SOS – ein Dorf verschwindet
Juli 2023
Wer die Luftbilder von 2012 und 2015 der Dornbirner Parzelle Knieberg an der Achrainstraße nach Alberschwende vergleicht, wird feststellen, dass innerhalb dieses Zeitraums ein ganzes Dorf ausradiert wurde, das ursprünglich aus 16 Häusern und einem Gemeinschaftszentrum bestanden hatte. Da 2014 das bis dahin dort ansässige SOS-Kinderdorf-Dornbirn nach 48 Jahren seine Pforten endgültig schloss, wurde das attraktive Grundstück oberhalb von Dornbirn an heimische Bauträger verkauft, die ursprünglichen Gebäude allesamt abgerissen und das Gelände sofort anderweitig genutzt. Nur der öffentliche Kindergarten Dornbirn-Knie erinnert heute noch ein wenig an die damalige Verwendung.
Am 26. Juni 1966 herrschte in Vorarlberg große Freude darüber, dass nun endlich auch im Heimatland von Hermann Gmeiner, dem Gründer der SOS-Kinderdörfer, ein eigenes Dorf eröffnet werden konnte. Bei strömendem Regen ließen es sich über 3000 Menschen nicht nehmen, an der feierlichen Eröffnung teilzunehmen. Es waren so viele Menschen gekommen, dass sämtliche Straßen im Umkreis bis hinunter nach Haselstauden überfüllt waren. Zur feierlichen Einweihung waren neben der interessierten Bevölkerung auch zahlreiche Ehrengäste aus Politik, Kirche und Militär erschienen. Die Weihe des Kinderdorfes nahm Monsignore Hilarion Capucci, Vertreter der griechisch-katholischen Kirche und Bischof von Jerusalem, vor und kündigte bei der Gelegenheit den Bau einer ähnlichen Einrichtung in Israel an. Die Festfolge, die stark vom schlechten Wetter beeinträchtigt war, sah Reden der Bürgermeister von Imst (Standort des ersten SOS-Kinderdorfs), Alberschwende (Heimatort von Hermann Gmeiner) und Dornbirn vor. Im Zentrum stand allerdings die Rede von Hermann Gmeiner, der bei dieser Gelegenheit die vier Prinzipien des SOS-Kinderdorfs erläuterte:
›› Den verlassenen Kindern eine Mutter geben: die SOS-Kinderdorfmutter ist der Mittelpunkt der Familie. Sorgfältige Vorbereitung soll den Frauen ein hohes Maß an erzieherischer Qualifikation und Kenntnisse in der Haushaltsführung einer Großfamilie verleihen.
›› Den Kindern anstelle Gleichaltriger Geschwister geben: in einer Kinderdorffamilie leben durchschnittlich fünf bis sieben Kinder nach dem Prinzip der Geschwisterlichkeit zusammen wobei leibliche Geschwister auf jeden Fall zusammenbleiben können.
›› Den Kindern ein geborgenes Heim ermöglichen: jede Familie bewohnt ein eigenes Haus. Die Kinder helfen bei Haushaltsarbeiten mit und erlernen so Grundlagen für ein eigenständiges Leben. Die Wohnstube ist von zentraler Bedeutung, da sie der Treffpunkt der Familie ist.
›› Den Kindern ein Zusammenleben in einer Dorfgemeinschaft ermöglichen: das SOS-Kinderdorf soll eine Brücke zur Umwelt sein und sich nicht von der Umgebung abschotten. Daher besuchen die Kinder auch die umliegenden öffentlichen Schulen und sind in den Lebensraum der Gemeinden eingebunden.
