Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Über die Helden der Demokratie – und die Gefahr des sozialen Todes

November 2021

Philosoph Dieter Thomä (58) sagt im Interview, dass der Populismus und die Verrohung der Sitten zur inneren Aushöhlung der Demokratie beitragen würden. Gefragt seien nun demokratische Helden. Ein Gespräch über die Frühaufsteher der Geschichte, Ächtung und Ausgrenzung – und das „besonders gravierende Beispiel Österreich“.

Herr Thomä, Sie sagen, die Demokratie befände sich in ihrer tiefsten Krise seit 1945. Warum? Weil die Verächtlichmacher der Demokratie in jedem Fall lauter sind als deren Verteidiger?
Ja. Die Bedrohung von zwei Seiten, von außen und von innen, kann zu einer Krise der Demokratie führen. Die Bedrohung von außen, durch autoritäre Regime, die hat es immer schon gegeben. Was die heutige Krise aber zusätzlich dramatisch macht, ist die Bedrohung von innen: Die Auflösung der Begeisterung, der Niedergang der Begeisterung für die Demokratie. Das ist wesentlich. Denn Demokratie ist ja nichts Starres. Demokratie ist ein lebendiger Prozess, sie steht und fällt mit der Teilhabe und Mitwirkung der Menschen. Und jene Menschen, die heute aktiv sind, setzen sich eher über demokratische Prozesse hinweg, sie gehen eher auf die Straße, um die Gesprächsfähigkeit zu untergraben. Es sind die populistischen Bewegungen und es ist die Verrohung der Sitten, die zu dieser inneren Aushöhlung der Demokratie beitragen. Mir macht das große Sorgen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: In uns Menschen stecke ein unstillbares Bedürfnis nach Helden, und gesucht seien demokratische Helden. Gerade jetzt, gerade in dieser Situation?
Die Demokratie hat sich immer schwer getan mit diesem Erbe des Heroismus und des Heldentums. Und die postheroische Gesellschaft wird häufig mit der Demokratie identifiziert. Denn damit ist die Vorstellung verbunden, dass wir in einer Demokratie nicht mehr auf einzelne  herausstechende Figuren angewiesen sind. Vielmehr gibt es Prozesse, an denen viele Menschen beteiligt sind und rechtliche Regelungen, die dafür sorgen, dass der Laden läuft. Ich halte es aber für eine große Lebenslüge der Demokratie, dass sie über das Heldentum hinweggekommen sein will. 

Eine Lebenslüge? Warum?
Das hat zwei Gründe. Erstens glaube ich tatsächlich, dass es auf Dauer ein bisschen öde und vielleicht sogar bedrückend ist, immer nur mit sich selbst und mit seinem kleinen Ich zu tun zu haben. Da hat die Vorstellung, über sich hinauszuwachsen, sich zu überwinden, doch etwas ungemein Inspirierendes – eine Vorstellung, die sich dadurch ergibt, dass wir Menschen sehen, die Besonderes leisten. Und zweitens gibt es neben diesem individuellen Motiv auch noch die politische Lage, die Heldentum zu einem unverzichtbaren Element in einer Demokratie macht. Denn die Demokratie befindet sich eben in einer Krise. Also brauchen wir Menschen, die sich für sie schlagen, die sich für sie einsetzen, weil die Vorstellung, wir könnten in einer Art Komfortzone leben, einfach irrig ist. Demokratie sollte ein positives Verhältnis zu einem neu gedachten Heldentum entwickeln. Und wäre die Demokratie in einer besseren Verfassung, würde sie Helden auch selbstbewusst willkommen heißen.

Ich nenne Helden gerne die Frühaufsteher der Geschichte.

