Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, seit 2001 bei der „Presse“ in Wien, seit 2005 im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technologie, Raumfahrt, Militärwesen und Geschichte.

Über die Mär von der „gespaltenen Gesellschaft“

Februar 2019

Der aktuelle Modevorwurf vor allem von links der politischen Mitte lautet, jemanden des Spaltens zu bezichtigen. Allerdings: Fragmentierte Gesellschaften sind ziemlich normal, homogene wurden hingegen etwa von kommunistischen Regimes angestrebt.

Ich hör hier im Osten nahe Wien oft Radio Vorarlberg. Das ist wegen der Prise Heimweh. Weil die Musik lässiger ist als bei Radio Wien (bei FM4 muss man zu oft wegschalten). Und weil ich grinsen muss, wenn es heißt, dass es an diesem und jenem Kreisverkehr wieder mal staut.
Anfang Jänner stolperte ich dabei über etwas: Jemand sagte, dass irgendwer die Gesellschaft spalten würde. Ich weiß nicht, wer sprach und wer als Spalter galt. Aber das mit dem Spalten hört man heute oft. Dabei spielte das Wort noch vor wenigen Jahren im politischen Kleinholzhacken kaum eine Rolle.
Vielleicht handelte der Beitrag vom „Theater Kosmos“ in Bregenz. Dessen Chefs versprachen, FPÖ-Wähler hätten heuer freien Eintritt. Man wolle sie „zum Diskurs einladen“. Die Bühne sei ein Ort, „sich Menschen und ihren Biografien zu nähern“, woraus Mitgefühl und Respekt wüchsen. Das sei wichtig „in Zeiten, in denen Populisten versuchen, (...) die Gesellschaft zu spalten, und immer mehr Teile der Gesellschaft sich dieser Haltung anschließen“, so die Intendanten laut ORF Vorarlberg und VOL.AT.
Nun, wenn sich immer mehr Gesellschaftsteile etwas anschließen, kann, wer will, das auch als etwas Einendes sehen. Egal. Man hört fast täglich vom Spalten. Etwa, wenn Wiener Stadträte der Regierung vorwerfen, ihre Integrationspolitik bestünde aus „Kürzen, Streichen und Spalten“; dass die Regierung den Wienern unterstelle, „lauter Langschläfer“ zu sein, und so die Gesellschaft spalten wolle. Der FPÖ und dem Kanzler gehe es stets darum, zu spalten, tönt es seitens SPÖ, Grünen, NEOS und der Pilz-Truppe.
Die Spalterschelte kommt indes meist aus jenem Sektor, der spätestens seit 2015 in der Defensive ist: von links der Mitte. In der Mitte und rechts davon wirft man die Steine bisweilen zurück. Was meinte Vorarlbergs FP-Chef Christof Bitschi über die Theater-Aktion? Sie spalte die Gesellschaft.
Wir sollten aber die Kirche im Dorf lassen. Es gibt keine nicht-gespaltene Gesellschaft! Eine Gesellschaft, homogen wie ein Block Gelatine, mit gleichdenkenden und fühlenden Akteuren, wie ein Vogelschwarm, dessen Teile alle in dieselbe Richtung fliegen, gibt und gab es höchstens in Kommunistenstaaten wie Nordkorea und der UdSSR. Und das wurde nie voll realisiert. Auch andere faschistische Regime strebten eine Einheitsgesellschaft an – literarisch mitsamt der politisch korrekten Sprache Gegenstand von George Orwells „1984“.
Auf Ebene kleiner Gruppen gibt es recht homogene Zweckgemeinschaften. Etwa Bürgerinitiativen. Aber auch die sind über einen Kern gemeinsamer Interessen hinaus selten uniform. Schon Parteien sind ein Sack Flöhe.
