Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Und der Horizont ist die Welt

Dezember 2021

Philosoph und Unternehmer Anders Indset (43), sagt im Interview, dass sich der Mensch von „alten Selbst­verständlichkeiten lösen“ müsse, um sich der Welt öffnen zu können. Ein Gespräch mit dem Publizisten über fatale Illusionen, die Politik der Negativität – und das „alte klassische Streben nach Weisheit“.

Herr Indset, wir hatten im März 2019 ein Interview geführt, seither hat sich die Welt dann doch verändert, aber nicht unbedingt zum Besseren …
Die Pandemie hat letzten Endes nur das aufgedeckt und enthüllt, was wir zuvor nicht gesehen hatten, weil wir in unseren Selbstverständlichkeiten gefangen waren. Dass sich die Welt nicht zum Besseren entwickelt hat, das stimmt in einigen Bereichen. Allerdings haben sich auch ein paar Dinge zum Guten gewandelt. 

Zum Guten?
Ja. Wir sind beispielsweise Trump losgeworden, zumindest für eine kurze Zeit; auch haben wir positiv erkannt, dass wir vieles leisten können. Die Pandemie hat jedenfalls eines mit uns gemacht: Sie hat uns dazu getrieben, über Mensch und Zusammenhalt nachzudenken. Wir haben die Chance zu einer Art Erwachen. Denn nicht das Virus ist die Herausforderung, sondern die Erkenntnis, dass unser Denken infiziert ist. 

Ihr aktuelles Buch trägt ja den Titel „Das infizierte Denken“.
Wir haben in unserer technologischen Selbstoptimierungsgesellschaft die Kunst, recht zu haben, perfektioniert. Aber wir haben die Kunst, unrecht zu haben, vergessen. Wir haben die Philosophie vergessen. Die Schriftstellerin Siri Hustvedt sagt, der Zweifel ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz, er ist ihre notwendige Voraussetzung. Und wir?

Die Sehnsucht der Menschen nach Tiefgang trifft auf eine Welt der Kurzfristigkeit.

Wir haben unser Leben digitalisiert und adaptiert und optimiert, alles ist absolut geworden. Wir machen uns über das bereits Gedachte und unsere Handlungen Gedanken, setzen uns aber nicht mit dem Denken an sich auseinander. Das gestalterische Chaos ist verloren gegangen und damit die Offenheit für Neues …

Sie blicken zu Beginn Ihres Buches zurück in das Jahr 1970. Warum 1970?
Weil es ein symbolisches Jahr ist. US-Präsident Richard Nixon und Henry Kissinger streben die Öffnung Chinas an, sie reisen ins Reich der Mitte, spielen dort Tischtennis. Sie fliegen nach Moskau zu Breschnew, um ein Atomwaffen-Abrüstungsabkommen zu unterzeichnen, sie kündigen den Abzug der US-Truppen aus Vietnam an. In diesem Jahr findet der erste Global-Earth-Day statt, weltweit gehen 20 Millionen Menschen auf die Straße, um vor dem Klimawandel zu warnen, 50 Jahre vor Greta Thunberg. Für kurze Zeit sieht es so aus, als hätten wir jenes Traumszenario, das Yoko Ono in ihren Gedichten beschrieb und John Lennon mit „Imagine“ so schön vertonte. 1970 ist der Höhepunkt von dem, was wir heute als Friedens-, Liebes- und Poprevolution bezeichnen. Diese Zeit markiert aber auch den Beginn des unbemerkten, narkotisierten Wegdämmerns. Es entsteht jene Illusion von stetig wachsendem Wohlstand, aus dem wir nun langsam erwachen. Wir haben wie Dornröschen die Zeit im Schlaf verbracht, die böse Hexe Corona hat uns nun ,wachgepiekst‘.

Sie verwenden den Ausdruck, wir hätten „in unserer Freiheit unsere Freiheit verloren“ …
Die Freiheit wurde einst hart erkämpft, aber durch den Wohlstand und die technologische Selbstoptimierung der Gesellschaft sind wir nun in unserer eigenen Freiheit gefangen. Und bleiben damit auch paralysiert. Auch wenn wir glauben, wir hätten einen freien Willen, stellt sich die Frage: Wie frei ist denn schon frei? Die Technologien hetzen und treiben uns, sie kennen uns besser als wir uns selbst, sie geben uns alles vor. Wir sind nur noch Dopamin-gesteuerte Junkies und werden durch das Leben gezerrt. Obwohl wir alle Möglichkeiten hätten, können wir nichts. Wir sind unsere eigenen Herren geworden, leben aber in Knechtschaft, wir beuten uns selbst aus. Wir sind in unserer Freiheit untätig geworden. Und die Herausforderung ist: Wie aktivieren wir die Menschen?

