Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von bedrohten Ordnungen

November 2018

Vom Sturm auf Konstantinopel im Jahr 626 bis hin zu den Terroranschlägen des 11. Septembers: Wissenschaftler an der Universität Tübingen erforschen seit sieben Jahren „Bedrohte Ordnungen“ – mit dem Ziel, aus historischen Krisen Erkenntnisse abzuleiten, wie Menschen typischerweise mit Bedrohungsszenarien umgehen. Althistoriker Mischa Meier (47), Sprecher des Sonderforschungsbereichs, sagt im Interview: „Das Existenzielle einer Bedrohung ruft Reaktionsmuster hervor, die sich über die Zeiten und Räume hinweg vergleichend analysieren lassen.“ Die Ergebnisse könnten zur „Relativierung des Alarmismus“ der heutigen Zeit beitragen.

Die Bedrohungen der Gegenwart scheinen vielfältig, omnipräsent, unüberwindbar. Haben sich Gesellschaften denn immer schon als bedroht wahrgenommen?

Krisengerede ist allgegenwärtig, das war schon immer so. Heutzutage stehen uns natürlich Massenmedien, insbesondere das Internet, zur Verfügung, die dafür sorgen, dass Schreckensbilder und Schreckensmeldungen ständig omnipräsent sind. Das führt dazu, dass wir uns heutzutage vielleicht noch stärker oder auch noch hysterischer als bedroht wahrnehmen als in früheren Zeiten. Aber es ist eben genau eines der Ziele unseres Projekts „Bedrohte Ordnungen“, dass wir durch unsere vergleichenden Analysen über Zeiten und Räume hinweg zur Einordnung und möglicherweise auch zur Relativierung eines solchen Alarmismus beizutragen versuchen. Wir versuchen, Erkenntnisse abzuleiten, wie Menschen typischerweise mit Bedrohungssituationen umgehen, indem wir uns das von der Antike bis in die Gegenwart ansehen.

Was darf man sich denn unter dem Begriff „Bedrohte Ordnungen“ vorstellen?

Unter „Bedrohten Ordnungen“ verstehen wir in unserem Forschungsverbund Situationen, in denen Gruppen von Menschen oder ganze Gesellschaften extrem hohem, ja existenziellem Stress ausgesetzt sind. Menschen erkennen eine Bedrohung und nehmen wahr, dass ihr Leben nicht mehr so wie sonst funktioniert. Alltägliche Routinen greifen nicht mehr, man beginnt um seine Zukunft und Existenz zu fürchten, dies ist zumindest die Wahrnehmung der Betroffenen.

Krisengerede ist allgegenwärtig, das war schon immer so.

Und das führt dann dazu …

… dass die Menschen anfangen, sich durch verstärkte Kommunikation intensiv mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Sie beginnen Strategien zu entwickeln, mit denen sie die vermeintliche „gute alte Ordnung“ wiederherzustellen glauben oder gezielt etwas Neues schaffen. Und dabei denkt man auch verstärkt darüber nach, wer man eigentlich ist – und wer „die anderen“ sind. Dadurch kommt es zu verschärften sozialen Prozessen, etwa zu Ausgrenzungen bestimmter Gruppen und Personen. Und man versucht, eine neue Erwartungssicherheit herzustellen.

Sie erforschen – und vergleichen – „Bedrohte Ordnungen“, von der Belagerung Konstantinopels, über Klosterauflösungen durch die Reformation bis hin zum 11. September 2001. Lassen sich denn, bei aller Unterschiedlichkeit der Ereignisse, wirklich Gemeinsamkeiten wahrnehmen?