Gesellschaften sind differenziert, die Grenzen und Gräben vielfältig. Es gibt sie entlang der Sozialstruktur Individuum-Familie-Nachbarschaft-Gemeinde-Region-Bundesland-Staat. Es gibt sie sozioökonomisch, schon im Mittelalter als Spaltung in Adel, Klerus, Bauern, Handwerker, Bürger. Und es gibt sie objektbezogen, also bezüglich Haltungen etwa über Kunst, Wissenschaft, Politik, Erziehung, Ideologien, Religion. Das Fragmentierte der Gesellschaft steckt im Wort „Partei“ – von lateinisch „Pars“, also „Teil“. Eine Partei ist eine Abteilung, Partitionierung des Ganzen.
Spaltlinien können neu entstehen. Etwa durch den Sozialismus im 19. Jahrhundert und die 1968er. Die Geburt der Grünen war eine Fragmentation. Dennoch zerfallen Gesellschaften trotz Spaltungen nicht zwingend. Sie leben damit, weil Fraktionen miteinander können, können müssen, einander tolerieren, aneinander vorbeileben oder nicht einmal Gegner sind. Staat, Gesetze und Sitten sind Zusammenhaltsrahmen. Faulheit zu offensivem Streit ist ein Ballast, der Konflikte dämmt. Er bremst speziell die stille Mehrheit.
Und Solidarität ist ein Klebstoff – aber kein Prinzip, das man endlos spannen kann, denn die Auffassungen dazu differieren. Da war sogar einmal eine „linksdrehende“ Kollegin, die sich ärgerte, als sie sah, wie viel ihr das Finanzamt von Nebeneinkünften abnahm. „Ist doch großteils eh für soziale Zwecke“, stichelte ich, worauf sie säuerlich schaute.
Spaltungsjammerer übersehen, dass Spalte früher oft nur nicht so sichtbar waren. Manch neue sind Fortsetzungen bestehender.
Oft heißt es auch, dass ein sozialer Konsens bedroht sei. So etwas sind freilich oft selbstgefällige Illusionen, da man die Gesellschaft dazu nie befragt. Stattdessen sollen Partikularkonsense, die es in gewissen Kreisen in Politik, Medien, Unis, NGOs und Kultur gibt, der Gesamtgesellschaft umgehängt werden.
Wer aber etwa glaubt, Gendern sei akzeptiert, nur weil der ORF das tut, täuscht sich heftig. Gab es eine Volksbefragung? Das gilt auch für die eiertänzerische „Das kann man so nicht sagen!“-, „Darf man das?“-Zensursubkultur. Und der anfangs behauptete „Konsens“ zur Willkommenskultur 2015 war klare Partikular-Fata-Morgana: Bei Umfragen im Herbst 2015 waren 80 Prozent verstört über die Lage.

Es gibt keine nicht-gespaltene Gesellschaft: eine Gesellschaft, homogen wie ein Block Gelatine, mit gleichdenkenden und fühlenden Akteuren, wie ein Vogelschwarm, dessen Teile alle in dieselbe Richtung fliegen, gibt und gab es höchstens in Kommunistenstaaten wie Nordkorea und der UdSSR.

Spaltungsbeklager zählen indes oft zu Sozialfraktionen, die für die gestiegene Reibungshitze und den Gegenwind von rechts (nein: der Mehrheit) mitursächlich sind: Den linksliberalen, moralaufgeladenen, „aufgeschlossenen“, oft urbanen Eliten, wie Beobachter wie die Philosophen Robert Pfaller und Alexander Grau konstatieren.
Die Linke aber ignoriert, dass der stille Zeitgeist der Masse anders weht als der laute der Minderheit(en). Das hat Folgen. Der Münchner Psychiater Thomas Lukowski meint: Wenn Minderheiten versuchten, „in der normalen Lebenswirklichkeit die Deutungshoheit über Moral, Sprache, Zusammenleben etc. zu übernehmen, gelangen sie schnell zu den Ursachen, warum es ein Thilo Sarrazin oder die AfD so einfach haben kann“. Oder die FPÖ.

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