Und wer aktiviert uns? Die Medien? Da sind Sie ja sehr skeptisch …
Der Journalist als Geistesgestalter ist verloren gegangen. Einst waren Journalisten Aufklärer und Erklärer, heute sind sie die Spieler und Sklaven des Kapitalismus. Im permanenten Wettkampf der neuen und günstigeren Formen der Kommunikation verliert das Aufklärerische gegen die Ökonomisierung. Das Einfache verkauft sich, die Headline verkauft sich, das Geistesgestalterische nicht. Es bleibt weder Raum noch Platz für Tiefgang. Der Skandal wird zum Durchlauferhitzer für Klicks und Likes, die letztlich die Kasse klingeln lassen. Aber das ist ja nicht der Grundgedanke des Journalismus. Wir brauchen Sinnhaftigkeit, wir brauchen Sinnwirkung …

Inwiefern?
Auf dem Sterbebett hat noch nie ein Mensch gesagt: „Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit auf TikTok verbracht.“ Ich spüre, dass viele intellektuelle Tiefe brauchen, suchen und auch wollen. Ich spüre, dass sich viele dafür interessieren, Dinge auch zu verstehen. Aber das geht im Alltag, im Trubel dieser schnelllebigen digitalen Welt verloren. Die Sehnsucht der Menschen nach Tiefgang trifft auf eine Welt der Kurzfristigkeit.

Apropos. Sie kritisieren in Ihrem Buch die Politik mit scharfen Worten, sprechen etwa von der „Entfesselung der Negativität“.
Heute kann kein Politiker mehr für etwas stehen, weil es nur noch darum geht, zu sagen, was falsch und was schlecht ist. Es ist eine Welt der Negation und der Negativität geworden, eine Welt der Cancel-Culture und des Woke-Aktivismus, in der alle gegen etwas sind und nicht für etwas. Es ist eine Welt, in der gegen etwas zu sein das neue Normal ist. Die Negation wird mit Titel und Macht belohnt, und die Ausrufung von Krisen gehört zur neuen Normalität. In diesem System kann der Vernünftige gar nicht gewinnen. 

Sie sagen auch: Politik ist Bewahren und Verwalten, Wirtschaft ist Gestalten …
Das eine ist Management. Das andere Leadership. Die Politik braucht Stabilität, sie steht für Stabilität, sie kann nicht radikal sein, sonst wird sie nicht gewählt. Das liegt in der Natur der Sache. In der Wirtschaft dagegen gibt es Radikalität. Und der radikal große Hebel für die Probleme, die wir haben, liegt zweifelsohne in der Schöpfung neuer Technologien. Aber wir brauchen beides. Wir brauchen heute deutlich mehr Stabilität, aber auch mehr Chaos, wobei ich unter Chaos das Zerstörerische in der Sache der Kreation verstehe. Im Übrigen: Enkelfähig ist ein Synonym für modernes Unternehmertum, in dem die wirtschaftliche Tragfähigkeit über Zeit geht und nicht auf Zeit. 

Soll heißen?
War das alte Unternehmertum in einer Welt der Endlichkeit auf Gewinnmaximierung und Optimierung ausgelegt, ist dieses moderne, enkelfähige, technologiegetriebene Unternehmertum das Fundament für das 21. Jahrhundert. Weil es in einem zugleich humanistischen und kapitalistischen Ansatz den künftigen Generationen Wohlstand sichert. Durch die Technologie werden Ökologie und Ökonomie synergetisch und profitabel sein.