Ja, das ist auch das eigentlich Spannende an unserem Projekt. Unsere Vorgehensweise versetzt uns tatsächlich in die Lage, den Awaren-Angriff auf Konstantinopel im Jahr 626 gemeinsam mit medialen Bewältigungsstrategien von 9/11 zu diskutieren und dabei Ergebnisse zu liefern. Wir gehen davon aus, dass das Existenzielle einer Bedrohung Reaktionsmuster hervorruft, die sich über die Zeiten und Räume hinweg vergleichend analysieren lassen. Dazu gehören etwa Inklusions- und Exklusionsprozesse, Verschiebungen im Machtgefüge von Gesellschaften wie das Entstehen neuer Eliten oder das Absinken früherer Eliten. Wir haben auch Parallelen darin erkannt, wie man auf die Vergangenheit zurückgreift und versucht, die „gute alte Zeit“ zum Argument im Prozess des „reordering“ zu machen. In Bedrohten Ordnungen sind die Menschen empfänglicher dafür, wenn bestimmte Leute auftreten und sagen: „Drehen wir doch die Uhr zurück, alles wird wieder, wie es einmal war!“ Aber auch für Versuche, ganz andere Ordnungen zu schaffen, entstehen nun neue Freiräume. Und es scheint auch in der alltäglichen Kommunikation Versatzstücke zu geben, die immer wieder auftauchen, um beispielsweise soziale Ausgrenzungen zu rechtfertigen.

Sie sind Althistoriker, der Awaren-Angriff auf Konstantinopel ist Ihr Thema …

Wir beschäftigen uns mit dem 7. Jahrhundert, einer Zeit der Umbrüche. Während im Westen Europas und in Italien Goten, Franken und Langobarden auf den Trümmern des Weströmischen Reiches eine neue, mittelalterliche Welt aufbauten, kämpfte im Osten der verbliebene Teil des einst mächtigen Imperium Romanum um sein physisches Überleben: Von Norden her drangen Awaren und Slawen über die Donaugrenze, plünderten und verwüsteten ganze Landschaften und standen 626 sogar vor den Toren Konstantinopels. Und auf der asiatischen Seite des Bosporus lagerten die Perser und konnten jederzeit ebenfalls angreifen. In Konstantinopel schien die Lage also aussichtslos. Die offensichtlichste Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden war die Stadtmauer: draußen die Belagerer, drinnen die Belagerten. Aber es gab noch eine andere, eine ideelle Barriere, die die Menschen in Konstantinopel von ihren Angreifern trennte: der christliche Glaube. Für sie waren die Ungläubigen nicht nur eine Bedrohung für die Stadt, sondern für das gesamte Christentum. Der Anführer der Belagerer, der Khagan, schien ihnen eine Ausgeburt der Hölle zu sein, der leibhaftige Antichrist. Dies wirkte sich auf das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Identität der Menschen in der Stadt aus. Sie alle sahen sich nicht nur als Verteidiger einer umzingelten Stadt, sondern kämpften gleichzeitig mit und für ihre christliche Überzeugung. Und in der Hoffnung auf göttlichen Beistand und mit vereinten Kräften konnten sie die Feinde letztlich besiegen …

Wir hoffen, dass wir mit unseren Analysen bedrohter Ordnungen vor allem schnellen sozialen Wandel besser einordnen und interpretieren können.

In Ihrer Forschung heißt es, Menschen sähen sich in solchen krisenhaften Situationen mit vier Fragen konfrontiert: Wer bedroht uns? Wer sind wir?
Was brauchen wir? Was tun wir? 

Frage eins bezieht sich auf die Identifikation der Bedrohung beziehungsweise der Bedrohungsquelle: Zunächst einmal muss in einer Gesellschaft ja mehrheitlich akzeptiert sein, dass es eine Bedrohung gibt, und es muss zumindest einen Teilkonsens darüber geben, worin diese eigentlich besteht, von wem oder was sie ausgeht. Die Identifikation dieser Bedrohung, die „Diagnose“, hat dann bereits Auswirkungen auf die Formen, die das Bewältigungshandeln annehmen kann.

Frage zwei: Wer sind wir?

