Kerstin Faber

Planerin und Urbanistin, ist spezialisiert auf die Entwicklung neuer Raumbilder und Gestaltungsprozesse. 

Stadt Land – Mehr Selbstbewusstsein für regionale Kooperationen

März 2020

Komplexe gesellschaftliche Veränderungen bewirken, dass in vielen ländlich geprägten Regionen nicht nur weniger Menschen leben; auch das Verhältnis zwischen Alten und Jungen gerät hier stärker aus dem Lot. Vor diesem Hintergrund entstehen regionale Kooperationen zwischen Stadt und Land, die durch Vernetzung Ressourcen bündeln. Sie engagieren sich für Mobilität, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Soziales und stiften durch den kollektiven Gestaltungsprozess neuen Gemeinsinn. Das bindet nicht nur Menschen stärker an die Region, es fördert durch die Organisation von Wissen und Teilhabe auch das demokratische Verständnis und Selbstbewusstsein vor Ort. Dies ist umso wichtiger, je polarisierender die räumlichen Entwicklungen sind. Ein Blick nach Deutschland ins Umfeld der Internationalen Bauausstellung (IBA) „Stadtland Thüringen“ – als Vorspann zum Kongress „LandStadt Vorarlberg“.

StadtLand als regionale Kooperation

Eine Region, die ihr kulturelles Leben mitgestaltet, bietet ihren Bewohner*innen einen Grund zu bleiben. Mit dieser Überzeugung arbeiten im brandenburgischen Ort Klein Leppin, etwa 80 km von Berlin entfernt, Akteure aus Stadt und Land an dem Projekt „Dorf macht Oper“. Seit 2003 engagieren sich Sänger*innen aus Hochschulen, Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und der Klein Leppiner Opernchor gemeinsam mit den Bewohner*innen der Region für das jährliche Festspiel. Als Opern- und Festspielhaus dient ein ehemaliger Schweinestall, weitere Bühnen befinden sich auf der angrenzenden Wiese. Organisiert werden die Aktivitäten vom Verein FestLand e.V., der aus dem 60-Einwohner*innen-Dorf heraus das kulturelle Stadt- und Landnetzwerk koordiniert. Der Gewinn liegt in der Belebung des Gemeinwesens durch den inklusiven Realisierungsprozess: Er beginnt jeweils im Januar mit den ersten Proben, gefolgt von einer Opernwerkstatt für Kinder an Ostern sowie verschiedenen Projekten, die auf die Aufführung im Sommer einstimmen. Etwa 200 Aktive sind jährlich vor Ort involviert; wer nicht auf der Bühne steht, hilft als Kostümbildner, Bühnenbauer oder beim Catering. Mit den Inszenierungen werden aktuelle Gesellschaftsthemen aufgegriffen und verortet. Im Jahr 2016 wurde „Don Quijote“ gemeinsam mit syrischen Flüchtlingen umgesetzt, im Jahr 2019 ging man mit der „Schöpfung“ von Joseph Haydn den Fragen nach der Rolle des Individuums in der Gesellschaft nach. Was hier als Oper inszeniert wird, sind globale Themen, die auf die lokale Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort treffen und mittels Musiktheater neu verhandelt werden. Über die Jahre hinweg haben sich so neue Sichtweisen und Beziehungen in der Region entwickelt, die Selbstwirksamkeit vor Ort befördern. Mehr noch: Durch den wiederkehrenden jährlichen Austausch und die Teilhabe am Prozess entstehen nachhaltige soziokulturelle Bindungen, die mehr Lebensqualität – und damit auch Zukunft für den Raum – bedeuten. 
