Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Herbert Motter

Komplexität – Orientierung in einer komplexen Welt

November 2022

Eine Bestandsaufnahme in drei Teilen: Der Begriff der Komplexität. Konkrete Hilfe im Umgang mit komplexen Systemen. Und Wolf Lotters innovative Ratschläge.

Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen hat sie einmal Plastikwörter genannt, jene Ausdrücke, jene Modewörter, die inflationär gebraucht, nichtssagend geworden sind. Nachhaltigkeit, Innovation, Transformation, Resilienz das sind solche Ausdrücke. Und: Komplexität. 

Ein Beispiel? Fußball
Was aber ist Komplexität? Stefan Hagen, Unternehmensberater aus Dornbirn, beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema. Und wenn man ihn fragt, was darunter zu verstehen ist, sagt Hagen: „Um das zu klären, muss man dem Begriff der Komplexität den Begriff der Kompliziertheit gegenüberstellen. Dann verstehe man auch den Unterschied.“
Ein Beispiel? „Ein Fußball-Spiel“, sagt Hagen, „es ist kompliziert, ein systematisches Training oder eine Reise zum Auswärtsspiel zu organisieren. Aber das Spiel selbst ist komplex.“ Denn ein Spiel kann sich überraschend entwickeln, es kann unterschiedlichste Zustände einnehmen, es lässt sich im Verlauf und Ausgang nicht planen. In einem Wirtschaftslexikon heißt es, dass komplexe Prozesse eine Eigendynamik aufweisen, und es keine Möglichkeit exakter Modellierung und exakter Prognosen gibt. Man muss mit Überraschungen und Nebenwirkungen rechnen. Für den Zuschauer ist genau das der Reiz an einem Fußballspiel.
Ein Elfmeter, eine rote Karte, eine Verletzung, und das Spiel nimmt einen anderen Verlauf. Hagen sagt, man könne den Begriff der Komplexität auch mit dem Begriff „Lebendigkeit“ beschreiben, mit Dynamik. Oder schlicht gesagt: Mit der Menge an Überraschungen.
Ein solches Szenario ist allerdings das Gegenteil dessen, was Unternehmen brauchen. Denn ein Unternehmen braucht Stabilität. Berechenbarkeit. Um entsprechend planen und den Materialfluss organisieren zu können, um Aufträge fristgerecht abwickeln und termingerecht liefern zu können. Deswegen sind die gegenwärtig unterbrochenen Lieferketten, oder die steigenden Energiepreise oder die unsicher gewordene Märkte ein derart großes Problem für die Wirtschaft. 

Die Vernetzung
In den vergangenen Jahren ist vieles unberechenbarer geworden. Und immer deutlicher zeigt sich: Wie sehr alles miteinander verbunden ist, wie sehr das eine vom anderen abhängt und dass deswegen die isolierte Betrachtungsweise einzelner Ereignisse keinen Sinn macht. „Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen“ nennt sich ein aktuelles Buch des deutschen Komplexitätsforschers Dirk Brockmann. Dort heißt es: „Naturkatastrophen, Globalisierung, Wirtschaftskrisen, Pandemien, der Verlust an Biodiversität, Kriege und Terrorismus, die Klimakrise, die Folgen der Digitalisierung, Verschwörungserzählungen kann man nicht als isolierte Probleme betrachten. Nicht nur sind diese Krisen in sich schon ungeheuer komplex und vielschichtig, sondern eben auch häufig miteinander vernetzt.“
Brockmann schreibt auch: „Man muss erkennen können, welche Elemente essenziell sind, und, viel wichtiger, welche Details man vernachlässigen kann. Man muss nach grundlegenden Mechanismen, Mustern und Regelmäßigkeiten suchen. Die Mechanismen, Muster und Regeln sind dann sehr wertvoll, wenn sie nicht nur dabei helfen, ein System zu beschreiben, sondern vorhersagen, wie es auf Veränderungen der äußeren Bedingungen reagiert.“

