Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Man muss in Österreich endlich Tacheles reden“

Juli 2017

Österreich sei politisch und wirtschaftlich aus dem Tritt geraten, sagt Politikwissenschaftler Hans-Peter Siebenhaar (55). Doch anstatt Klartext zu reden und Probleme konkret zu benennen, übe man sich hierzulande in Schönrednerei: „Dabei braucht das Land einen ehrlichen Diskurs, der zur Umsetzung von konkreten Reformen ohne falsche Rücksichten führen muss.“ Der deutsche Handelsblatt-Korrespondent für Österreich und Südosteuropa im Interview – über alte Strukturen, verpasste Chancen und eine Politik, die sich bislang nicht bewegen wollte.

Herr Siebenhaar, wir starten das Gespräch ausnahmsweise mit einer Warnung. Deutsche, die sich abfällig über Österreich äußern, sind hierzulande nicht besonders wohlgelitten. Ist Ihnen das bekannt?

Ja. Das gilt auch zu Recht! Ich fühle mich allerdings nicht angesprochen, weil ich mich in großer Zuneigung zu Österreich äußere und einen konstruktiven Beitrag als außenstehender Beobachter leisten will. Im Übrigen besitze ich als Auslandskorrespondent in Wien das Privileg, von niemandem hierzulande abhängig zu sein, weder politisch noch ökonomisch. Ich kann daher einen unvoreingenommenen Blick auf Österreich werfen.

Also, gehen wir es an. Sie schreiben in Ihrem Buch „Die zerrissene Republik“, dass sich hinter der pittoresken Kulisse Österreichs ein Land verberge, das politisch und wirtschaftlich aus dem Tritt gekommen sei. Inwiefern?

In Österreich hat sich eine Popularisierung der Politik etabliert, über alle Parteien hinweg, welche die Reformfähigkeit des Landes immer stärker gefährdet. Es ist eine weit verbreitete Gefallsucht des politischen Führungspersonals, die zur Stagnation des Landes wesentlich beiträgt. Viele Politiker reden den Menschen viel zu sehr nach dem Mund. Wenn man Dinge verändern und das Land voranbringen will, kann man aber als politische Führungskraft gar nicht jedermann gefallen. Ökonomisch droht Österreich noch stärker aus dem Tritt zu kommen, weil man mit der hohen Staatsquote, der zu hohen Steuerbelastung und einer byzantinischen Bürokratie ein System geschaffen hat, das es den Unternehmen immer schwerer macht, im knallharten globalen Wettbewerb zu bestehen.

Worin unterscheidet sich eigentlich die österreichische von der deutschen Politik?

In Deutschland hat die Politik größtenteils den Willen und auch das Vermögen, zu konstruktiven Lösungen zu kommen. Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen den beiden Koalitionsparteien paralysiert sich die große Koalition in Berlin nicht gegenseitig. Sie bringt immer noch die eine oder andere Reform auf den Weg, obwohl die Parteien derzeit längst im Wahlkampf sind. Ein weiterer maßgeblicher Unterschied ist, dass sich die Politik in Deutschland hinsichtlich des Wirtschaftsstandortes weitgehend als Dienstleister begreift. Politik und Wirtschaft agieren hier in sehr enger Absprache, es herrscht gegenseitiges Grundvertrauen. In Österreich ist die Wirtschaft dagegen oft nur der Big Spender, der seine Steuern zu errichten hat. Die politische Elite ist relativ abgekoppelt von der Wirtschaft. Unternehmer und deren Beschäftigte werden nur in der Wahlkampfzeit als Gesprächspartner relevant. In Wahlkampfzeiten suchen österreichische Politiker aller Parteien die Nähe zur Wirtschaft. Doch die Vorschläge, Ideen und Forderungen, die an sie herangetragen werden, gehen später nach der Regierungsbildung im politischen Alltagsgeschäft schnell unter. Auch die politische Kommunikation ist anders; zwischen medialen und politischen Akteuren herrscht in Deutschland eine ungleich deutlichere Distanz.

Die Nähe zwischen Politik und Medien, maßgeblich in Wien, dürfte ein österreichisches Spezifikum sein ...

