Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Permanente Voyeure im digitalen Zeitalter“

April 2018

Alexander Görlach (41), Gastprofessor am Harvard University College und Autor der „New York Times“, sagt im Interview: „Während man sich in der Regel noch einigermaßen benimmt, wenn man sich gegenübersteht, brechen in der digitalen Kommunikation alle Dämme.“

Sie fallen mit der Tür ins Haus, wenn Sie ganz zu Beginn Ihrer Streitschrift schreiben: „Am Umgang mit Prominenten zeigt sich, dass wir als Gesellschaft ein Problem haben.“

Wir haben ein großes gesellschaftliches Problem, wenn wir glauben, alles sei erlaubt, nur weil jemand eine gewisse gesellschaftliche Stellung, einen gewissen Beruf oder ein gewisses Einkommen hat. Denn in all den Fällen, die ich im Buch damals beschrieben habe,  wurde zuerst die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt, war die Person schon erledigt, bevor überhaupt eine juristische Bestandsaufnahme gemacht worden war. Das traf bei Guttenberg, Zumwinkel, Hoeneß, Kachelmann und anderen zu, und ich bin mir sicher, dass Sie auch für Österreich entsprechende Beispiele haben. Wir haben ein grundsätzliches Problem mit denen „da oben“ – wir verfolgen medial jeden ihrer Schritte, suchen ihre Nähe. Und neiden ihnen gleichzeitig, dass sie es geschafft haben.

Sie sprechen da ironisch auch von einem modernen Olymp der Götter ...

In der griechischen Mythologie ist der Olymp der Ort des Interesses. Heute kann man in unseren Gesellschaften nach oben kommen, man wird quasi zum Halbgott. Und viele Menschen in diesem modernen Olymp, ob das nun Filmstars oder Sportler sind, sind erst durch die Masse in ihre Position gekommen: Wir schauen ihre Filme oder Sportpartien. Daraus aber abzuleiten, diese Exponierten müssten sich mehr gefallen lassen, ist falsch: Warum sollten denn diese Menschen andere Emotionen haben, nur weil sie im Fernsehen zu sehen sind? Sollte sich einer dieser Menschen auch nur angeblich etwas zuschulden kommen lassen, dann beginnt sein Fall. Dann bestimmt häufig nur noch die Häme den öffentlichen Diskurs.

Scheitern ist zum eigentlichen Inhalt ganzer Shows geworden. Haben Sie auch deswegen Ihr Buch mit dem Untertitel „Wie die Häme unser Land zerfrisst“ versehen?

Scheitern gehört zur Genese des Fortschritts. Probieren, scheitern, wieder probieren. Ein Gesamtnutzen kann ja nur dadurch entstehen, dass es auch andere gibt, die keinen Erfolg haben. Man hat in unserer Gesellschaft allerdings eine gewisse Leidenschaft entwickelt, sich das Ganze aus einem gewissen Abstand anzuschauen. Und dann: Daumen hoch. Oder Daumen runter. Die Öffentlichkeit als virtuelle Größe macht Häme zur Tugend. Und wozu führt das? Dazu, dass sich viele zweimal überlegen, ob sie ein öffentliches Amt bekleiden möchten. Man bringt öffentlichen Ämtern immer weniger Respekt entgegen. Wobei Respekt nur meint, anderen Menschen mit einer gewissen Grundausstattung an Benehmen gegenüberzutreten. Und das hat so stark nachgelassen, dass man jetzt schon in Sorge sein muss, dass geeignete Leute keine Öffentlichkeit mehr wollen.

Sie zitieren da den Philosophen Byung-Chul, „Ohne Abstand kein Anstand“, und halten fest: „Die digitale Kommunikation baut nicht nur räumliche, sondern auch mentale Distanzen ab.“

Kritik innerhalb eines gewissen Regelwerks muss ausdrücklich erlaubt sein. Das ist ja keine Frage. Aber während man sich in der Regel noch einigermaßen benimmt, wenn man sich gegenübersteht, brechen in der digitalen Kommunikation alle Dämme. Und das trifft ja längst nicht mehr nur Prominente, sondern wird auch in anderen Kontexten zunehmend zur Arithmetik des Miteinanders. Angesichts der permanenten Voyeure im digitalen Zeitalter wird der erwähnte Abstand immer schwieriger. Denn die dauerhafte Möglichkeit, Zuschauer zu sein, verstärkt eine Grund-Unart des Menschen: Ein Neidhammel zu sein.