Ein Irrtum 
Komplexität ist also die Beschreibung der Gegenwart. Doch sind damit auch die alten Wirtschafts-Rezepte obsolet geworden? Hat gar der Taylorismus mit seinen detailliert zugeordneten Arbeitsschritten endgültig ausgedient? Unternehmensentwickler Hagen warnt vor dieser irrigen Annahme. Denn falsch sei die Annahme, alles sei komplex geworden. „Es ist vielmehr so“, sagt der Dornbirner, „dass sich Altes und Neues, Stabiles und Dynamisches mischen.“ Was das Stabile betreffe, da werde in vielen Teilen der Wirtschaft die Arbeitsteiligkeit, die Spezialisierung auch weiter ein Teil des Erfolgsrezepts sein: „Eine effiziente Produktion muss weiterhin nach gewissen Prinzipien des Taylorismus funktionieren. Wo industriell qualitätsgesicherte Produkte hergestellt werden, braucht es nach wie vor die gesteuerte Organisation.“ 
Doch mit dem Neuen, Dynamischen und Komplexen ist das anders. Denn darauf lässt sich Hagen zufolge nicht mit Wissen antworten, also nicht mit dem bisher Erlernten, nicht mit dem bisher Praktizierten. „Auf das Komplexe“, sagt Hagen, „ist nicht mit Wissen, sondern mit Können zu antworten.“ Und das heißt: „Wir müssen von der Frage WIE? auf die Frage WER? umschalten.“ Auch das ist wie beim Fußball: Gute Spieler machen während der Partie intuitiv das Richtige und damit den Unterschied aus, sie entscheiden – im Idealfall – mit ihrem Können über den Ausgang des Spiels. Wenn sie denn vom Trainer auch an der richtigen Position aufgestellt werden. 

Wissen – und Können
Und das, sagt der Unternehmensentwickler, ist als Handlungsanleitung für Unternehmer zu verstehen. Also: In der Gegenwart hat ein jedes Problem seinen komplizierten Anteil, den man mit Wissen lösen kann. Und einen komplexen Anteil. Der sich nur mit Können lösen lässt. Die menschliche Kreativität bahnt also den Weg durch die komplexen Teile der Gegenwart. Und damit sind wir auch bei dem, was Wolf Lotter (siehe Seite 11) jüngst in Dornbirn zum Thema sagte, dass nämlich Unternehmer und Organisationen kreative Köpfe in ihren Reihen zu fördern hätten: „Wenn wir Leute haben, die sich die Mühe machen nachzudenken, dann soll man froh sein. Denn dann gehören wir zu den Unternehmen, die eine reelle Chance haben, im Konzert des 21. Jahrhunderts mitzuspielen.“

Komplexität ruft Berater auf den Plan
Der Umgang mit Komplexität ist also eine zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Dennoch ist es ist eine Gratwanderung zwischen Fremd- und Selbstverantwortung in einer komplexen Welt, aufgrund gestiegener Herausforderungen wird zunehmend Verantwortung an Berater delegiert. Die Komplexität vielfältiger Herausforderungen sowie der in allen Bereichen und auf allen Ebenen steigende Entscheidungs- und Veränderungsdruck bringen es mit sich, dass zunehmend auf die Professionalität und das Know-how externer Beraterinnen und Berater zurückgegriffen wird. 
So hat sich auch der Beratermarkt in den letzten Jahrzehnten enorm ausdifferenziert. Einige Beratungsleistungen seien hier exemplarisch erwähnt. Consulting erlebt beispielsweise in der Corona-krise eine hohe Nachfrage – gerade aus dem Finanzsektor. Dort herrscht derart hoher Transformationsdruck, dass selbst die Pandemie kaum bremst. Es geht um Themen wie Strategie, Organisation und Führung. In der Wirtschaft sind die Anwendungsfelder enorm: Finanzberatung, Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung, Immobilienberatung, Personalberatung, Management- und Organisationsberatung, Marketing- und Vertriebsberatung.
Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig etwa die Digitalisierung von Prozessen und Dienstleistungen ist. Es war wohl noch nie so wichtig wie heute, am Markt sichtbar zu sein und sich zukunftsfit aufzustellen. Jetzt, heißt es, ist der richtige Zeitpunkt, Strategieprozesse, Konzepte, Geschäftsmodelle, Markt- und Onlinepräsenz, Investitionsüberlegungen und Risikoabsicherung anzugehen.

