Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Pro & Contra: Sind die Klimakleber naiv?

Juni 2023

Gerold Strehle:

Sehr geehrter Herr Stadelmann, mit Beklemmung und Irritation lese ich Ihren Artikel „Klimapolitikforderungen: Naiv, ineffektiv und übertrieben?“ Ausgabe 88 des Thema Vorarl­berg.
Ihre Ausführungen fassen Sie mit der Aussage zusammen, dass […] klimanaive Forderungen nicht nur ärgerlich, sondern auch schädlich (seien). Sie bringen dem Weltklima praktisch nichts und tragen zum gesellschaftlichen Unfrieden bei. […]
Hmmmmh …
Also zuerst zum […] gesellschaftlichen Unfrieden […]: Die Demonstrationen der Suffragetten, der Salzmarsch von Mahatma Gandhi oder die Besetzung der Hainburger Au – mir sind in der jüngeren Geschichte keine Formen des zivilen Ungehorsams bekannt, die nicht auf legitime gesellschaftliche Forderungen abzielten. Die von Ihnen beschriebenen „Klimakleber“ sind Menschen mit Zivilcourage, die Respekt und Anerkennung verdienen.
Klimaschäden im […] Vergleich zur Wirtschaftsleistung [...]: Das Biotop der Ökonomen ist selbstverständlich die Welt der Zahlen. Sie führen aus, dass im Verhältnis zum BIP in Mitteleuropa die Kosten für Klimaschäden auf rund 1,5 Prozent geschätzt werden. So weit so gut. 
Die von uns verursachte Form der klimatischen Veränderungen führen zum Verlust von Lebensraum durch das Ansteigen der Meeresspiegel, die Versteppung von Ackerland, Verlust an Biomasse in den Ozeanen etc. Das bedeutet, dass Millionen Menschen nicht nur ihre Lebensgrundlagen, sondern auch ihren Lebensraum verlieren. Angesichts dieser Umbrüche im gesellschaftlichen Gesamtsystem und den daraus resultierenden Migrationsbewegungen finde ich es gewagt, eine aus der Weltwirtschaft herausgelöste BIP-Insel in der Kategorie „Wohlstand“ zu beurteilen.
[…] Lamentieren und Moralisieren bringt nichts. Die CO2-Emissionen Österreichs machen nun mal weniger wie 0,2 Prozent der weltweiten Emissionen aus. […] Als Indikator für erfolgreiches Klimamanagement sind in der Klimaforschung die Emissionen pro Einwohner von Relevanz – nicht die Gesamtmenge der Volkswirtschaft. Mit dieser Betrachtung stoßen wir plötzlich vom hinteren Mikro-Emittenten auf den stolzen 31. Platz (Quelle: datacommons.org) vor – noch vor dem Iran! 
[…] Besonders illustrativ für Klimanaivität sind die sogenannten „Klimakleber“ […] Die Forderungen der „Klimakleber“ nur auf ein Tempolimit und den Austritt von fossilen Energieträgern zu beschränken greift deutlich zu kurz. Viel mehr appellieren sie an die politischen Entscheidungsträger die Vereinbarungen des Pariser Klimaabkommens einzuhalten und die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen: Dazu zählen eben auch die EU-weit verordnete Senkung der CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent und bis 2050 um 100 Prozent. In diesem Sinne fordern die Aktivisten nichts anderes als die Umsetzung von EU-Richtlinien. Sie agieren sogar in vollem Einklang mit der übergeordneten europäischen Gesetzgebung.
Aus meiner respekt- und sorgenvollen Sicht der aktuellen Umstände stellen die ungewohnten Protestformen der diversen Klimaaktivisten keinerlei […] gesellschaftlichen Unfrieden […] wie von Ihnen beschrieben dar – im Gegenteil. Ich würde mir sogar noch eine breitere Beteiligung und mehr Vielfalt der Protestformen wünschen: Organisiertes innerstädtisches Radfahren, koordinierter Postkartenversand an die säumigen Institutionen, temporäre Begrünungsaktionen an Verkehrsknotenpunkten zum Ausgleich der CO2-Emissionen und noch vieles mehr …

