Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Volkswirtschftslehre auf dem Prüfstand

September 2024

In Tübingen, im deutschen Ländle, wie Baden-Württemberg auch genannt wird, war Dr. Wilhelm Kohler (70) Univ.-Prof. für Volkswirtschaftslehre mit den Fachgebieten „Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Internationale Migration und Europäische Integration“ bis zu seiner Emeritierung im vergangenen Jahr. Dort war er auch von 2013 bis 2023 Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung. Ich lernte den gebürtigen Alberschwender vor 40 Jahren als Univ.-Assistent an der Universität Innsbruck kennen und traf ihn zu einem Gespräch über Theorie und Praxis der Nationalökonomie nach den Krisen der vergangenen 15 Jahre.

Was sich in der Lehre geändert hat
Obwohl sich die Lehre an den verschiedenen Universitäten durchaus unterscheide, habe sich der Kanon nicht grundlegend geändert. Aber nach der Weltfinanzkrise, der Pandemie und jetzt dem Ukraine-Krieg werde sicherlich mehr auf die Grenzen der Erkenntnis hingewiesen, was auch gut so sei. Das hätten zwar gute Ökonomen schon immer gemacht, aber jetzt geschehe es schon deutlicher und klarer, bezogen auf die erwähnten Entwicklungen und Krisen. Eine fundamentale Neuorientierung der „Ökonomie im Hörsaal“ als Resultat der Krisen könne er nicht erkennen. Dass man bestimmte Entwicklungen nicht voraussehen kann, und dann hinterherhinke, sei unvermeidbar. Gleichwohl sei die Lehre heute besser und reflektiere mehr auf aktuelle Entwicklungen, insbesondere Krisen, als noch vor 20 Jahren. Zumindest partiell, wobei es manchmal auch zu kurzfristigen Überreaktionen auf aktuelle Ereignisse kommen könne.

Wurden Entwicklungen übersehen, falsch eingeschätzt oder falsch beantwortet?
Hier müsse man differenzieren, zwischen Politik und Ökonomie sowie zwischen einzelnen Ökonomen und dem „Mainstream“ der Ökonomie. Vor der Finanzkrise von 2007/2008 sei die Politik in einer Phase der Deregulierung sicher zu optimistisch gewesen, was die Wahrscheinlichkeit einer solchen Krise anlangt. Möglicherweise auch genährt durch eine etwas zu optimistische Sicht der Ökonomie. Aber es habe sehr wohl warnende Stimmen von teils sehr prominenten Ökonomen gegeben, wie etwa Kenneth Rogoff oder Robert Shiller, stellt Kohler klar. Auch könne man festhalten, dass die Politik nach Eintritt der Krise relativ schnell gut reagiert habe – unter Befolgung des Rates der Ökonomen, die auf die Krise mit einer Rehabilitation des Keynesianismus reagierte (vermehrte Staatsausgaben, expansive Geldpolitik, Ankurbelung der Nachfrage). Und längerfristig habe man sich nach der Krise sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik stärker als zuvor auf systemische Risiken konzentriert.  
Die 2010 ausbrechende Schuldenkrise in der EU sei hingegen eher vorhersehbar gewesen, wenngleich der Auslöser, nämlich die falschen Zahlen im griechischen Budget für 2009, viele Beobachter überrascht hatten. Die Ökonomie sei in dieser Misere allerdings nur bedingt hilfreich gewesen, weil die Meinungen konträr auseinander gingen. Während die einen für eine aktive Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Abwehr von spekulativen Attacken der Kapitalmärkte auf Regierungen eintraten, wollten andere diese Funktion des „lender of last resort“ in klassischer Manier strikt auf den Bankensektor beschränkt sehen, weil sie die Öffnung des Tors zur gewohnheitsmäßigen Finanzierung der Staatsdefizite durch die EZB befürchteten. Diese Frage sei, so Kohler, unter Ökonomen noch immer offen, was für den Fortschritt in der Politik, die fast naturgemäß gespalten ist, nicht unbedingt förderlich sei. In Deutschland ist die Debatte bekanntermaßen auch mit rechtlichen Mitteln geführt worden. Dass das Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (zugunsten der Kritiker der EZB-Ankaufsprogramme) hier endgültig Klarheit schaffen wird, sei aber Illusion.