Und von Ihnen als solche bezeichnete „Akteure der Empörung“ nutzen das aus!

Und schaukeln sich gegenseitig auf. Als Christian Wulff damals noch deutscher Bundespräsident war, brachte die Seite 1 der FAZ eine Geschichte zu einem Bobby-Car: Dieses Spielzeug hatte ein Hannoveraner Autohändler dem Staatsoberhaupt geschenkt. Dieser parkte es in der Spielecke seines Amtssitzes Schloss Bellevue. Die FAZ fragte, ob sich der Präsident hier womöglich nicht richtig verhalten habe und das Bobby-Car nicht hätte zurückschicken müssen. Grotesk!

In unserer Gesellschaft diskutiert man eben gerne über Leute. Noch besser: über Prominente. Und deren Schwächen.

Es gibt da ein Zitat, das Eleanor Roosevelt, der Gattin des einstigen US-Präsidenten, zugesprochen wird: „Kleingeister sprechen über Menschen, mittelmäßige Leute über Ereignisse, große Geister hingegen über Ideen.“ Und da die Frau nun doch schon eine ganze Ecke tot ist und auch aus einer anderen Welt kam, scheint das eine immerwährende Frage an unsere Existenz zu sein. Dieses Zitat ist, würde ich sagen, zeitlos schön – und damit beileibe nicht nur ein Problem unserer heutigen Zeit.

Wobei wir im Jahr der vielen historischen und zeithistorischen Gedenken an dieser Stelle schon festhalten müssen: Die 68er hatten noch Ideen diskutiert. Und gelesen.

Ja! Studenten konnten damals meinetwegen im 78. Semester Politikwissenschaften studieren, immer noch nicht fertig, aber sie kannten ihren Marx. Textfest waren sie, in dieser 68er-Tradition. Heute hab ich Studenten in meinen Seminaren, die maßgebende Texte nicht kennen. Die nichts von dem gelesen haben, was sie hätten lesen sollen. Da frag ich dann schon: Und warum wählt ihr dann ausgerechnet dieses Seminar?

Auch die Medien rücken bevorzugt Personen in den Mittelpunkt.

Ich war in meiner Studienzeit in der Nachrichtenredaktion im ZDF tätig, als junger Kollege, es war das Jahr 2000, die Übergangszeit zwischen den Jahrhunderten. Da wechselte die Leitung der Nachrichtenredaktion, nicht nur politisch, auch inhaltlich, und dann hieß es: Nachrichten sind Emotion! Und Menschen sind Träger dieser Emotion! Damit reagierte man auf dem Mainzer Lerchenberg auf die Konkurrenz der Privaten.

Sind denn die Menschen an grundlegenden Diskussionen nicht mehr interessiert?

Wie Alvin Toffler in seinem Buch „Zukunfts-Schock“ bereits im Jahr 1970 vorweggenommen hat, leben wir heute in einer Zeit, in der das Tempo, mit dem der Fortschritt – vor allem der technologische Fortschritt – stattfindet, auch Eliten überfordert. In früheren Innovationsphasen kamen Eliten noch mit, konnten ihn einer in Kirchen, Parteien, Gewerkschaften organisierten breiten Basis erklären und notwendige politische Prozesse einleiten. Heute ist die Beschleunigung dagegen so krass geworden, dass auch Entscheider ratlos geworden sind ob der vielen komplexen Fragen. Das Parlament soll innerhalb weniger Tage entscheiden, ob der Euro gerettet oder Griechenland vor der Staatspleite bewahrt werden soll. Da sagen Parlamentarier: Das ist zu viel, das kriegen wir in kurzer Zeit nicht gestemmt.

Und Konsequenzen bleiben nicht aus.

