Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Tourismusland Vorarlberg? Segen und Elend einer Branche

Mai 2017

Ein Landeshauptmann über Wirte, die „um des Gelderwerbes willen alles dulden …“

Vorarlberg galt über Jahrzehnte als „Textilland“. Das ist vorbei. Heute ist manchmal zu hören, Vorarlberg sei ein „Tourismusland“. Hinter solchen Phrasen beziehungsweise Bildern wie jenen vom Textilland oder Tourismusland steckt die begreifliche Sehnsucht, man könne etwas aus einem einzigen Phänomen heraus erklären, zumal dann, wenn es sich um eine vermeintliche Erfolgsgeschichte handelt. Nun ist das Textilland Vorarlberg in Folge des Niedergangs der Textilproduktion Geschichte – und es darf als einer der größten Erfolge in dieser Geschichte verbucht werden, die behauptete Abhängigkeit überwunden zu haben.

Auf den ersten Blick ist auch die Geschichte des Tourismus eine Erfolgsgeschichte. In der Geschichte – nicht nur Vorarlbergs – wurde er als beinahe einzige Chance für jene alpinen Bergtäler begriffen, die aufgrund ökonomischer Umstrukturierungen von Abwanderung und gar Entvölkerung bedroht waren. Und selbstverständlich war das auch der Fall. Nicht nur viele Wirte ergriffen in den abgelegenen Bergdörfern die Chance, mit der steigenden Zahl an Gästen aus dem In- und Ausland ein Geschäft zu machen; auch viele Landwirte und vor allem ihre Frauen schufen sich mit der Zimmervermietung und dem Aufbau zunächst von Pensionen eine größere Unabhängigkeit von der finanziell wenig einträglichen Landwirtschaft. Seit Jahrhunderten war ein beträchtlicher Teil der inneralpinen Bevölkerung gezwungen gewesen, ihre Heimat zu verlassen, um entweder eine Saisonarbeit anzunehmen, oder um dauerhaft sich anderswo, wo es Beschäftigung gab, anzusiedeln. Erst der ansteigende Fremdenverkehr ermöglichte einer wachsenden Zahl, neue Arbeitsplätze anzunehmen. Die entstehende Tourismusbranche innerhalb des Dienstleistungssektors wurde zwar indirekt durch den Bahnbau und die bessere Erschließung der Alpen durch den Straßenbau befördert, doch eine öffentliche Förderung blieb, wie um 1909 im „Staatswörterbuch“ formuliert wurde, der österreichisch-ungarischen Staatsverwaltung „bis auf die neueste Zeit fremd“. Der erste Fremdenverkehrsverein der Monarchie entstand 1871 in Bregenz, erst 1879 bildete sich das Grazer Fremdenverkehrskomitee und 1881 der Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs in der Steiermark. Den alpinen Vereinen, insbesondere dem Alpenverein, kam bei den Bemühungen, den jungen Wirtschaftszweig zu fördern, eine besondere Bedeutung zu. Aber auch das Eisenbahnministerium spielte bei den Bemühungen, überregionale Verbände zu gründen, die die spezifischen Interessen der Fremdenverkehrswirtschaft vertraten, eine große Rolle. Zahlreiche Lokalvereine machten den Anfang, sechs von ihnen schlossen sich 1893 zum Landesverband für Fremdenverkehr zusammen.

Neben den Verbesserungen in der Verkehrsinfrastruktur trug vor allem das Aufkommen des Bergtourismus und des Wintersportes zum Anwachsen der Fremdenverkehrswirtschaft bei. Die Frage, wie und in welchem Maße die Fremdenverkehrswirtschaft zu fördern sei, wurde durch große Umstrukturierungen der Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit bedeutungsvoll. Landeshauptmann Otto Ender musste sich 1929 im Landtag rechtfertigen, er bringe „nicht genügend Verständnis für die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fremdenverkehrs“ auf. Das Land Tirol, so der Vorwurf des Vorarlberger Tagblattes, sehe für 1929 „nicht weniger als 103.000 S“ für den Fremdenverkehr vor, Vorarlberg dagegen nur „einen Bruchteil dieses Betrages“. Ender zerpflückte diesen Vorwurf, indem er darauf hinwies, dass Tirol Unsummen für ein eigenes Landesamt für Fremdenverkehr und für dessen Vertretungen in Lienz, Nürnberg, Prag, Berlin, Hannover und Wien ausgebe. Ender bezweifelte die Sinnhaftigkeit dieser Vertretungen und plädierte dafür, Österreich im Ausland insgesamt zu repräsentieren. Damit könnte „großzügiger und rationeller“ gearbeitet werden. Er plädierte dafür, „dass es weitaus das Wichtigste in der Fremdenverkehrswerbung für Vorarlberg ist, dass wir für einen richtigen Hochstand unserer Gaststätten sorgen. Es ist und bleibt die wirksamste Fremdenverkehrsförderung in Vorarlberg“.