Natürlich suchen deutsche Politiker die Nähe zur „Bild“, zur größten europäischen Tageszeitung. Aber niemand käme auf die Idee, über opulente Anzeigen aus Steuergeldern wie in Wien den Boulevard finanziell zu alimentieren. Deutschland besitzt das Privileg, keine Gratiszeitungen zu haben. Und das tut der politischen Kultur gut. Denn die Symbiose zwischen Politik und Boulevard, dieses sehr spezifische österreichische Phänomen, ist auch Ausdruck eines sehr geringen Selbstbewusstseins und einer gewissen Mutlosigkeit der politischen Elite – sie glaubt tatsächlich, auf diesen Boulevard angewiesen zu sein. Das ist ein Irrtum. Bestellte Wahrheiten sind immer angenehm. Keine Frage. Doch am Ende beschädigen sie die Glaubwürdigkeit – das höchste Gut in der Politik.

In Österreich, schreiben Sie, regiere die Schönrednerei.

Die Schönrednerei ist in Österreich zu einem Massenphänomen geworden. Vertreter der Wirtschaft sind in Österreich seit Jahren die einzigen, die auf die Schwächen hinweisen, Reformen fordern und somit auf eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes drängen. Bislang allerdings mit geringem Erfolg. Politik und Gesellschaft tun sich dagegen äußerst schwer damit, der meist richtigen Analyse auch viele Taten folgen zu lassen. Meiner Meinung nach sind die strukturellen Probleme des Landes größer als öffentlich dargestellt. Deshalb müsste in Österreich endlich Tacheles gesprochen und entsprechend gehandelt werden. Stattdessen übt man sich in Vogelstrauß-Politik: Je größer das Problem, umso schneller wird der Kopf in den Sand gesteckt. Die politischen Eliten reagieren sehr empfindlich auf Kritik. Anstatt Kritik als etwas Positives, als Beitrag zur Veränderung aufzufassen, wird der Kritiker im besten Fall ignoriert, in anderen Fällen ausgegrenzt oder beschädigt. Wenn Österreich aus der Mittelmäßigkeit herauskommen will, braucht es einen ehrlichen Diskurs, der zur Umsetzung von konkreten Reformen ohne falsche Rücksichten führen muss.

Und wenn nun einer Kritik übt?

Dann fällt das ganze Land über denjenigen her. Die berühmte Äußerung von Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl, Österreich sei „abgesandelt“, ist ein Musterbeispiel dafür. Leitl hatte mit seiner Warnung vollkommen Recht! Ich persönlich habe mich gefreut, dass sich Leitl von den verbalen Watschen nicht beeindrucken ließ, die er einfangen musste, als er den Pfad der klaren Kritik gegangen ist und diesen im Übrigen auch weiterhin geht. Man bräuchte aber viel mehr solcher Beiträge, dringend auch aus der Mitte der österreichischen Gesellschaft, um auch die politischen Entscheidungsträger anzustacheln und zu unterstützen, einen anderen Kurs zu nehmen, der zu mehr Wirtschaftswachstum, zu mehr Jobs und zu einem höheren Wohlstand führt. Denn es geht am Ende um das Wohl des Landes.

Es gab eine Zeit, in der Österreich – zumindest medial – als das bessere Deutschland galt. Was hat sich in Deutschland seither gut, in Österreich aber falsch entwickelt?

In Deutschland schaute man in den Nullerjahren mit Neid und Respekt auf Österreich. Das Nachbarland war flexibler, moderner und offener. Es nutzte seine Chancen, die sich in Osteuropa boten, zum eigenen Vorteil. Deutschland befand sich in dieser Zeit in einer schwierigen Phase der ökonomischen Stagnation – hat aber in der Folgezeit an vielen Stellschrauben gedreht, um den Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen und hat sich dank seiner Unternehmer und deren Mitarbeiter in einer Art und Weise globalisiert, wie es selbst Optimisten kaum für möglich gehalten hätten. In Österreich haben die Unternehmen auch Gutes geleistet, sich globalisiert, ihren innovativen Vorsprung ausgebaut. Nur die politischen Strukturen sind in Österreich die gleichen geblieben: Die Bürokratie wurde nicht abgebaut, die Steuerquote nicht gesenkt, Innovation und Entwicklung wurden nicht ausreichend gefördert, es wurden den Menschen viel zu wenig die Vorteile und der Nutzen von Weltoffenheit und Globalisierung klargemacht. Und das in einem Land, in dem das wirtschaftliche Wohlergehen vom Export abhängt.