Ein Beispiel im Thüringer Wald zeigt, wie aus einem ehrenamtlichen Kulturengagement von Wenigen ein breitenwirksames regionales Engagement von Vielen wurde. Der Verein Provinzkultur e.V. in Suhl gestaltet hier seit Anfang der 2000er Jahre mit unterschiedlichsten Projekten den demokratischen und kulturellen Austausch über nationale, konfessionelle und politische Grenzen hinweg. Gemeinsam mit anderen Kulturträgern arbeitet er in den Bereichen der Breitenkultur, integrativer Maßnahmen sowie generationsübergreifender Kommunikations- und Kulturangebote. Dazu gehört auch die Förderung der Schreib- und Lesefähigkeiten vieler Bevölkerungsteile. Höhepunkt der Aktivitäten stellt das Kunst- und Literaturfestival „Provinzschrei“ dar, das jährlich von September bis November stattfindet. Hier treten die Größen der deutschen Literatur genauso auf wie lokale Künstler. Mit dem Erfolg der Kulturveranstaltungen in der Stadt und der Unterstützung aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft vor Ort begann der Verein in den letzten Jahren seine Aktivitäten sukzessive in die gesamte Region auszuweiten. So fanden bereits 2013 in insgesamt 15 Gemeinden 123 Veranstaltungen statt, an denen über 8000 Menschen teilnahmen. Das Kulturnetzwerk wuchs auf über 120 Partner aus allen gesellschaftlichen Bereichen und hat sich zum größten Kulturfestival in Süd- und Mittelthüringen entwickelt. 
Um diese zumeist ehrenamtliche Arbeit durch ein Hauptamt zu unterstützen, fördert der Freistaat Thüringen Leitungskräfte freier Kulturarbeit mit regionaler oder vernetzender kulturpolitischer Wirkung und Projektumsetzungen mit überregionaler Bedeutung. Diese Form der Unterstützung ist ein politisch wichtiges Zeichen, dass sich der Staat nicht aus dem ländlichen Raum zurückzieht. Ein Ausbau und eine Verstetigung dieser Form von Unterstützung, weg von der befristeten Projektförderung hin zu einer verstetigten Personalförderung, wäre wünschenswert und wird nicht nur im Kulturbereich immer wieder angesprochen. Denn die Gestaltung von mehr Lebensqualität in ländlichen Regionen hängt von nachhaltig arbeitsteiligen Strukturen und der Schaffung von Synergien ab. Dazu müssen einerseits räumlich konkurrierende Interessen und Verantwortlichkeiten berücksichtigt, andererseits diese durch den Aufbau neuer Partnerschaften überwunden werden. Zivilgesellschaftliche Akteure stoßen dabei nicht selten an ihre Grenzen und verbringen mitunter Jahre im Aufbau der Projekte. Nicht wenige geben zwischenzeitlich auf. Erfolgreich sind vor allem die Kooperationen, die neue Synergien zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat aufbauen und die Verantwortung für die Regionalentwicklung teilen.