Aber sind denn Helden wirklich noch zeitgemäß – und nicht vielmehr Relikte überwunden geglaubter Zeiten?
Gerade im deutschsprachigen Raum ist Heldentum besonders eng mit militärischen Führern und mit Krieg verbunden. In anderen Ländern ist das nicht so. Zwar werden beispielsweise auch in Frankreich und in den USA militärische Heldentaten bewundert, aber letzten Endes denkt man dort, wenn man von Helden spricht, eher an Freiheitshelden. Das ist bei uns eben nicht so. Auf dem Heldenplatz in Wien stehen keine Statuen von Freiheitshelden, da stehen die Statuen von Generälen und Monarchen. Diese Fixierung des Heldentums auf das Militär und auf den Krieg aber erschwert den unvoreingenommenen Blick auf das Heldentum heute. Dieses Erbe verstellt den Blick darauf, dass es eben auch im zivilen Leben und in politischen Kämpfen Helden gegeben hat, die nicht Leben nehmen, sondern Leben retten wollten. Wenn ich von einem zeitgemäßen Heroismus spreche, dann geht es mir also nicht um die Ehrenrettung von Kriegshelden, sondern genau um das Gegenteil.

Trotzdem. Helden polarisieren. Sie formulieren in Ihrem Buch ja selbst den Satz „was dem einen sein Held, ist dem anderen sein Unhold“ …
Das ist ein Phänomen des Pluralismus. Wir leben in einer Welt, in der eigentlich die Regel gilt, dass jeder nach seiner Façon leben kann, dass jeder seine eigenen Prioritäten setzt. Es ist das kostbare Gut der individuellen Freiheit, das wir damit ehren. Aber Heldentum steht für etwas, das weit über den Individualismus hinausreicht. Helden widmen sich einer Sache, die größer ist als sie selbst. Es kann sich in unserer an der Individualisierung orientierten Demokratie zwar jeder seine Privathelden in Gartenzwerggröße zurechtbasteln. Aber daneben gibt es, weil in einer Demokratie gemeinsame Ziele geteilt werden, eben auch Helden, die eine integrative Wirkung haben. Die nicht nur Privatheld sind, sondern Gemeinschaftsheld. Die als solche eine gewisse Sogkraft entwickeln. Ich nenne Helden gerne die Frühaufsteher der Geschichte, weil sie früher und ausgeprägter als andere spüren, was in der Luft liegt und sich aus der Deckung wagen. Und damit auch eine große Anziehungskraft und eine Vorbildfunktion bekommen. Wir brauchen in der Demokratie diese einigende Kraft.

Die Frühaufsteher der Geschichte? Ein guter Ausdruck!
Nichts wurde jemals getan, ohne dass einer als Erster es tat. Dieser Satz ist von John Stuart Mill, es ist einer meiner Lieblingssätze. Weil in diesem Satz so schlagend wird, dass jemand vorausgeht, in unbekanntes, unerschlossenes Gelände, und noch nicht genau weiß, wie die Chose ausgeht. Helden setzen sich für eine große Sache ein, sie exponieren sich, sie setzen sich einer Gefahr aus. Natürlich denkt man da zuallererst wieder an den Krieg, in dem die Gefahr am greifbarsten ist, aber es gibt ja auch Gefahrensituationen anderer Art. Es gibt ja nicht nur so etwas wie den physischen Tod, es gibt auch – wie das Sozialwissenschaftler und Historiker nennen – so etwas wie den sozialen Tod. 

Den sozialen Tod?
Ächtung. Ausgrenzung. In ein gesellschaftliches Niemandsland abgeschoben und damit gewissermaßen unsichtbar gemacht. Wenn jemand als Erster etwas tut, macht er sich damit automatisch erst einmal zu einem Einzelgänger, zu einem Außenseiter. Häufig reagiert die Menge darauf abweisend. Aber gleichzeitig geht davon eine enorme Verführungskraft aus. Menschen bringen dann gewissermaßen eine Geschichte mit nach Hause, die keiner sonst erzählen kann, sie sagen, „da draußen, da liegt etwas in der Luft, vielleicht kommst Du auch einmal mit und begibst dich aus der Gewohnheit heraus“. Und diese Gefahrensituation, in der man seine eigenen Grenzen, seine eigenen Gewohnheiten zu überwinden sucht, ist etwas, das nicht einfach nur mit Angst, sondern auch mit Lust verbunden sein kann. Es gibt die Lust daran, die eigenen Grenzen auszutesten. Und entsprechend gilt dann eben auch, dass man manchmal, wenn man etwas tut, es als Erster getan hat. Jeder Schritt vorwärts bringt die Gefährdung eines Standpunkts, die Verschiebung der Balance, die Überschreitung einer Grenze.