Diese Frage bezieht sich auf eine unmittelbare Konsequenz daraus: Wenn eine Bedrohung festgestellt wurde, versuchen unterschiedliche Individuen und Gruppen, ihrer Herr zu werden. Das, was wir Bewältigungspraxis nennen, setzt jetzt ein. Aber diese ist immer mit Kosten verbunden, etwa mit Reflexionen darüber, wer eigentlich dazugehört und wer nicht, und ihren mitunter gewaltsamen Folgen – beispielsweise Vertreibungen und Gewalt. Es werden also Identitätsfragen aufgeworfen und mit neuer Heftigkeit ausgehandelt. Betroffene müssen sich von Neuem vergewissern, wer sie eigentlich sind, vor allem im Bezug zu „den anderen“ – die jetzt natürlich ihrerseits neu definiert werden.

Frage drei: Was brauchen wir?

Die Frage, was wir brauchen, zielt auf das, was wir Mobilisierung nennen. Innerhalb einer Bedrohten Ordnung braucht man Ressourcen, materielle und personelle, um die Ordnung wiederherzustellen oder eine neue zu etablieren. Das ist aufwendig und immer mit konkreten Machtfragen verknüpft. Denn nicht jeder hat von vornherein dieselben Möglichkeiten, auf Ressourcen zuzugreifen, wie andere. Man muss sich durchsetzen.

Und Frage vier: Was tun wir?

Diese Frage zielt konkret auf die Bewältigungspraxis. Wir sehen uns natürlich sehr genau an, wie einzelne Gruppen oder Gesellschaften mit Bedrohten Ordnungen umgehen, welche Varianzen es gibt und wovon diese abhängig sind.

Obgleich das Ausmaß unterschiedlich ist, bedeutet bedrohte Ordnung immer auch: Wandel …

Das ist richtig. Am Ende eines Bewältigungsprozesses – wir nennen das reordering – steht nie dieselbe Ordnung wie am Anfang. Auch wenn Betroffene das anders sehen mögen. Ein erfolgreiches reordering, und noch mehr ein erfolgloses, wird immer mit hohen Kosten erkauft. Das liegt zum einen daran, dass Ordnungen ohnehin immer dynamische Gebilde sind, die man sich nicht statisch oder unveränderlich vorstellen darf. Keine Ordnung bleibt sich stets gleich. Und im reordering kommen dann so viele Macht- und Identitätsprozesse dazu, dass meistens ein – das ist wichtig – beschleunigter Wandel die Folge ist. Auch das ist ein Aspekt, den wir sehr intensiv betrachten. Wir hoffen, dass wir mit unseren Analysen Bedrohter Ordnungen vor allem schnellen sozialen Wandel besser einordnen und interpretieren können.

Kann man sagen, ab wann Veränderungen und Wandel als Bedrohung erlebt werden?

Das ist sehr unterschiedlich, weil Wandel prinzipiell ja immer stattfindet und in der Regel von Zeitgenossen kaum wahrgenommen wird, jedenfalls nicht in unserem Sinne als Bedrohung. Aber wenn Betroffene das Gefühl haben, dass ihr Alltag einfach nicht mehr so funktioniert wie bisher, wenn sie das Vertrauen in Mitmenschen und die Zukunft verlieren und darüber erregte Debatten geführt werden – im Sinne unserer Bedrohungskommunikation – dann haben wir doch sehr starke Indizien dafür, dass Wandel sich nicht mehr einfach nur vollzieht oder nebenher läuft, sondern dass jetzt ein Gefühl der Bedrohung Einzug hält und die Betroffenen so stark verunsichert, dass sie Maßnahmen einzuleiten beginnen.

Der ver­gleichende Blick über Epochen und Räume hinweg ist wichtig. Das hilft uns, vieles von dem, das heute auf uns einströmt, besser einzuordnen.

Lässt sich denn da auch ein Zeitpunkt definieren, wann das „Eindringen des Bedrohlichen“ nicht nur individuell, sondern auch kollektiv als solches empfunden wird? Müssen denn da, bildlich gesprochen, die Awaren schon vor den Stadttoren stehen?

