Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von den Möglichkeiten, der Tyrannei von Moral und Werten zu entkommen

Juni 2016

Der Philosoph Andreas Urs Sommer (43) sagt im „Thema Vorarlberg“-Interview, dass Werte niemals eine absolute Gültigkeit haben können, sondern immer nur eine Frage der Perspektive sind – und illustriert das Gesagte am Fall Böhmermann und an der österreichischen Bundespräsidentenwahl. Sommers Credo: „Wir sollten mutig die Vielfalt der Werte und auch die Veränderbarkeit der Werte verteidigen.“

Sie legen sich im Vorwort Ihres aktuellen Buches fest: Wer Werte leugnet, gilt als intellektueller Terrorist …

Und als nihilistischer Feind der Menschheit, ja. Auch wenn häufig gar nicht klar ist, um welche Werte es sich handelt, scheinen Werte heute etwas zu sein, zu dem man sich bekennen muss. Wer im heutigen sozialen Kontext Werte leugnet, scheint sozialer Ächtung anheimzufallen.

Um Sie nicht falsch zu verstehen: Sie sagen nicht, dass es keine Werte gibt. Sie sagen nur: Es gibt keine allgemein gültigen Werte, weil Werte relativ und stets eine Frage der Perspektive sind. Was dem einen von Wert ist, sagt dem anderen gar nichts.

Tatsächlich scheint es mir wichtig, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, wir alle hätten genau dieselben gemeinsamen Werte, auf die wir quasi eingeschworen werden könnten. Vielmehr herrscht eine Pluralität von Werten vor. Aber das ist kein Befund, der zu einem kulturkritischen Lamento Anlass geben muss und schon gar nicht dazu führen sollte, einen einheitlichen Wertekodex einzufordern. Es ist als Positivum anzusehen, seinen eigenen Werten und Wertepräferenzen nachgehen zu können. Denn gerade diese Pluralität der Werte und der Konflikt der Werte nötigen uns dazu, im täglichen Verkehr zu einem Ausgleich zu kommen.

Allerdings leben wir in einer Welt, die immer moralisierter wird. Sie sprechen ja selbst von Moraldespoten, die anderen ihre eigenen Wertvorstellungen aufoktroyieren wollen.

Es besteht eine gewisse Tendenz zur moralischen Überfrachtung unterschiedlichster Lebensbereiche. Es scheint, dass sich Moralen – ich würde immer nur von einem Plural der Moralen reden wollen, weil es auch da keine Einheitsmoral gibt – als Mittel herauskristallisieren, Dinge, die miteinander nichts zu tun haben, ins Verhältnis zu setzen. So soll mitunter der Anschein einer völlig einen, einheitlichen Welt erzeugt werden, von Menschen, die ihre Moral verabsolutieren und daraus eine allgemeine Menschheitsmoral machen, der sich alle zu fügen haben. Die Neigung ist verlockend, die eine Moral für ein Universalheilmittel zu halten. Ich sage aber: Eine Pluralität von Moralen ist wünschenswert und normal. Gesellschaft funktioniert, ohne dass ständig Moralen regulativ eingreifen.

Es gibt Schriftsteller und Philosophen, die von einer Diktatur der Moral sprechen, die nur das Ziel verfolge, den Bürger zu entmündigen. Teilen Sie deren Einschätzung?

Das scheint mir wiederum eine überzogene Sichtweise zu sein. Es ist schon von der Tyrannei der Werte gesprochen worden, aber auch das scheint mir am Problem vorbeizugehen. Denn die tyrannische Herrschaft könnte ja nur eine Einheit, einen einzigen Wert ausüben und nicht eine Vielheit. Den ganz dicken Moral-Belag, der sich über alles legt, den gibt es nicht. Es gibt zwar überall größere und kleinere Moral- und Werteflecken, die die Suggestion erzeugen, dass wir bevormundet würden, aber gleichzeitig auch viele Möglichkeiten, der Tyrannei, der moralischen Despotie zu entkommen – weil man sich immer wieder für andere Werte, für andere Moralen entscheiden kann. Werte sind relativ.

Nehmen wir doch den Fall Böhmermann, um das Gesagte zu illustrieren.

Die Debatte, die sich um das satirische Gedicht von Böhmermann entsponnen hat, zeigt einen solchen Konflikt der Werte in geradezu klassischer Art und Weise. Die politischen Interessen in diesem Fall beiseite gelassen, steht der Wert der Freiheit der Meinungsäußerung und der Kunst dem Wert des Persönlichkeitsschutzes entgegen. Diese Werte prallen sozusagen unvermittelt aufeinander. Wir haben nun die Fragen der unterschiedlichen Gewichtung, könnten sagen, na gut, der Persönlichkeitsschutz ist in diesem Fall, wo es um einen sich despotisch gebärdenden Präsidenten geht, weniger stark zu gewichten, als wenn es nur um eine Privatfehde ginge. Aber im Kern ist der Fundamentalkonflikt, ob man nun den Wert der Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung höher erachtet als den Wert des Persönlichkeitsschutzes, prinzipiell unauflösbar.