Wir sind – wieder – in einem Moment der Geschichte angekommen, in dem einfache Antworten politisch wieder gerne genommen werden. Vor vier Jahren, als ich das Buch veröffentlicht hatte, war das noch etwas anders: Damals hatte es noch keine AfD gegeben, die in manchen Regionen des Landes 30 Prozent der Stimmen holt. Die Hinneigung zu einfachen Antworten ist ein großer Trend der heutigen Zeit. Der Moslem ist schuld, der Jude ist schuld, der Kurde ist schuld, die Schule ist schuld, die Medien sind schuld, wer oder was auch immer, einer ist immer schuld – wir erleben eine Neuauflage sehr einfach gestrickter Antworten, die, um mit Max Weber zu sprechen, fast in die Zeit des frühreligiösen, kultischen Aberglaubens zurückgehen. Je einfacher die Antwort, desto lieber. Das hat das Ziel, die Verängstigten zu beruhigen. Die Wahrheitsfindung steht nicht im Mittelpunkt. Deswegen attackieren ja die Populisten überall auf der Welt die Akteure der Wahrheit in Wissenschaft und Journalismus. Fakten und Wirklichkeit sind hinderlich, wenn man die Menschen mit einfachen Antworten einfangen und instrumentalisieren will.

Sie schreiben, dass in diesem Umfeld jene selten werden, die vorausgehen und Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen. Weil sie die Häme fürchten. Und den Spott der vielen.

Es gibt in Deutschland einen aktuellen Fall, den Fall der Essener Tafel, das war bestimmt auch in den österreichischen Zeitungen zu lesen: Ehrenamtlich Tätige in Essen haben entschieden, keine weiteren Berechtigungsscheine an Flüchtlingen auszugeben. Ich will das nicht bewerten, aber selbstverständlich kann man diese Entscheidung kritisieren. Aber in dieser Intensität, wie es da geschehen ist? Die Tafel bekam ihre Autos mit „Nazis“ vollgesprüht. Die Kanzlerin hatte etwas beizutragen. Die rechtsextreme AfD auch. Der Leiter der Essener Tafel war einem Interview zufolge kurz davor, alles hinzuschmeißen. Er und sein Team sind Ehrenamtliche und nicht die Blitzableiter oder Kulminationspunkte der deutschen Flüchtlings- und Integrationspolitik.

Sie schreiben gegen Schluss: „Was zu wissen ist, liegt in der Abwägung der Journalisten.“

„Gatekeeping“ kann man lernen. Dazu braucht man Handwerkszeug. Und ein gewisses Ethos. In einer Zeit, in der viel über Fake-News gesprochen wird, in einer Gesellschaft, in der jeder einzelne Sender werden kann und Donald Trump dank Twitter ein eigenes Medien-Imperium geworden ist, sieht man: Eine unabhängige Instanz, die sich berufsmäßig mit den Fakten beschäftigt, oder mit dem, was da scheinbar als Fakt ausgegeben wird, ist dringender denn je. Zu den Medien noch etwas ...

Ja, bitte?

Die Schweizer haben darüber abgestimmt, auch in Österreich und Deutschland gibt es diese Diskussionen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sie hatten es ja auch in Ihrem Blatt. Und ich sage: Eine nicht privatwirtschaftliche, unabhängige mediale Angebotsdarreichung, die nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängt, muss es definitiv geben.

Und das bedeutet in Ihrem Fall?

Dass ich ein großer Fan des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens bin. Natürlich kann man diskutieren, ob die Öffentlich-Rechtlichen nicht sparsamer und effizienter arbeiten könnten, das ist legitim, das ist auch notwendig – aber man muss sich stets auch vor Augen halten, dass sich die Akteure einer sehr einfachen, populistischen Weltanschauung allesamt dieses mediale System als Feind ausgeschaut haben: „Systemmedien“, „Lügenpresse“, der ganze Kram, all diese Beschimpfungen zeigen ja erst, wie wichtig die verschiedenen wahrgenommenen medialen Aufgaben sind. Denn in Gesellschaften wie der unseren so viele Verschiedenheiten zu überbrücken – das geht nur in einer medialen Wirklichkeit, in der wir alle vorkommen und das, was ist, mit den vielen Facetten des Daseins zur Sprache kommt. Und diese Wirklichkeit stellt der öffentlich-rechtliche Rundfunk her. Das gilt nicht nur für ein Land mit der Größe Deutschlands, sondern auch für kleinere wie Österreich und die Schweiz. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist die Plattform, auf der die verschiedenen Realitäten und lokalen Identitäten dargestellt werden. Wir brauchen in der Zeit der zunehmenden Polarisierung Medien, die versuchen, die gesamte Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzubilden. Wir brauchen das. Ansonsten würden wir nur noch zu uns selbst sprechen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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