Das ist grundsätzlich extrem schwer messbar, zumal in zeitlich und räumlich entlegenen Gesellschaften, die nicht über ähnliche Medien verfügen wie wir. Wir gehen aber davon aus, dass Bedrohte Ordnungen voraussetzungsreich sind. Zunächst einmal muss feststellbar sein, dass extrem erregt über die vermeintliche Bedrohung geredet, geschrieben, gestritten wird – das nennen wir etwas sperrig „Bedrohungskommunikation“. Wenn erkennbar wird, dass diese Bedrohungskommunikation gegenüber anderen großen Themen einen hegemonialen Status erreicht und alles überlagert, dann kann man vom erfolgreichen „Eindringen des Bedrohlichen“ in eine Gesellschaft sprechen. Trotz des – auch historisch – allgegenwärtigen Krisengeredes sind solche Situationen aber eher selten. Das bedeutet aber auch: Die Awaren müssen – theoretisch – keineswegs schon vor der Stadt stehen, sondern schon die allgemeine Angst davor, fassbar in einer entsprechenden Bedrohungskommunikation und daraus folgenden Reaktionen, würde prinzipiell genügen. Wichtig ist aber, dass die Awaren als greifbare, vorstellbare Größe zumindest irgendwo existieren müssen. Auch wenn die konkrete Bedrohung für uns als Betrachter nicht in jeder Situation klar fassbar ist – Bedrohungskommunikation und damit zusammenhängende Vorstellungen des Verlorenseins benötigen immer etwas, woran sie anknüpfen, sich festmachen können. Wir reden nicht über reine Kommunikationsphänomene oder gar Missverständnisse.

Mediale, politische Skandalisierung kann Bedrohungsängste hervorrufen und Menschen prägen; doch auch das ist nicht neu, es hat sich nur die Gestalt der Medien verändert.

Ja, das ist richtig. Für die früheren Phasen der Geschichte, also etwa auch die Antike, für die ich im Rahmen des Projektes als Althistoriker selbst zuständig bin, können wir natürlich nicht annähernd auf ähnliche Medien und Skandalisierungspotenziale zurückgreifen, wie sie uns in gegenwartsnahen Situationen zur Verfügung stehen. Trotzdem weist das wenige, das wir haben, auf bemerkenswerte Parallelen hin. Umso wichtiger ist der vergleichende Blick über Epochen und Räume hinweg. Das hilft uns, vieles von dem, das heute auf uns einströmt, besser einzuordnen.

Bedrohten Ordnungen folgt zwingend Neues? 
Nein. Anderes.

Heißt das letztendlich auch, dass der Wandel gestaltbar ist?

Wandel ist immer gestaltbar und er wird auch immer von uns mitgestaltet, meistens ohne dass wir das selbst besonders wahrnehmen. Bedrohte Ordnungen sind Situationen, in denen Betroffene sich in besonderer Weise dieser Gestaltungsmöglichkeiten bewusst werden und dann darum ringen, diesen Prozess aktiv und möglichst in dominierender Position in die Hand nehmen zu können. Dadurch werden Handlungsketten in Bewegung gesetzt, die mit dazu führen, dass Bedrohte Ordnungen zu beschleunigtem Wandel führen.

Charles Dickens beginnt seine „Geschichte aus zwei Städten“ mit den schönen Sätzen: „Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit. Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Torheit.“ Frei nach Dickens, in welcher Zeit leben wir denn?

Wir leben in unserer Zeit; Weisheit und Torheit liegen genauso nebeneinander wie immer schon. Und wir sollten uns darum bemühen, diese Zeit aktiv und verantwortungsbewusst mitzugestalten. Wir haben dazu viele Möglichkeiten – auch ohne uns in Bedrohten Ordnungen verorten zu müssen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

„Bedrohte Ordnungen“

Historische und gegenwärtige Gesellschaften unter Stress sind Gegenstand des Sonderforschungsbereiches „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen. Die Arbeiten am Projekt begannen im Juli 2011. Die derzeit laufende zweite Phase des Projektes umfasst 19 Teilprojekte mit insgesamt 41 Einzeluntersuchungen. Dutzende Forscher, auch internationale Gastwissenschaftler, sind involviert, Meier ist Sprecher des Sonder­forschungsbereiches.

Tipp! Ein virtueller Rückgang zum Thema findet sich unter https://bedrohte-ordnungen.de

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