Weil Werte niemals absolut gelten können? Ist es das, was Sie sagen?

In der Tat. Gäbe es einen absoluten Wert und eine absolute Wertehierarchie, in der der Wert des Persönlichkeitsschutzes über dem der freien Meinungsäußerung stünde, oder umgekehrt, dann müsste man diesen konkreten Fall nur in ein Schema einsortieren und könnte entscheiden. Aber das gibt es eben nicht, weil kein Wert absolut gilt, und weil das Wertegefüge ein Gefüge im ständigen Fluss ist.

Apropos: In diesen Tagen ist viel von einem Europa der Werte die Rede. Existiert dieses Europa der Werte in Ihren Augen überhaupt?

Nein. Wer von einem Europa der Werte spricht, geht davon aus, dass Europa Werte hat, die es von anderen Weltteilen unterscheidet, kann aber häufig nicht sagen, um welche Werte es sich dabei eigentlich handelt. Und dieses Unvermögen, die Werte Europas zu definieren, hängt damit zusammen, dass das Wertgefüge, das faktisch auf unserem Kontinent herrscht, äußerst vielgestaltig ist. Wir haben nicht ein Set von Werten, weil es in diesem Europa keine einheitliche Weltanschauung gibt. Was wir als europäische oder abendländische Werte bezeichnen, ist ein sehr buntes Gemisch, das sich teilweise aus religiösen Quellen im Juden- und Christentum, aus antiken säkularen Quellen, der griechischen Philosophie und dem römischen Recht, entscheidend aber auch aus der Aufklärung speist. Dieses Gemisch ist höchst konfliktträchtig.

Wer zu uns kommt und hier leben will, soll unsere Werte akzeptieren, heißt es. Nun sagen Sie, es gebe keinen einheitlichen Wertekanon. Wie also lässt sich das vereinbaren?

Das ist eine schwierige Frage, weil natürlich in der Tat diese Aussage von der irrigen Vorstellung ausgeht, dass es eine solche Werteeinheit gebe. Und da gilt, was ich zuvor gesagt habe: Soll die Aufforderung zur Anpassung bedeuten, dass Flüchtlinge, die zu uns kommen, sich an den Werten, die beispielsweise bestimmte fundamentalistisch-christliche Gruppen in Europa haben, orientieren sollen? Oder an den säkularen Werten der Agnostiker? Und wie geht die Anpassungsaufforderung zusammen mit der Idee, dass wir eine Freiheit der weltanschaulichen Selbstbestimmung haben, die einem nicht erlaubt, in den privaten Überzeugungshaushalt anderer Menschen einzugreifen? Es wird ausgesprochen schwierig sein, Menschen, die zu uns kommen, einem Weltanschauungsdiktat zu unterwerfen – allein schon wegen des Umstands, dass wir dieses Weltanschauungsdiktat ja auch nicht jenen aufdrücken, die schon hier sind. Die, wir alle würden das auch nicht akzeptieren. Das ließe sich niemand gefallen, der in Europa lebt.

Klingt, als ob Europa da nichts verlangen dürfte von den Flüchtlingen.

Was man verlangen kann, was man verlangen muss, ist die strikte Einhaltung der bestehenden Rechtsordnung. Es ist eine fundamentale Forderung, dass man die Rechtsordnung so akzeptiert, wie sie hier ist. Aber was die Werte betrifft: Werte sind nichts Feststehendes, Werte sind in ständiger Bewegung, in ständiger Transformation. Wie sich im Wertegefüge die Akzente rasch verschieben, sieht man, wenn man an die anfänglich euphorische Willkommenskultur denkt, in der auf einmal die Werte der Solidarität und des Mitgefühls eine unverhoffte gesellschaftliche Dominanz bekommen haben. Die Art und Weise, wie sich das österreichische Wahlvolk in der Präsidentenwahl positioniert hat, zeigt aber, dass für viele wieder andere Werte in den Vordergrund gerückt sind: Diese meinen jetzt, man müsse sich wieder auf angeblich alte, nationale Werte besinnen – was auch immer diese Werte sein mögen. Aber all das ist in ständiger Transformation. Zumal das Ganze ja auch in einem medialen Dauerbetrieb in Fluss gehalten wurde und wird …

Sie schreiben, dass maßgeblich die Medien Moral als Mittel einsetzen, um eine Verbindung zu Bereichen herzustellen, die den einzelnen Menschen eigentlich gar nicht betreffen.