Und heute?

Heute? Ist Österreich von Staaten mit hohem Wirtschaftswachstum umgeben, regelrecht umzingelt. In Tschechien wuchs 2015 das Bruttoinlandsprodukt um 4,2 Prozent, in der Slowakei um 3,6 Prozent, in Ungarn um 2,9 Prozent. Und in Österreich? Um 0,9 Prozent. Das ist auch der Preis für die niedrige Standortqualität der Alpenrepublik; das Land hat viele wertvolle Jahre im Wettbewerb mit seinen Nachbarländern verloren, man sieht an den Zahlen, wie groß die Gefahr aus dem Osten für den Wirtschaftsstandort Österreich wirklich ist. Von der jüngsten kurzfristigen Aufwärtsentwicklung sollte man sich nicht blenden lassen.

Wobei die Nachbarstaaten laut Ihrem Buch ja wie Magneten auf Investoren wirken ...

Während Österreich von internationalen Investoren meist links liegen gelassen wird, wirken die Nachbarländer, insbesondere Tschechien, die Slowakei und Ungarn, wie ein Magnet für ausländische Unternehmer. In der slowakischen Hauptstadt Bratislava, um die Ecke von Wien, sind die Steuern niedriger, die Löhne niedriger, ist die Politik deutlich wirtschaftsfreundlicher. Der Steuerwettbewerb ist brutal. Das ist ja einer der Gründe, weshalb selbst einige österreichische Unternehmen ganze Teile in die Slowakei oder in andere mittel- und osteuropäische Länder verlagern. Das geschieht eher im Stillen, g‘schamig, wie man in Österreich sagt. Aber man verlagert natürlich die Produktion, und ich rede auch von qualifizierten Arbeitskräften. Raiffeisen hat 150 Arbeitsplätze in die Slowakei verlagert. Und das ist nur ein Beispiel von mehreren. In Prag, in Bratislava, in Budapest schießen die großen Bürohäuser wie Pilze aus dem Boden und österreichische Unternehmen sind da mittendrin.

Sie stehen nicht im Verdacht, ein Schönredner zu sein. Sie sagen: Österreich hat sich durch eigenes Verschulden mit seinen langjährigen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Selbstbetrügereien von der europäischen Spitzengruppe abgehängt. Bei all der notwendigen Kritik – ist das nicht doch ein zu hartes Urteil?

(Längere Pause) Vielleicht ist es eine deutsche Eigenschaft, im Urteil hart zu sein. Aber mein Buch ist der Versuch, Wahrheiten deutlich auszusprechen, um den Veränderungsprozess zu beschleunigen, damit die Aufholjagd Österreichs am Ende vom Erfolg gekrönt ist.

Bezeichnen Sie die österreichische Bundesregierung auch deswegen als Mikado-Koalition?

… gemäß dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Mit den Neuwahlen im Oktober besteht die Chance, das langjährige Mikado-Spiel zu beenden. Das sehe ich als Fortschritt. Denn beide bisherigen Koalitionspartner wollen sich bewegen. Das ist auf jeden Fall positiv, um die wirtschaftliche und politische Stagnation zu überwinden. Bisher glich die österreichische Koalition eher einer auf dem Rücken liegenden Schildkröte, die zwar mit den Füßen kräftig strampelt, sich in Wahrheit aber keinen Millimeter vorwärtsbewegt. Die Neuwahl bringt nun die Chance, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Die Parteien reagieren endlich auf die Unzufriedenheit der Bürger und der Unternehmen. Ein neuer Mut zur Veränderung hat Österreich erfasst.

Kommen wir zu den von Ihnen massiv kritisierten Populisten in Österreich ...