Riesige Transformationsprozesse
Ohne Zweifel erleben wir heute einen seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Zeitenwende steht nicht nur bevor, wir sind bereits mittendrin. Klimakrisen, eine Pandemie, Kriege, Preisexplosionen und technologischer „High-Speed“- Fortschritt treffen uns sowohl auf persönlicher Ebene als auch als Gesellschaft und Wirtschaftsstandort.
„Die Akteure in einem Wirtschaftssystem stehen vor der Herausforderung, in Zeiten erhöhter Komplexität und technologischer Umbrüche handlungs- und planungsfähig zu bleiben. Obwohl die Zukunft nicht vorhersehbar ist, kann sie von relevanten Wirtschaftsteilnehmern gemeinsam gestaltet werden“, erklärt Innovationsmanagerin Annabell Pehlivan. 
Sie begleitet seit vielen Jahren Unternehmen in Transformationsprozessen und unterstützt diese bei der Entwicklung von innovativen Geschäftsmodellen. Im Auftrag der Wirtschaftskammer Vorarlberg leitet sie die Innovationsoffensive TRAVO. Diese bietet den Mitgliedern der Wirtschaftskammer ein dreiteiliges Angebot mit dem Ziel, die individuellen Anliegen rund um die Themen Transformation, Innovation sowie Produkt- und Geschäftsmodellentwicklung bestmöglich zu unterstützen.

Externe Sparingpartner
In Zeiten großer Unsicherheit ist es von besonderer Bedeutung, unternehmerische Entscheidungen gut vorzubereiten und Kräfte gezielt zu bündeln. Es gilt, schrittweise den Weg aus der Krise zu finden und die Chancen konsequent zu nutzen, die sich nun am Markt ergeben. Erfahrungsgemäß gelingt dies mit einem externen Sparringspartner an der Seite oft leichter. Vorarlbergs Informations- und Kommunikationsbranche verfügt da über eine große Expertise, von der Wirtschaftstreibende in der ganzen Bodenseeregion profitieren. Im vergangenen Jahr wurden zahlreiche Projekte auf Eis gelegt oder abgesagt. Konzepte, Strategieprozesse, Magazine, Re-Branding Prozesse, Kampagnen etc. wurden gestoppt. Ein Fehler! „Es war noch nie so wichtig wie heute, am Markt sichtbar zu sein oder sich zukunftsfit aufzustellen“, erklären die Vertreter der beiden Berufsgruppen, UBIT-Fachgruppenobfrau Benedicte Hämmerle und Martin Dechant, Obmann der Fachgruppe Werbung und Marktkommunikation.

Unterstützungsleistungen
Niemand ist allein in unserem Land, wenn es um die Verwirklichung einer eigenen Geschäftsidee geht. Das Gründerservice ist von Anfang an deren Seite. Es begleitet von der ersten Analyse der Geschäftsidee über alle Fragen rund um Steuer-, Sozialversicherungs- oder Gewerberecht, Marketing, Förderungen, Finanzierung oder Mindestumsatz bis zur Gewerbeanmeldung. Auch hier ist Beratung essentiell für eine langfristig erfolgreiche Umsetzung des selbstständigen Weges.

