Oskar Egle

Oskar Egle * 1960, lebt in Koblach. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Musikhauptschule Bergmannstraße, Dornbirn, ist er seit 1992 Vorsitzender des Musikausschusses beim Chorverband Vorarlberg. Er ist gefragter Referent und Juror bei Singseminaren und Chorleiterkursen. Neben vielen anderen musikalischen und organisatorischen Tätigkeiten ist er Haupt­organisator der internationalen Vokalwoche St. Gerold. 1993 wurde ihm aufgrund seiner besonderen Verdienste der Preis des „Erwin-Ortner-Fonds zur Förderung der Chormusik“ verliehen.

Von der Individualisierung der Lebensführung zur Egoismus-Gesellschaft

Mai 2019

Alle Vereinsverantwortlichen spüren, dass einen Verein zu führen mit den Jahren nicht einfacher geworden ist – ganz im Gegenteil. Wir sehen uns mit Veränderungen konfrontiert.

Durch meine berufliche Tätigkeit als Lehrer und als Leiter des Landesjugendchores habe ich viel mit jungen Menschen zu tun. Es ist unübersehbar: die Jungen „ticken“ anders – das ist nicht wertend zu verstehen. Wenn sich eine Gesellschaft so radikal ändert wie unsere, wieso sollten diese Veränderungen keinerlei Auswirkungen auf das Vereinsleben haben? Zynisch formuliert: Vielleicht kann man nicht gleichzeitig immer am Handy sein, seine Social-Media-Kanäle und Dating-Apps verwalten, Serien und YouTube schauen, gut aussehen, seinen Körper fit halten, sich gesund ernähren, den Helikopter-Eltern keine Sorgen machen, in der Informationsflut im Internet den Überblick bewahren, sich für die Umwelt engagieren, zur Psychotherapie gehen, sich gegen die Konkurrenz am Arbeitsmarkt durchsetzen – und auch noch an einem erfüllten Vereinsleben teilnehmen. 
Die modernen Gesellschaften sind heute mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert: Die Belastungen und der Stress am Arbeitsplatz nehmen zu, ebenso wie der Selbstoptimierungsdruck und die steigende Zahl an psychischen Erkrankungen. Zudem sehen wir uns einer gestiegenen Tendenz – vermutlich als Folge der genannten Entwicklungen – zur Individualisierung der Lebensführung, um nicht zu sagen dem Aufkommen einer Egoismus-Gesellschaft gegenüber. Verbunden ist dies alles mit einer Wohlstandssteigerung und einem einhergehenden perfiden Konsumverhalten, fortschreitenden Umweltbelastungen sowie der Digitalisierung, einem exzessiven Smartphone- sowie Social-Media-Konsum und damit dem Druck, jederzeit und überall online sein zu müssen.
Der Mensch leidet unter Schlafmangel, dem Verlust von Bindungsfähigkeit und sieht sich einem riesigen Angebot von Freizeitmöglichkeiten gegenüber, als stünde man am prall gefüllten Buffet und hätte plötzlich keinen Hunger mehr.
Junge Menschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren – man nennt sie Millennials – wären für Vereine und damit für Chöre besonders interessant. Sie haben folgendes gemeinsam: Eine analoge Kindheit, die in ein digitales Erwachsenwerden überging, einen Berufseinstieg in einer Krisenzeit sowie Unsicherheitserfahrungen durch globalen Terror. Diese jungen Menschen zwischen 18 und 34 Jahren blicken laut Studienbeobachtungen eher pessimistisch in die Zukunft, haben ein tiefes Misstrauen gegen die Finanzwelt und die Wirtschaft, denken mehr an ihren Job als ihre Eltern und sind im Durchschnitt gestresster als die Generation vor ihnen. Ihnen ist die Work-Life-Balance sehr wichtig und reagieren auf erhöhten Druck von außen mit erhöhtem Druck nach innen.
Bei den Millennials verschwimmen die Grenzen zwischen Job und Privatleben immer mehr. Sie sind als Kinder von „Helikopter Eltern“ aufgewachsen – das sind Eltern, die ständig über dem Leben ihrer Kinder schwebten und bereit waren, bei Schwierigkeiten hinabzustoßen und zu helfen. All diese Veränderungen machen es nicht einfacher, junge Menschen in unsere Chöre zu bekommen. Aber vielleicht ist uns schon geholfen, wenn wir einen etwas anderen Blick auf die Problematik bekommen. Allzu gerne gehen wir doch von uns aus – wie war es, als wir zum Chor, in den Verein gekommen sind.

Die soziale Funktion von Freundschaft gewinnt an Bedeutung
Untersuchungen belegen: Wer langjährige Freundschaften pflegt und lebt, fühlt sich subjektiv zufriedener, belastbarer und besser im sozialen Leben verankert. All diese vorhin erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen führen dazu, dass die soziale Funktion von Freundschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt. Freundschaften treten immer stärker an jene Stelle, die vormals durch die Familie, durch organisch gewachsene Lebenszusammenhänge und biologische Verwandtschaft ausgefüllt wurde. Da Partner und Arbeitgeber häufig wechseln, eine eigene Familie nicht mehr selbstverständlich ist und immer weniger Menschen in der Religion Trost finden, werden Freundschaften eine der „zentralen Relais-Stationen des sozialen Zusammenhalts“.
Das müssen wir als Chor, das müssen Vereine an sich in der Argumentation nützen. Wir – als Gemeinschaft – bieten ein Gesamtpaket bestehend aus musikalischer oder sonstiger Aktivität, wir bieten Freundschaft und Geselligkeit. Der angesprochenen Tendenz zur Egoismus-Gesellschaft können und müssen die Vereine aktiv entgegentreten. Zum Wohl der Gesellschaft, zum Wohl der Gemeinschaft.

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