Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Vokabeln der politischen Entfremdung

November 2022

Untersuchungen zeigen, dass sich in Zeiten der Krise zwei Drittel der Menschen pragmatisch verhalten. Doch ein Drittel steigert sich in seiner Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Warum das so ist, das erklärt Jürgen Grimm, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Wien. 

Gegenwärtig folgt Krise auf Krise. Doch befeuert jede neue Krise zugleich auch neue Verschwörungstheorien? Und finden Verschwörungstheorien immer noch mehr Anhänger?
Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm, der seit Jahren erforscht, auf welchen Wegen Menschen sich radikalisieren, hat eine gute und eine schlechte Nachricht zu verkünden. Denn Grimm sagt: „Unsere Untersuchungen zeigen, dass in den gegenwärtigen Krisenmomenten die Mehrheit pragmatisch denkt, und damit weniger anfällig ist für Verschwörungstheorien, dass die Majorität also auf den Pfaden der Rationalität und der Vernunft verbleibt.“ Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass sich eine - starke - Minderheit der Menschen in ihrer Anfälligkeit für Verschwörungstheorien steigert.“ In Zahlen? Zwei Drittel reagieren in der Krise mit einer Verstärkung von Rationalität. Ein Drittel aber ist zumindest anfällig für das teilweise abstruse Narrative.

Ein Weltbild-Notstand
Spricht die Wissenschaft von verschwörungstheoretisch affinen Menschen, dann meint sie jene, die „eine anomische Vorstellung von Gesellschaft“ vertreten: Die also sagen, dass die Welt in ihren Normen nicht mehr funktioniert und auseinanderfällt. Die davon sprechen, dass alles unkontrollierbar geworden sei, gleichzeitig aber glauben, dass die Welt von einem mächtigen Zentrum kontrolliert werde. Es ist eine paradoxe Übersprungshandlung, die diesen Gedanken zugrunde liegt, entstanden aus der Not des Weltbild-Managements, wie Grimm sagt: „Es ist der Versuch, durch die immer komplexere und krisenhaftere Welt zu steuern. Und diese weltbildorientierte Grunddisposition zu Verschwörungsnarrativen hängt mit einer Krise des Denkens und der Orientierung in der Welt zusammen.“ 
Mit Angst wird auf die Gegenwart und auf die Welt reagiert, mit Desorientierung auf scheinbares Chaos. Verschwörungstheorien geben vermeintlich Struktur, sie scheinen im Weltbild-Notstand ein Ausweg zu sein. Dort, in diesem einen Drittel der Bevölkerung mit Disposition zu Verschwörungstheorien, ist angesichts der gegenwärtigen Kumulation von Krisen – Corona, der Krieg in der Ukraine, die Inflation, der Klimawandel seien als Beispiele genannt – der „Weltbild-Notstand zu einem Massenphänomen geworden“, wie Grimm sagt. 

Radikalismen
Und dort wächst die Gefahr der Radikalisierung, dort drohen Menschen zum Steigbügelhalter aller möglichen Radikalismen zu werden. Russische Troll-Fabriken hatten in der Pandemie nachweislich Falschinformationen im Westen gestreut und damit auch entsprechende Verschwörungstheorien zumindest befördert.
Nun stehen Teile der selbst ernannten Querdenker-Szene auf Seiten Putins, ist das nicht ein Beleg dafür, dass aus Russland nach wie vor destabilisiert wird? „Da würde ich zustimmen“, antwortet der Wissenschaftler, „es gibt starke Indizien, dass Verschwörungstheorien zwar nicht von den Propagandisten selbst geschaffen werden. Es ist aber auf jeden Fall eine propagandistische, parasitäre Zweitnutzung solcher Narrative gegeben.“

Die politische Entfremdung
Sollte man sich, ergo, nicht bei jeder Verschwörungstheorie fragen, wem deren Verbreitung nützt? „Das ist die eine Frage, die man stellen muss“, antwortet Grimm. Es könne sinnvoll sein, dahinterliegende Interessen zu dekonstruieren, sprich: aufzudecken. Und doch müsse man die erwähnte Disposition des einen Drittels der Bevölkerung sehen, „die nicht abhängig ist von irgendwelchen Propagandisten, sondern in den Hinterköpfen der breiten Masse spontan entsteht.“
Es genüge also nicht, nur zu fragen, wem die Verbreitung bestimmter Verschwörungstheorien nütze. „Es ist auch die Frage zu stellen, warum im Moment so viele Menschen in dieses Fahrwasser geraten.“ Wie lautet die Antwort? Natürlich gebe es mehrere Ursachen, sagt Grimm: „Aber es gibt eine gemeinsame Wurzel. Und das ist die politische Entfremdung, die in ihrem Ausmaß alarmiert.“ 

Apathisch oder rebellisch
Denn die kann von interessierter Seite propagandistisch genutzt werden, eben durch die Beförderung bestimmter Verschwörungstheorien, durch die Unterminierung anderer, weniger gewünschter Narrative – oder auch durch den Gebrauch bestimmter Ausdrücke. 
Im abgelaufenen Bundespräsidentenwahlkampf beispielsweise sprachen einige Kandidaten von „den Systemparteien“ und „den Systemmedien“, die FPÖ kündigte auf Plakaten den Eliten und Mächtigen den Kampf an, man werde die Freiheit zurückholen. Wird diese Wortwahl in jenem Drittel der Bevölkerung, das anfällig ist für Verschwörungstheorien, entsprechend goutiert? Nachdem ja auch dort stets gegen „das System“ und seine angeblichen Schergen in Politik und Presse argumentiert wird?
„Das ist anzunehmen“, sagt Grimm. Wer etwa von „Systemmedien“ spreche, der stehe dem System gegenüber, der sei nicht mehr Teil davon, betrachte alles nur noch von außen. Und da in der Krise insgesamt die Bereitschaft wachse, die Dinge in einem systemischen Zusammenhang zu sehen, würden Populisten in der Politik kognitive Kategorien anpassen: „Deswegen werden Begriffe wie ‚Systemparteien‘ und ‚Lügenpresse‘ im öffentlichen Diskurs verwendet, das sind Vokabeln der politischen Entfremdung.“ 
Die politische Entfremdung zeigt sich laut Grimm übrigens in einer apathischen oder in einer rebellischen Form. In der einen Form ziehen sich die Menschen zurück, kümmern sich nur noch um die eigene Lebenswelt. In der anderen Form wird dagegen der Systemzustand selbst skandalisiert, wird der Ausweg in einer Rebellion gegen dieses System gesucht. Auch so finden Verschwörungstheorien ihre Anhänger. Und die Narrative selbst ihre Verbreitung. Und die sind, wie Grimm sagt: „Anknüpfungspunkte für Propagandisten jeglicher Couleur.“

Jürgen Grimm, Kommunikations­wissenschaftler an der Universität Wien

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