zuvor lustig defendiert: Sie seien „als Privatleute, nicht als Aktivisten“ geflogen. Hä? Im Übrigen hieß es, andere seien böser.
Simma net so streng. Wer irrt nicht bisweilen vom Moralkompass ab? Lügen, intrigieren, spionieren, der heimliche Leberkäs des Vegetariers. Der Grünwähler mit SUV, der Gendersender ORF, wenn die Rede ist von „Mieterinnen und Mietern“ oder „Bürgerinnen und Bürgern“, denen stets „Vermieter“/„Beamte“ gegenüberstehen. Letztere zwar in natürlicher Grammatik aus gendertechnikfreier Sprachwirtschaft, aber man spürt die Absicht. Pharisäer, Scheinheilige, Heuchler und böse sind wir bisweilen alle. Einige mehr als andere. Auch die Guten und die Letzte Degeneration. Und so tappen manche in die selbstgelegte Moral- und Flugschamfalle.
Jüngst las ich, wie eine junge Frau das Gewissen plagte, weil sie von Wien in eine schöne europäische Stadt flog. Das müsse sogar so sein, meinte sie! Klar: Wieso soll man in eindreiviertel Stunden am Ziel sein, wenn’s im Zug auch in gemütlichen 13 bis 16 Stunden geht? Mit urigen Klos, lustig hustenden Mitreisenden und haftlmacherisch das Gepäck bewachend. Mitschuld haben, dass CO2-Abgase plus andere Klimaeffekte des Fliegens drei bis fünf Prozent der anthropogenen Gesamtsumme stellen, ist ja echt frevelhaft. Auch Kleinvieh macht Gewissensmist. (Kraftwerke, Industrie, Landwirtschaft, Autoverkehr haben zwar mehrfach höhere Anteile, also Sparpotenzial, aber was soll’s.)
Ah, die Scham. Vor allem in noch erfahrungsarmen Jahren. Sie hat viele Gründe: etwa Körperlichkeit, Lebensumstände, vermutete oder faktische Unzulänglichkeiten, eine peinliche Lage. Und Handlungen, die verboten sind oder moralisch als schlecht gelten. Diese „Tat-Scham“ ist ein Schuldgefühl. Wer flüstert Dir das ein? Meist das Gewissen. Und was sagte einst an der Uni Innsbruck mein legendärer Völkerrechtsprofessor DDDr. Waldemar Hummer im Hörsaal: „Was ist das stärkste Machtmittel von Religionen über Menschen? Das Gewissen!“. Und so wird Fliegen zur Sünde im quasi-religiösen Sinn. Schäme dich! Tue Buße! Etwa mit einem Monat Bierverzicht, einer Spende an Greenpeace, einmal Auf-einer-Straße-Ankleben und Beschimpftwerden.
Schlechtes Gewissen gehört im ökolinksliberalen, zugleich oft so konservativ-puritanisch unentspannten Lebensgefühl samt Hypersensibilität dazu. Vor allem, wenn man’s vor sich herträgt und damit zeigt, wie stolz man ist, so achtsam zu sein, Scham zu verspüren. Das ist wie Schmuck, ein Diamant des Guten. Es macht richtig moralisch-spritzige Sünderwohlfühllaune. Deus lo vult! Gott will es! Heilige Greta, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Fluges. Amen.
 
Foto: Plakatsammlung Wirtschaftsarchiv Vorarlberg/Vorarlberger Landesbibliothek

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