Nora Weiß

Redakteurin Thema Vorarlberg

Foto: Weissengruber

Über Egoismus und Solidarität

März 2021

Mit Andauern der Pandemie steigt das Verlangen nach persönlicher Freiheit, aber was heißt das für die Solidarität gegenüber der Gesellschaft?

Die Corona-Pandemie dauert nun über ein Jahr, und es lässt sich eine gewisse Müdigkeit in der Gesellschaft feststellen. Diese Müdigkeit droht immer mehr in Egoismus umzuschlagen, von der großen Solidarität zu Beginn der Krise ist nicht mehr viel zu spüren. „Das ist aber wenig erstaunlich, denn das ist in vielen Krisen so, dass es zu Beginn ein kollektives Zusammenrücken gibt, das mit der Dauer zurückgeht“, sagt Barbara Prainsack, Politologin an der Universität Wien und ergänzt: „Die Menschen haben das Gefühl, dass die Solidarität von Mensch zu Mensch weniger geworden ist.“ Die Universitätsprofessorin führt seit März vergangenen Jahres gemeinsam mit einem Team an Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen – Im Rahmen des Austrian Corona Panel Project – regelmäßig Umfragen in der Bevölkerung durch – die Solidarität ist eines der Umfragethemen. Die Ergebnisse ihrer Studie zeigen, dass das Gemeinschaftsgefühl und der Wille, die eigene Freiheit einzuschränken, sehr stark mit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und der Bereitschaft anderer, diese zu akzeptieren, in Zusammenhang stehen.
Im Frühjahr hat das gut funktioniert, über den Sommer hat aber die Frustration über die häufig widersprüchlichen Maßnahmen zugenommen. Die Sinnhaftigkeit von Homeoffice wird angezweifelt, wenn gleichzeitig beispielsweise die Kinder im Kindergarten sind. Immer mehr Menschen empfinden die Vorgaben der Regierung als unfair und als wenig wirksam.
„Ich glaube, die Reziprozität wird nicht mehr gesehen, und dadurch ist man mit den anderen nicht mehr durch einen stillschweigenden Vertrag verbunden, dass wir uns nun einmal eben an die Maßnahmen halten müssen, weil es alle tun“, sieht Prainsack einen Grund dafür, warum immer größere Teile der Bevölkerung verstärkt auf ihre persönliche Freiheit bedacht sind. Zudem machen immer mehr Menschen die Erfahrung, dass das direkte, aber auch weite Umfeld, die Regeln so weit wie möglich dehnt beziehungsweise an die eigenen Umstände anpasst. Häufig ist der Egoismus, der dieser Regelauslegung zugrunde liegt, den Einzelnen nicht bewusst, werden die Vorgaben schließlich stets unter der Prämisse, ohnehin vorsichtig zu sein, umgangen oder ignoriert. Aber je öfter diese Erfahrung gemacht wird, desto stärker drängt sich die Frage auf, warum man sich selbst an die Regeln halten soll, wenn andere ohnehin tun, was immer sie wollen. Der Egoismus in der Gesellschaft wächst.

Der Mensch, der mir am nächsten ist, bin ich, ich bin ein Egoist.

Wie sehr sich einzelne am nächsten sind, wenn es um die persönliche Freiheit und Gesundheit geht, lässt sich am Thema Impfen verdeutlichen. Trotz einer klar vorgegebenen Impfstrategie gelang es zahlreichen Personen, ihren ersten Stich deutlich vorzuverlegen. Allein in Vorarlberg waren das Ende Jänner bereits mehr als 160 Menschen. Trotz der bisher mangelhaften Umsetzung der Impfstrategie scheint die Impfskepsis in der Bevölkerung aber abzunehmen. Prainsack geht sogar davon aus, dass die Impfwilligkeit in den kommenden Monaten ansteigen wird. Das läge vor allem daran, dass weltweit inzwischen viele Menschen geimpft und fast keine schweren Nebenwirkungen bekannt geworden seien. „Natürlich spielt es aber auch eine Rolle, dass man sich durch die Impfung früher oder später wieder freier bewegen kann. Das freiere Bewegen ist aber sowohl auf den eigenen Nutzen als auch auf den Nutzen für andere Menschen bezogen.“ Die Wissenschaftlerin konkretisiert: „Die Freiheit bedeutet, dass ich mich frei bewegen, aber mich auch mit anderen Menschen treffen kann, ohne für sie eine Gefahr zu sein. Unsere Daten zeigen ganz klar, dass die Sorge um uns selbst immer mit der Sorge um andere einher geht.“ 
Auch in Hinblick auf die Impfverweigerer lasse sich per se nicht von mangelnder Solidarität gegenüber der Gesellschaft sprechen, da es sich um eine sehr heterogene Gruppe handle. Wo aber durchaus von Egoismus gesprochen werden könne sei bei den Menschen, die das Tragen einer Maske verweigern. Diesen sei die eigene Positionierung wichtiger als die Möglichkeit, dass eine Maske eventuell doch jemanden schützen könnte. 

Testen zum Zweck der Schönheit

Als die Regierung im Herbst zur Massentestung aufrief, hielt sich die Beteiligung der Gesellschaft stark in Grenzen, mit der Einführung der Eintrittstests scheint die Testbereitschaft deutlich angestiegen zu sein. Die Ergebnisse der Studie zeigen, „dass unter den Leuten, die den Massentest im Dezember nicht mitgemacht haben, unter anderem auch viele waren, die gesagt haben, dass sie sich eine Quarantäne nicht leisten können“, sagt Prainsack. Und weist darauf hin, dass „keine vorschnellen Schlussfolgerungen“ getroffen werden sollten, wenn es um die Motive geht, warum Menschen sich jetzt vermehrt testen lassen. Denn viele nutzen nun die Gelegenheit, sich testen zu lassen, bevor sie sich mit Freunden oder der Familie treffen, um eine Gefährdung anderer zu minimieren. 
Es zeigt sich, dass die persönliche Freiheit mit der Dauer der Pandemie deutlich an Wichtigkeit gewinnt, es scheint aber zu kurz gegriffen, diese mit Egoismus gleichzusetzen. 

Die Untertanen-Mentalität, die dem Österreicher häufig nachgesagt wird, haben wir weitgehend abgelegt.

Denn Prainsacks Studie zeigt deutlich, dass das Verlangen nach mehr Freiheit häufig soziale Aspekte beinhaltet, wie etwa einen risikofreien Besuch bei den Großeltern oder ein Treffen mit Freunden. „Was natürlich stimmt, ist, dass wir als Gesellschaft individualistischer geworden sind. Dieser Individualismus äußert sich in der Form, dass schon erklärt werden muss, zu welchem Zweck etwas gemacht wird. Es reicht nicht mehr, dass es vorgeschrieben wird. Die Untertanen-Mentalität, die dem Österreicher häufig nachgesagt wird, haben wir weitgehend abgelegt“, erklärt die Wissenschaftlerin. Wie es aber zukünftig mit der Solidarität in der Gesellschaft weitergehe, hänge stark vom Ende dieser Krise ab: „Wenn jene Menschen, die durch die Krise ärmer geworden sind oder die an Langzeitfolgen einer Corona Erkrankung leiden, zurückgelassen werden, wird eine Entsolidarisierung stattfinden.“

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