Der Landeshauptmann kam postwendend auf die Schattenseiten des Tourismus zu sprechen, die schwerwiegenden Gefahren und Bedrohungen, die er mit sich bringe beziehungsweise mit denen er „naturgemäß verbunden“ sei: „Der Fremdenverkehr ist nicht Selbstzweck.“ Das wichtige Einkommen, „teils Haupteinkommen, teils Nebeneinkommen“, das die Bevölkerung im Tourismus verdiene, müsse die Schäden überwiegen, verursacht durch problematische Gäste: „Gesindel, wenn es auch aus höheren Kreisen kommt, aber doch diesen Namen Gesindel verdient, Gesindel, dem unsere Mädchen nur ein Freiwild sind. Es sind Schäden, wenn solche abgelebte Berliner Damen herkommen, die sich schon voll gesättigt haben an den Genüssen, die in der Großstadt zu haben sind und ihre Freude nur noch an den gesunden echten Vorarlberger Bauernburschen haben und glauben, er sei nur für sie ein Lustobjekt und nur dazu da, dass sie ihn genießen können. Das sind nicht Erscheinungen, die ich aus der Luft gegriffen habe, sondern Erscheinungen, die auf unserem Boden wachsen und gedeihen, die aufs höchste bedauerlich sind, wenn sie nicht vereinzelt blieben, wie sie heute sind, was ich hoffe und wünsche, sondern an Ausdehnung gewinnen würden, die dann wahrhaftig mehr Schaden brächten, als in einem finanziellen Vorteil des Fremdenverkehres Gewinn sehen würde.“

Landeshauptmann Ender wollte seine Ausführungen als „Warnung“ verstanden wissen und das „richtige Bewußtsein [sic]“ davon wecken, „welche Kraft und Stärke in ihrer Gesundheit, in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer Volkstümlichkeit, in ihrer Religion und Sittlichkeit liegt, beim Bewusstsein, daß sie eine Ehre hat, eine Volksehre, eine Vorarlberger Volksehre.“ Es gäbe Vorarlberger Wirte, die „um des Gelderwerbes willen alles dulden und jedes Mittel für recht finden. Solche Gastwirte verurteile ich und ich muß da auch die Gemeindevorstehungen im ganzen Lande und die Gendarmerie an ihre Pflicht gemahnen. Es darf bei uns nicht einreißen, dass man in Dörfern, wo halbwegs ein Fremdenverkehr ist, nackt oder halbnackt herumläuft.“ Darum müssten derartige Erscheinungen „unterdrückt werden, und wenn notwendig auch mit Gewalt“. Es gehe nicht, dass man überall „die wilde Sauferei“ dulde, das sei nicht im Interesse „unserer Fremdenverkehrsorte“.

Alois Knecht, der Pfarrer von Warth allerdings, der sich beim Landeshauptmann wegen einer unsittlichen Wirtin beschwert hatte, belehrte Ender 1931: „Es gibt noch sehr viele Geistliche im Lande und auch sehr viele Laien, die gar nicht darüber im Klaren sind, dass unseren Bergdörfern durch eine zu starke Förderung des Fremdenverkehres eine soziale Wohltat erwiesen wird.“ Allerdings betonte Ender auch dem Pfarrer Knecht gegenüber, man sehe, „wie schwer durch den Fremdenverkehr die Aufrechthaltung einer gesunden religiösen Auffassung im Volke wird, wie manche Gefahren für die Sittlichkeit des Volkes damit verbunden sind“. Es sei nicht zu erwarten, „dass das Kennenlernen von Reichtum und oft ziemlich verantwortungslosem Geldausgeben die soziale Zufriedenheit etwa fördere“.

Die Mikro- und Mentalitätsgeschichte des Tourismus in Vorarlberg ist noch ungeschrieben. Dazu gehört nicht nur die legendäre Hoteliersgattin aus Lech, die außerhalb der Saison Arbeitslosenbezüge beanspruchte, sondern auch die hemmungslose Neigung vieler Orte, jene Landschaft, wegen der einstmals die Gäste große Strapazen der Anreise auf sich nahmen, durch vielfältige Einsätze, die allesamt der Umsatzsteigerung dienen sollen, zu zerstören. Die Gefahren, die der Landeshauptmann Ender sah, waren vergleichsweise eher harmlos.

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