Die politische Elite will gefallen, auf Teufel komm raus, und das führt dazu, dass man dem Stammtisch nach dem Mund redet. Der von der FPÖ ausgelöste Rechtsruck der österreichischen Gesellschaft hat zu einer Art politischem Rattenrennen geführt. Tatsächlich sollte das Gegenteil der Fall sein, es gibt im Englischen den schönen Begriff „Leadership“ – Ziele formulieren und auf dem Weg zur Erreichung des Ziels die Menschen überzeugen und mitnehmen. Von den politischen Führungskräften ist Mut gefordert, Mut zur Kehrtwende! Wenn ich aber ängstlich bin, hin und her laviere zwischen all den verschiedenen Interessengruppen und bei jedem gut ankommen und Applaus einsammeln möchte, dann wird das nichts – dann herrscht Stagnation.

Krankt die österreichische Politik da an Visionslosigkeit? Sind unsere Politiker frei nach Helmut Schmidts Satz ‚Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen‘ kerngesund?

(Lacht) Helmut Schmidt wollte keine unerreichbaren Visionen, er wollte große, aber klare Ziele. Das gilt heute mehr denn je. Denn in der Gesellschaft herrscht eine große Sehnsucht, konkret zu wissen, in welche Richtung sich das Land in dieser globalisierten Welt bewegen soll und wie man Probleme wie etwa die Migration meistern will. Ich hatte kürzlich Bundeskanzler Kern im Wiener Rathaus bei der Eröffnung eines Zeitungskongresses zugehört. Dort sagte der Regierungschef, Politik in Österreich bestehe zu 95 Prozent aus Show und zu fünf Prozent aus Inhalten. Ich war erschrocken. Das war von ihm nicht ironisch gemeint! Sollte diese Diagnose tatsächlich zutreffen, dann wird mir angst und bange. Wir sollten dazu kommen, dass Politik zu 95 Prozent Inhalt ist und nur zu fünf Prozent Show. Wenn ich dem Populismus und dieser Trivialisierung des Unerträglichen etwas entgegensetzen muss und kann, dann sind das Inhalte, Lösungen, Wege, die nachvollziehbar sind. Dass man sich davon befreien kann, mit einer populären Politik immer mehr ins Fahrwasser des Populismus zu kommen, hat übrigens Macron in Frankreich gezeigt. Macron hat bewiesen, dass man mit klaren Zielen, mit Empathie, einem Leitbild und mit Führungskraft eine Gesellschaft vor dem Rückfall in Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Abschottung schützen kann.

Kommen wir zum Schluss. Skizzieren wir doch einen Ausweg. Was braucht Österreich?

Klartext statt Schönrednerei. Konstruktivismus statt Destruktivismus. Eine Reform von Staat und Verwaltung, nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Einen Staat, der sich als Ermöglicher und Dienstleister für Bürger und Unternehmer definiert. Weltoffenheit statt Provinzialismus. Und eine Abkehr von der Mittelmäßigkeit – mehr Klasse, weniger Masse. Die Wellness-Oase Österreich lässt sich auf Dauer nicht mehr finanzieren. Der Vollkasko-Staat mit einem Rundum-Sorglos-Paket von der Geburt bis zum Tod funktioniert in einer globalisierten Welt nicht mehr wie noch im 20. Jahrhundert. Daher ist eine Kehrtwende angesagt, die weniger auf Subventionen, sondern mehr auf Eigeninitiative setzt, die Steuern senkt und somit mehr flexible Gestaltungsmöglichkeiten schafft. Es gibt viel Mut zur Veränderungen, die österreichischen Unternehmen haben das längst vorgemacht. Nun muss auch die Politik endlich Courage zeigen statt sich weiter auf das Verwalten von Macht zu beschränken.

Mit einer Warnung sind wir in unser Gespräch gestartet, mit einer Feststellung beenden wir es: Sie haben das Buch nicht geschrieben, weil Sie dem Land etwas Schlechtes wollen ...

... nein, ganz im Gegenteil, ich habe es aus tiefer Zuneigung zu Österreich geschrieben. Aus Zuneigung zu einem Land, in dem ich mich als Gast sehr wohlfühle und das mir in den vergangenen Jahren sehr ans Herz gewachsen ist. Ich habe das Buch geschrieben, weil ich einen kleinen, bescheidenen Beitrag zu einer fundamentalen Diskussion leisten will, wie Österreich dorthin finden kann, wo es hingehört: An die Spitze in Europa, ökonomisch und politisch. Das Land hat nämlich die Kraft dazu.

Vielen Dank für das Gespräch!

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