Im Rahmen der Feier wurden zahlreiche Urkunden übergeben, da spendable Vorarlberger und sogar eine Lisa v. Hunter aus Kalifornien Häuser gestiftet und Patenschaften übernommen hatten. In seiner abschließenden Rede nannte der Dornbirner Bürgermeister Karl Bohle – dem damaligen Zeitgeist entsprechend – Dornbirn-Knieberg den „Berg der Verpflichtung“, sowohl für die Kinder „die sich folgsam und fleißig verhalten sollen, wie auch für die Erwachsenen, die sich um die Kinder anzunehmen haben.“
Die Eröffnung des ersten SOS-Kinderdorfes hat in Vorarlberg damals so viel Interesse geweckt, da Hermann Gmeiner sich hierzulande großer Beliebtheit und Bekanntheit erfreute. Er wurde am 23. Juni 1919 in Alberschwende geboren und wuchs in einer großen Familie auf. Da seine Mutter bereits 1923 sehr früh verstarb, übernahm seine Schwester Elsa für die acht Geschwister die Mutterrolle. Nach dem Kriegseinsatz begann er 1947 ein Medizinstudium in Innsbruck und wurde dabei mit zahlreichen Flüchtlingskindern und Kriegswaisen konfrontiert. Im Wissen, dass die bis dahin üblichen Waisenhäuser keine befriedigenden Lösungen anbieten können, entwickelte er die Idee, dass in einer dörflichen Struktur Familien mit einer Kinderdorf-Mutter mit sieben oder acht Kindern die fehlende Familie ersetzen sollen. 1949 entschloss er sich, sein Leben ganz in den Dienst dieser Idee zu stellen und gründete den Verein Societas Socialis, kurz SOS, nicht zu verwechseln mit dem internationalen Notrufsignal „SOS-Save our souls“. Nachdem sich erste Spender seiner Idee anschlossen und die Gemeinde Imst kostenlos ein Grundstück zur Verfügung stellte, entstand 1949 in Tirol das erste SOS-Kinderdorf (Haus Frieden), Keimzelle einer weltweiten Organisation, die heute in 138 Ländern 555 Dörfer betreibt, in denen über 60.000 Kinder betreut werden können.
Während das Kinderdorf in Imst noch heute besteht, wurde in Dornbirn 2012 der für viele schmerzhafte Entschluss gefasst, das SOS-Kinderdorf aufzulassen. Innerhalb von zwei Jahren wurde die Anzahl der betreuten Kinder sukzessive reduziert, 2014 die Anlage endgültig geschlossen und das fast 20.000 Quadratmeter große Grundstück verkauft. Während zeitweise mehr als 100 Mädchen und Buben, vom Kleinkindalter bis zum Eintritt in die Lehre, im Dornbirner Dorf wohnten, sank der Bedarf nach Plätzen später immer mehr. Die sinkende Nachfrage war vor allem im veränderten Konzept der Jugendwohlfahrt begründet, in dem der ambulante Bereich wohl auch aus Kostengründen an Bedeutung gewann. Dessen Ziel ist es, die Kinder so lange wie möglich in den Herkunftsfamilien zu belassen. Da dieses neue Konzept in Vorarlberg schon sehr früh angewandt wurde, nahmen immer weniger heimische Kinder das Angebot in Anspruch, was dazu führte, dass zuletzt fast 80 Prozent der Kinder im Dornbirner Dorf aus anderen österreichischen Bundesländern stammten. Aber auch dieser Zustrom endete, da vielerorts in Österreich Landtagsbeschlüsse die Unterbringung außerhalb des eigenen Bundeslandes verboten. Grund für einen Überfluss an Plätzen war auch das ähnliche Angebot des „Vorarlberger Kinderdorfs“ in Bregenz-Kronhalde, das es damals schon gab und auch heute noch gibt. Ganz zurückgezogen hat sich allerdings SOS-Kinderdorf aus Vorarlberg nicht, so werden weiterhin in Bregenz und Dornbirn Wohngruppen für Jugendliche angeboten, sowie betreutes Wohnen in Bregenz, wo auch minderjährige Flüchtlinge professionelle Hilfe und ein neues Zuhause finden.
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