Die Covid-Pandemie in der Ökonomie
Dass eine Pandemie dieser Art entstehen könne, sei immer klar gewesen, aber wegen der äußerst geringen Eintrittswahrscheinlichkeit hatte man sich damit sowohl in der Ökonomie als auch in der Politik kaum beschäftigt. Beide wurden somit „kalt erwischt“, und die Ökonomie hatte spontan keinen klaren Rat anzubieten, habe aber dann doch rasch reagiert und die Marschrichtung war klar: Ein Gemisch aus vorgeschriebenem „social distancing“, bald allgemein mit Lockdown bezeichnet, und finanzieller Unterstützung. Bei der konkreten Ausgestaltung der Politik habe man zunächst etwas im „Dunkeln gestochert“, ganz einfach deswegen, weil es Unsicherheit bei epidemiologischen Details gab. Heute wisse man zum Beispiel, dass man an Schulen und in Altersheimen mit „social distancing“ zu weit gegangen sei. Aber insgesamt habe man durch die Pandemie sehr viel gelernt – auch schmerzhaft, denn die Debatten seien mit erhitztem Gemüt geführt worden. Man sei deshalb sicher das nächste Mal besser vorbereitet. Für die Ökonomie als Wissenschaft gebe es wegen der Erfahrung mit der Covid-Pandemie keine Notwendigkeit für eine grundlegende Neuorientierung. Für die Politik scheint das schon eher der Fall zu sein, und zwar auf EU-Ebene. Kohler bringt hier die Initiative „Next Generation EU“ ins Gespräch, mit der ein Stück gemeinsame Fiskalpolitik, verbunden mit der Schuldenaufnahme durch die europäische Kommission, möglich werde. Das wäre vorher wohl undenkbar gewesen.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine bringt eine fundamentale Neuorientierung 
Bis zum Februar 2022 war die allgemeine Wahrnehmung durch eine hohe Bereitschaft gekennzeichnet, auch mit Ländern, die man politisch eher als „foe“ (Feinde) bezeichnet, Handel zu treiben. Man verband damit die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“, d.h., dass politische Spannungen durch die „gains from trade“ (Gewinne durch Handel) verringert würden. Das diente auch als moralische Rechtfertigung für eine konziliante Grundhaltung. Kohler meint dazu: „Sehr viel mehr war es nicht. Auch gab es schon seit langem die Vorstellung, dass die mit Handel einhergehenden wechselseitigen Abhängigkeiten die gewaltsame (kriegerische) Eskalation verhindern würde. Man wusste allerdings, dass diese Vorstellung mit der Empirie nur bedingt in Einklang zu bringen war. Mit wirtschaftlichen Sanktionen hatte man gemischte Erfahrungen gemacht: sie haben zwar partiell durchaus gewirkt, im Sinne von entgangenen ‚gains from trade‘, aber dass dadurch viel politischer Wandel initiiert wurde, konnte man nicht beobachten.“ Jetzt, nach mehr als zwei Jahren Krieg Russlands gegen die Ukraine, könne in der Politik und in der Ökonomie ein Umdenken beobachtet werden. Kohler: „Die Politik spricht seither von der Notwendigkeit des ‚de-risking‘, allerdings ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, was das eigentlich heißen soll – außer, dass es nicht unbedingt gleich ein vollständiges ‚decoupling‘ (Abkoppelung der Wertschöpfungsketten gegenüber den ‚foes‘) bedeutet. Zu den ‚foes‘ werden dabei in der Regel Russland und China sowie jene Länder gezählt, die mit diesen beiden in einem Naheverhältnis stehen. Die Ökonomie als Wissenschaft sucht, wenn ich das richtig sehe, noch nach einem neuen Paradigma für die Berücksichtigung der geopolitischen Dimension für die Analyse der internationalen Handels- oder (allgemeiner) Wirtschaftsbeziehungen. Es sieht ganz danach aus, dass wir hier am Beginn einer fundamentalen Neuorientierung stehen. Aber ich sehe nicht klar, in welche Richtung das gehen wird. Was man aus älterer Literatur weiß, ist, dass die Möglichkeit einer künftigen, politisch bedingten Unterbrechung von Handelsbeziehungen dafürspricht, schon jetzt Handelsbarrieren einzuführen. Die kürzlich verhängten Zölle für Importe von Elektroautos von China könnten mitunter so gerechtfertigt werden. Aber das ist nur ein kleiner Teilaspekt.“

Was heißt das für die Vorarlberger Exportwirtschaft
Kohler: „Neben den bislang vielleicht dominierenden Kostenüberlegungen muss man eine neue Art von Unsicherheit mitbedenken: die Möglichkeit, dass das Auslandsgeschäft mit potenziellen ‚foes‘ ziemlich abrupt zum Stillstand kommen kann. Wenn man da schon im Markt ist, dann wird man vielleicht noch bleiben wollen, auch wenn man andernfalls nicht in den Markt eintreten würde. ‚De-risking‘ bedeutet, dass man über die Länder hinweg diversifiziert, um für diesen Fall besser gerüstet zu sein. Aber allein zur Risikoabsicherung Handelbeziehungen zu mehreren Ländern gleichzeitig aufrechtzuerhalten, das ist sehr kostspielig. Und es bringt ja nur dann etwas, wenn die Risiken, über die verschiedenen Länder hinweg betrachtet, negativ korreliert sind. Da werden kleinere oder mittlere Firmen schnell überfordert sein. Und nota bene: Eine Konzentration auf das Inlandsgeschäft ist eigentlich das Gegenteil von Risikostreuung, denn man setzt dann gewissermaßen nur auf ‚ein Pferd‘.“ Wie einzelne Unternehmen, oder auch einzelne Sektoren reagieren werden und was die Folgen sind, bleibe abzuwarten, werde aber in einem aktuellen Forschungsprojekt beobachtet, analysiert, bewertet und Teil einer zukunftsgerichteten wissenschaftlichen Lehre werden müssen.

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