Weltweite Hilfestellung
Über die Außenwirtschafts-Organisation AUSSENWIRTSCHAFT AUSTRIA bietet die Wirtschaftskammer umfassende Beratungsleistungen für die heimischen Unternehmen, die weltweit aktiv werden wollen. „Wir vernetzen österreichische Unternehmen mit internationalen Kunden und Partnern. Unsere guten Kontakte zu Politik und Verwaltung in den Zielländern ebnen österreichischen Firmen den Weg zum Erfolg. Zudem beraten wir die Unternehmen beim Export von Waren und Dienstleistungen, bei Beschaffungsgeschäften, bei Auslandsinvestitionen, bei Finanzierungen, bei Technologie-Kooperationen und beim Transfer von Geschäftsideen und Vertriebskonzepten“, erklärt Michael Otter, Leiter der AUSSENWIRTSCHAFT AUSTRIA.
Geht es etwa um das Thema Berufsorientierung, ist das BIFO von Wirtschaftskammer und Land eine Anlaufstelle für Jugendliche und Erwachsene, die Bildungs- und Berufsberatung in allen Fragen, die mit Ausbildung, Weiterbildung und beruflichen Veränderungen verbunden sind. Die duale Ausbildung in Vorarlberg ist ausgezeichnet, stellt die Betriebe aber in manchen Fragen vor größere komplexe Aufgaben. Unterstützung gibt es hier von den Ausbildungsberatern der Wirtschaftskammer Vorarlberg, die die Unternehmen kostenlos beraten. 

Und der Alltag
Immer schneller wandelt sich der Alltag des Menschen. Lebens- und Problembewältigung werden vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zunehmend komplexer und unüberschaubarer. Der Bedarf an professioneller Beratung wächst und resultiert nicht nur aus sozialpolitischen Umbrüchen und instabilen Beschäftigungsverhältnissen, sondern auch aus damit verbundenen erhöhten Unsicherheiten in der Lebensführung und -planung sowie den veränderten Lebens- und Familienformen. In der heuten schnelllebigen Zeit werden wir von Informationen, Aufgaben, Anforderungen und äußeren Reizen überflutet. „Viele Menschen fühlen sich in Folge getrieben und fremdgesteuert. Das lässt die Grenze zwischen eigenen und fremden Handlungszielen verschwimmen und ein erhöhtes Stressempfinden wird wahrgenommen“, weiß die Psychologische Beraterin Susanne Rauch-Zehetner. Die Vor-arlberger Expert:innen für Lebens- und Sozialberatung mit ihren drei Fachbereichen Psychologische Beratung, Ernährungsberatung und Sportwissenschaftliche Beratung leisten hierbei einen unverzichtbaren Beitrag zum bewussten und nachhaltigen Management wertvoller Lebensressourcen.
Das Kriseninterventionsteam Vorarlberg hilft bei der Bewältigung von akuten Krisen, bei Überlastungszuständen und akuter Traumatisierung und bei Krisen mit Suizidrisiko und/oder bei drohender Gewalt. Zen-trale Anlauf-stelle für alle Men-schen in Vor-arl-berg, die psy-cho-so-ziale Fra-gen oder Pro-bleme haben, ist das Institut für Sozialdienste, ifs. Von der Schuldenberatung, über Hilfestellungen bei den Themen Wohnen, Tod, Einsamkeit, Alter bis hin zu Bereichen Gewalt, Migration oder Sexualität.

Notwendiger Anker
Dies alles sind Beispiele, die zeigen, dass ohne Beratung und Hilfe ein Leben und Wirtschaften in dieser komplexen Welt nicht mehr vorstellbar ist. Die Bedingungen, unter denen wir uns heute bewähren müssen, sind oft von Ungewissheit, Unsicherheit sowie von der Notwendigkeit, Komplexität zu beherrschen, bestimmt. Die Verschränkungen nehmen weiter zu, daher bedarf es mancher Anker, um Orientierung zu schaffen. Was ist wertvoll oder wertlos, was sinnvoll oder sinnlos? Die Trennschärfe, der Blick für das Wesentliche macht es aus. Er entscheidet zwischen Gelingen und Misslingen.

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