Apropos. In Österreichs scheinen Politiker Grenzen immer öfter, immer massiver zu überschreiten. Ein demokratischer Held ist in unserem Land allerdings weit und breit keiner in Sicht …
Helden überschreiten Grenzen. Aber nicht jeder, der Grenzen überschreitet, ist auch gleich ein Held. Ich wohne in der Schweiz, kann Österreich also nur von außen beurteilen. Aber ich glaube, dass Österreich ein besonders gravierendes Beispiel dafür ist, dass man es sich seit langer Zeit in einem Modell von Regierung eingerichtet hat, in dem man sich wie in einem spätfeudalen System arrangiert, sich gegenseitig etwas zuschiebt und davon profitiert, dass Entscheidungen oft hinter geschlossenen Türen gefällt werden. Das aber führt zu einem Zerrbild von Demokratie, weil Demokratie mit Öffentlichkeit steht und fällt. Und ist Öffentlichkeit nicht gegeben, ist es auch um die Strahlkraft von Helden schlecht bestellt. Zum Heldentum gehört Sichtbarkeit. Hinter verschlossenen Türen gibt es keine Helden. 

Politik fand in Österreich in der Tat lange Zeit hinter verschlossenen Türen statt. Nun sind allerdings Chats publik geworden, die der Öffentlichkeit ein sehr drastisches Bild der Politik vor Augen führen. 
In Österreich mag man sich zwar über Jahrzehnte an dieses System gewöhnt haben, aber wenn jetzt Dokumente publik werden, die diese Politik der geschlossenen Türen öffentlich machen, dann gleicht das einer enormen Erschütterung. Es ist die Bestätigung dessen, was sich viele Menschen zuvor vielleicht nur gedacht hatten, aber nun bestätigt sehen. Die Frustration darüber, wie dieses System der Politik eigentlich funktioniert hat und vielleicht auch weiter funktionieren will, wird sich erstmal verschärfen. Es ist nicht klar, wie dieser Konflikt ausgehen wird. Aber trotzdem würde ich sagen, dass solche Krisensituationen immer auch Chancen bieten. Denn dieses Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, ist ja die Voraussetzung dafür, dass sich etwas ändert. Es bleibt abzuwarten, ob es in den nächsten Jahren in Österreich zu einer inneren Verwandlung kommt.

Also werden wir demokratische Helden in Ihrem Sinne brauchen. Ein Zitat von Ihnen lautet: „Demokratische Helden stoßen uns darauf, dass auch wir bei Gelegenheit so sein können wie sie. Ein Anfang ist gemacht, wenn wir spüren, wie das geht: Aufstehen. Aufbrechen. Anzetteln.“ Ist das zugleich das Fazit dieses Gesprächs?
Das ist das, worauf die Sache rausläuft. Im Übrigen können wir auf zweierlei Weise auf Heldentum reagieren: Wir können uns entweder klein fühlen. Oder uns aufgefordert fühlen, über uns hinauszuwachsen. Letzteres ist das, was ich mir von einem demokratischen Helden erwarte: Dass er uns ein bisschen aus der Spur bringt, dass er uns zu dem Gedanken veranlasst: Was steckt denn eigentlich noch in mir drin? Kann auch ich mir mehr zutrauen als bisher? Wir brauchen demokratische Helden, wir brauchen diese Vorbilder. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass man sich mit seiner eigenen Kleinheit arrangiert. Ich glaube, demokratische Helden sind tatsächlich dazu befähigt, uns auch dazu zu bringen, über uns hinauszuwachsen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Lesetipp! 

Das Interview basiert auf dem Buch von Dieter Thomä „Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus“, Ullstein, Berlin 2019 

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