 

David Stadelmann:

Sehr geehrter Herr Strehle, Klimaschutz ist ein legitimes gesellschaftliches Ziel. Genauso sind Forderungen nach Chancengleichheit, mehr Demokratie, besserer Gesundheitsversorgung, Wirtschaftswachstum und so weiter alles legitime Ziele. 
Die CO2-Emissionen in der EU und in den USA sinken seit rund 20 Jahren. Doch dieser Rückgang wurde vom Rest der Welt überkompensiert. Zu bezweifeln ist, ob die Regierungen mancher autokratischer Länder der Welt, die ihre eigenen Bürger oft unterdrücken, ein echtes Interesse an Klimaschutz für zukünftige Bewohner der Welt haben. 
Um den Klimawandel zu bremsen, müssten die weltweiten Gesamtemissionen sinken. Dazu bräuchte es eine effiziente Klimapolitik, die in möglichst allen Ländern umsetzbar ist und auch von Ländern wie China oder Russland und in Zukunft von vielen bevölkerungsreicheren Ländern Afrikas tatsächlich umgesetzt wird. Sonst wird das nix mit dem 2,0-Grad-Ziel – das „legitime“ 1,5-Grad-Ziel ist unrealistisch. Wer, wie die „Klimakleber“, im Stil einer Endzeitsekte das drohende Weltende beschwört, als eine öffentliche Hauptforderung ein Tempolimit auf Österreichs Autobahnen kommuniziert, hat die zugrundeliegende Problemstruktur des Klimawandels nicht verstanden und ist insofern naiv. 
Verschiedene gesellschaftliche Ziele hängen zusammen. Häufig gibt es Konflikte zwischen Zielen: So erfordert Armutsbekämpfung mehr Wirtschaftswachstum und dieses geht zumindest in armen Ländern derzeit mit mehr CO2-Emissionen einher. Die Reduktion der Armut fördert oft die (Chancen-)Gleichheit und verbessert die allgemeine Gesundheit. Seit den 1980er-Jahren ist der Anteil der in Armut lebenden Weltbevölkerung gesunken, die weltweite Einkommensverteilung wurde gleicher und die Lebenserwartung hat sich erhöht. Unabhängig vom Klimawandel wird erwartet, dass der Wohlstand, gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf, in den reichen Ländern bis zum Ende des Jahrhunderts um wenigstens 70 Prozent wachsen wird. In Entwicklungsländern dürfte der Wohlstand bei guter Politik sogar um mehr als 2000 Prozent wachsen.
Der fortschreitende Klimawandel reduziert möglicherweise den zu erwartenden zukünftigen Wohlstand. So schätzt eine aktuelle Auftragsstudie für das deutsche Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz die Klimaschäden im extremen Erwärmungsszenario ohne jegliche Anpassung auf rund 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2030 und auf rund 1,5 Prozent im Jahr 2050. Mit relativ wenig aufwändigen und ohnehin sinnvollen Anpassungsmaßnahmen fielen die Schäden auf unter 0,6 Prozent, und bei schwachem Klimawandel würden die Auswirkungen sogar positiv. Die legitime Forderung nach einer gewissen Anpassung an den Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten wäre daher grundvernünftig. 
Effizienter weltweiter Klimaschutz könnte die Schäden weiter reduzieren. Doch selbst wenn das weltweit nicht gelingt, sind die Schäden im Vergleich zum erwarteten Wohlstandswachstum und dem Potenzial guter Politik in vielen anderen Lebensbereichen klein. Wer den Klimawandel zum größten Problem der Menschheit macht, verletzt grundsätzliche Regeln von Nachhaltigkeit, Verhältnismäßigkeit und vernünftigem Abwägen von Nutzen und Kosten.

 

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