StadtLand als kulturpolitische Herausforderung

Der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre hat in den 1970er Jahren einen sehr feinen Unterschied des Urbanisierungsprozesses formuliert, und zwar den zwischen Urbanisierung und urbaner Gesellschaft:
„Die Urbanisierung ist ein Prozess, der mit der Industrialisierung verbunden ist und eine grundlegende Veränderung der Lebensbedingungen der Menschen mit sich bringt. Dies bedeutet indessen nicht, dass daraus notwendigerweise auch eine urbane Gesellschaft hervorginge. Das Urbane ist vielmehr eine Möglichkeit, ein Potential, das in der Urbanisierung angelegt ist, das zu seiner Verwirklichung aber grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen bedarf – einer urbanen Revolution.“
(Arch+ 228, Schmid 2017: 27)
Parallel zur fortschreitenden Urbanisierung bestehe das Ländliche, das Industrielle und das Urbane als soziale Formationen überlagernd fort. Und hier liegen die kulturpolitischen und raumstrukturellen Herausforderungen.
Vor diesem Hintergrund erprobt die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen – ein über zehnjähriges Planungs- und Baukulturformat mit Abschluss im Jahr 2023 – einen sogenannten „Ausnahmezustand auf Zeit“, der unter dem Motto „StadtLand“ neuen urbanistischen Ansätzen nachgeht. Hier wird an der Schnittstelle von lokal und global, Stadt und Land, urban und rural gearbeitet. Etwa 30 Vorhaben begleitet das Team der IBA mit ihren Partnern im gesamten Freistaat und versucht, mittels Architektur-, Kultur- und Landschaftsprojekten beispielhaft Antworten auf gesellschaftliche und räumliche Fragestellungen zu finden. Im Vordergrund stehen kooperative Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit und die Verbesserung der Lebensqualität gepaart mit einem innovativen Gestaltungsanspruch. So wird beispielsweise gemeinsam mit Landwirten und dem Künstlerhaus Thüringen e.V. an Antworten auf die Frage gearbeitet, wie man gute Landwirtschaft les- und erlebbar macht. Mit der Projektfamilie „Arrival StadtLand“ wird der Frage nachgegangen, wie Menschen mit Migrationshintergrund eine neue Perspektive auch in peripheren ländlichen Regionen finden. Mit dem Projekt „StadtLandSchule“ wird mit der Bonner Montag Stiftung nicht nur ein breiter partizipativer Entwicklungsprozess ermöglicht und eine neue Schulform realisiert, sondern auch das Wissen als „Schulbau Open Source“ zur Verfügung gestellt. Und mit der „Open Factory“ im lange Zeit leer stehenden Egon-Eiermann-Bau wird erprobt, wie Stadt und Land die Ikone der Moderne in Apolda kooperativ und nachhaltig aktivieren können. Initiatorin des Vorhabens, Entwicklerin und erste Mieterin: die IBA Thüringen selbst. 
Mit Blick auf das Thema demografischer Wandel setzt sich die IBA Thüringen auch mit der Entwicklung der Daseinsvorsorge, insbesondere der Pflege- und Gesundheitsversorgung, auseinander. Neue Governancestrukturen sind gefragt, um die Herausforderungen dieses Wandels zu bewältigen. Das IBA Vorhaben „Landengel“ steht hier Modell für ein neues Vorsorgekonzept, in dem zivilgesellschaftliches Engagement in Form des Vereins Landengel mit gemeindlicher Verantwortung und gesundheitswirtschaftlicher Versorgung verknüpft wird. Räumlich entsteht ein zentrales Landambulatorium mit dezentralen Gesundheitskiosken als Beratungs- und Vorsorgeplattformen in der Region.
Die IBA ist damit auch ein Vermittlungs-, Vernetzungs- und alternatives Gestaltungsangebot für die Auseinandersetzung mit den Lebenswirklichkeiten der Menschen in der Region. Hier wird gemeinsam raumbezogen Wissen generiert, diskutiert, verhandelt und umgesetzt. Die Erfahrungen aus den Prozessen werden durch die IBA reflektiert und auf politische Ebene rückgekoppelt. 

StadtLand als Zukunftsmodell

Die Zukunft von Räumen abseits großer Zentren liegt im Aufbau regionaler Kooperationen. Regionale Kooperationen wirken als zivilgesellschaftliches Labor für die Zukunftsfähigkeit von Gemeinschaften. Sie fördern einen Austausch zwischen den vermeintlichen Polen und stärken damit gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie unterstützen die lokale, zwischenmenschliche Kommunikation und das Gefühl für wechselseitige Verantwortung und Zusammengehörigkeit. Mit ihren Projekten gestalten regionale Kooperationen neue soziale Orte und können Basis für wirtschaftliche und politische Entwicklungen werden. Dies alles erfordert nicht nur ein kooperatives Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft, Staat, und Wirtschaft, auch die Zersplitterung in eine Vielzahl unabhängiger, oft konkurrierender Räume, Interessen und Verantwortlichkeiten muss überwunden werden. Arbeitsteilig zu handeln, Synergien und Ressourcen gemeinsam zu nutzen, Wissen zugänglich zu machen, gleichzeitig ein hohes Maß an Eigenverantwortung zuzulassen und nachhaltig zu fördern, wäre eine Chance – vor allem für strukturschwächere Regionen.

www.iba-thueringen.de

 

 

Zur Person Kerstin Faber

Planerin und Urbanistin, ist spezialisiert auf die Entwicklung neuer Raumbilder und Gestaltungsprozesse. Sie ist Expertin für die Internationalen Bauausstellungen IBA Stadtumbau 2010 (Sachsen-Anhalt) zum Thema Schrumpfende Städte und IBA StadtLand (Thüringen) zum Thema Rurbanismus. Sie war Dozentin für Internationalen Städtebau am KIT in Karlsruhe, ist Publizistin u.a. zum Thema Raumpioniere und aktuell Projektleiterin der IBA Thüringen. Am 31. März spricht sie beim Kongress „LandStadt“ im Festspielhaus Bregenz. 

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