Sie fordern in Ihrem Buch einen „Aufstand der Intellektualität“ – und sagen in diesem Zusammenhang, wir hätten, um die Gesellschaft zu verstehen, die Bildung neu zu denken.
Meine Tochter ist 13, sie geht zur Schule und sie wird einen Abschluss bekommen. Aber sie schließt damit etwas ab, in dem es nur darum geht, Informationen und Daten kurzfristig zu speichern und von Lehrern benotet zu werden, die ihrerseits nur Inhalte aus bereits niedergeschriebenen Fakten wiedergeben. Wir trainieren die Fähigkeit, Daten zu speichern, und ignorieren damit den Umstand, dass die Technologie das viel besser kann. Stattdessen sollte sich der Mensch, dieses fantasiebegabte Wesen, auf die Fähigkeit zu lernen fokussieren. Wir müssen das Lernen lernen. Wir aber trainieren diese Neugierde auf das Leben ab. Die Kinder sitzen in den Schulen wie in Kasernen, alle sollen dasselbe in der derselben Geschwindigkeit lernen, obwohl alle unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten haben. Diese Neugierde – das Interesse, die Welt zu verstehen und das Lernen zu lernen – ist ein Grundfundament, das für mich zur Bildung gehört. Aber wir sehen Bildung und all die anderen Systeme, als seien sie starr, als würden sie auf Endlichkeit beruhen.

Auf Endlichkeit?
Bildung kann niemals abgeschlossen sein! Der Philosoph Hans Blumenberg sagt, dass Bildung kein Arsenal ist. Bildung ist ein Horizont. Und der Horizont ist die Welt. Die Weltbildung. Wir sprechen auch von dem Kapitalismus, als hätte er sich nicht unfassbar verändert, wir sprechen von der Demokratie, als wäre sie noch dieselbe wie vor 100 Jahren. Wir sind in unseren Selbstverständlichkeiten gefangen.

Sie sagen ja, dass „in der Befreiung von Selbstverständlichkeiten unser Ausweg“ liege.
Es ist anstrengend, sich mit Komplexität auseinanderzusetzen und die Dinge holistisch (ganzheitlich, Anm.) zu betrachten. Es ist anstrengend, heute diese ganzen Widersprüchlichkeiten zu ertragen. Und doch haben wir mit diesem Cluster-Fuck aufeinander prallender Paradoxien klarzukommen. Denn erst das Ertragen der Widersprüchlichkeiten und Gleichzeitigkeiten ist die Grundlage für Fortschritt. Wir müssen lernen, das Unbekannte zu ertragen! Denn nur das versetzt uns letztlich in die Lage, zu lernen. Nur über die Gesellschaft des Verstandes, in der wir die Dinge durchdenken und verstehen, können wir uns von der Gefangenschaft der Gegenwart befreien. Wenn wir uns von den alten Selbstverständlichkeiten lösen, dann öffnen wir uns der Welt und werden auch neugierig sein, wie diese Welt funktioniert. Das ist die Weltverständlichkeit, die dann ihrerseits zur Selbstverständlichkeit werden soll.

Sie rufen den Menschen zu: „Philosophiert Euch!“ Ist das Ihr Fazit?
Das ist die Auseinandersetzung mit der Kunst, unrecht zu haben. Das ist der radikale Journalismus. Das ist das alte klassische Streben nach Weisheit. Nur so lässt sich die Herdenstupidität überwinden. In dieser neuen, revolutionären Ära der Menschheit, in der der Mensch mit der Technologie in einer Symbiose lebt, sind wir zu philosophischen Fragen regelrecht gezwungen. Wir haben die Denkströme dieser fantastischen Vordenker im Kontext des 21. Jahrhunderts neu zu denken. Wir müssen zu den Denkern unserer Zeit werden. Also: Philosophiert Euch!

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Anders Indset * 11. April 1978 in Trondheim, ist Philosoph, Publizist, Unternehmer – und Gastdozent an internationalen Universitäten. „Thinkers50“ hat den gebürtigen Norweger in die Top 30 „der in Zukunft wichtigen Managementvordenker“ aufgenommen. Indset, Autor der Spiegel-Bestseller „Wildes" Wissen“ und „Quantenwirtschaft“, war in jüngeren Jahren Spieler der norwegischen Handball-Nationalmannschaft.

Anders Indset wird im Mai 2022 Hauptreferent bei der Wirtschaftskammer-Veranstaltung „Dis.Kurs Vorarlberg“ sein.​

Lesetipp!

Anders Indset, „Das infizierte Denken“, Econ/Ullstein, Berlin 2021

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