Das ist natürlich eine provozierende Aussage. Durch die Erzeugung von moralischer Verbindlichkeit, durch die Suggestion von moralischer Empfindlichkeit wird der Zuschauer oder die Leserin in völlig anderer Art und Weise in das Geschehen hineingezogen. Moral stellt generell die Möglichkeiten her, zwischen Bereichen, die eigentlich miteinander nichts zu tun haben, eine Verbindung herzustellen. Man hätte bei den Panama Papers beispielsweise sagen können, wenn Leute ihr Geld irgendwo bei Briefkastenfirmen deponieren, ist das ein Problem, mit dem sich Steuerbehörden auseinandersetzen sollen. Aber die Diskussion lief stark in eine moralische Richtung, Medien sagten, es sei unmoralisch, sein Geld nach Panama zu transferieren, es müsse der Allgemeinheit zugute kommen. Die Schiene in dieser ganzen medialen Aufregung um diese Panama-Leaks war die Schiene der moralischen Entrüstung, obwohl offensichtlich in vielen Fällen juristisch streng genommen völlig legal war, was die Leute mit ihrem Geld angestellt haben.

Sie stellen auch fest, dass in Talkshows und politischen Sonntagsreden Werte häufiger bemüht würden als sonst wo. Wie ist das zu verstehen?

Wenn sich Menschen unterhalten, nehmen sie selten explizit auf Werte Bezug. Wenn jemand sagt, er engagiere sich für die Asylwerber im Dorf, dann fügt er normalerweise nicht hinzu, dass er das tue, weil er an den Wert der Mitmenschlichkeit glaube. Wohingegen Leute, die in Talkshows auftreten, Leute, die öffentlich gefragt sind, Werte quasi wie eine Monstranz vor sich her tragen. Sie suggerieren damit, sie würden das auch tun, was sie mit ihren Werten propagieren. Den Beweis bleiben sie meistens schuldig. Werte haben in diesem medialen Diskurs häufig eine Popanz-Funktion, sie wirken toll, sie klingen großartig, aber bei genauem Hinschauen lösen sie sich sehr schnell auf, wie Nebelschwaden im Sonnenlicht.

Wobei Sie da den schönen Satz formulieren: „Wo ein Politiker auf ein Fundament zu blicken glaubt, blickt ein aufmerksamer Beobachter nur in den Abgrund.“

Das „Wertefundament“ ist auch so ein Wort, das Politiker ganz häufig im Mund führen, und man weiß nie, was das eigentlich ist. Wertefundament klingt eben noch besser als Werte, weil es die Suggestion hat, dass da etwas ganz festgefügt ist. Und doch scheint es mir ein höchst fragwürdiger Begriff zu sein, der nur den Eindruck verstärkt, dass Werte in der politischen Kommunikation häufig der Nebelerzeugung dienen. In Wahrheit aber sind Werte nichts, was ein für alle Mal per Mehrheitsbeschluss festgelegt worden wäre. Werte unterliegen Veränderungen, unterliegen Moden, unterliegen sozialen Bedingungen. Ein einheitliches Wertefundament, ein einheitlicher Wertekatalog, ein absolut geltender Wert wäre erschreckend. In der Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre, etwa in Hitlers „Mein Kampf“, tauchen Werte übrigens sehr häufig auf. Der begriffliche Bezug auf Werte ist also keineswegs reserviert für liberale, demokratische Kontexte. Im Gegenteil hören wir heutzutage ja relativ oft von politisch extremen Gruppen, sie seien die einzigen, die sich auf Werte bezögen. Soll heißen: Werte sind keineswegs Garant für eine bestimmte politisch-demokratische Auffassung, und das wiederum bedeutet, bei Werten immer genau hinzusehen. Und gerade weil in totalitären Einheitsgesellschaften nur ein Wert zählt – im Nationalsozialismus zählte nur der Wert der „Rasse“ oder des „Volkes“ –, plädiere ich für einen Pluralismus der Werte, den es zu verteidigen gilt. Damit wird sichergestellt, dass die Interessen der Menschen immer wieder neu untereinander ausgeglichen werden können.

Jeder Mensch hat seine eigenen Werte. Und das ist gut so. Lautet so Ihr Fazit?

Das, glaube ich, ist ein ganz richtiges Fazit. Wir sollten mutig die Vielfalt der Werte und auch die Veränderbarkeit der Werte verteidigen!

Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

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