Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von der Revolution des Menschseins

Februar 2020

Lars Jaeger (50), Physiker und Philosoph, sieht die heutige Zeit von einem erstaunlichen Widerspruch geprägt – vom „Widerspruch zwischen grenzenlosem Wohlstand und Zukunftsangst“. Im Interview sagt der Wissenschaftler, dass der Endlichkeit der Ressourcen die Endlosigkeit der menschlichen Kreativität entgegenstehe und ihn das optimistisch stimme. Allerdings benennt der Autor in seinem neuen Buch mit der „Humankrise“ auch eine wirkliche Krise: „Wir stehen an der Schwelle zu einer Revolution des Menschseins an sich.“
Sein Appell: „Wir brauchen Mut zur Gestaltung der Zukunft.“

Sie fordern in Ihrem Buch, der Mensch solle „mehr Zukunft wagen“. Allerdings hat es den Anschein, dass sich die Menschheit heute mehr denn je in apokalyptischen Szenarien ergeht ...

Apokalyptische Visionen waren immer schon in der Psychologie der menschlichen Gesellschaft vorhanden, sie finden sich in allen Zeiten, denken Sie nur an die entsprechenden Stellen in der Bibel oder an Dantes „Göttliche Komödie“. Doch ging die Apokalypse im Mittelalter, in der Renaissance, noch bis in die Neuzeit hinein von einer transzendenten Gewalt aus. Sie war von Gott gesteuert, sie traf den sündigen Menschen. Die Apokalypsen der heutigen Zeit sind dagegen menschengemacht. Und die Vorstellungen der Apokalypse werden durch die Technologie immer konkreter, etwa: Der Klimawandel zerstört unsere Lebensgrundlage. Oder: Die Künstliche Intelligenz übernimmt die Menschheit ...

Ist also anstelle der Angst vor einem strafenden Gott die Angst vor der Mensch-Maschine getreten?

Ja. Oder auch die vor dem Gott-Menschen. Dass der Mensch in seiner Wirkungsmacht durch Technologien jene Kraft und Macht entwickelt, die wir früher Gott zugesprochen haben, das ist auch ein Entwicklungstrend der Technologie. Der Historiker Yuval Harari schreibt ja davon, dass wir in unserer Gestaltungskraft zu Göttern werden. 

Sie stellen in Ihrem Buch fest, dass „ein erstaunlicher Widerspruch“ unsere Zeit präge. 

Ja. Der Widerspruch zwischen grenzenlosem Wohlstand einerseits und Zukunftsangst andererseits prägt unsere Zeit. Im Vergleich mit unseren Vorfahren leben wir heute dank der technologischen Entwicklung in immer mehr Wohlstand, fast schon in paradiesischen Zuständen, gemessen an früheren Jahrhunderten. Gleichzeitig haben wir aber Angst, dass uns diese Technologien verändern und bedrohen. Wir haben Zukunftsangst. Die Menschen fürchten sich davor, als Menschen entmündigt zu werden, durch Bio- und Gentechnologie, durch Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität, durch Super- und Quantencomputer. In der Psychologie des Einzelnen findet sich da im Übrigen auch eine gewisse Widersprüchlichkeit. Wir nutzen die Technologien, beispielsweise das GPS im Auto, wir mögen das und glauben auch daran, aber andererseits fürchten wir uns gleichzeitig davor, dass uns der technologische Fortschritt überrollt.

Der Widerspruch zwischen grenzen­losem Wohlstand und Zukunftsangst prägt unsere Zeit.

Dabei handle es sich bei jenen Krisen, die wir heute so stark wahrnehmen, nur um Probleme, die im Prinzip lösbar seien, heißt es in Ihrem Buch. Wie ist das gemeint?

Wer heute von einer Krise spricht, meint etwas Bedrohliches und zeitgleich Abstraktes. Der Begriff der „Krise“ aus dem Altgriechischen beschreibt allerdings einen Übergang, einen Moment der Entscheidung, an dem eine Veränderung eintreten muss, entweder zum Guten oder zum Schlechten. Die sogenannte Klimakrise ist kein Übergang, sie ist ein Problem. Und das können wir lösen. Das wäre technologisch ohne weiteres möglich, wir müssten vielleicht nur temporär auf ein bisschen Wohlstand verzichten. Nur politisch und ökonomisch hakt es hier. Ich behaupte sogar, dass wir heute alle diese sogenannten Krisen lösen können, denen wir gegenüberstehen.

Was macht Sie da so optimistisch?

Der britische Nationalökonom Thomas Robert Malthus hatte im 18. Jahrhundert die Endlichkeit der Ressourcen mit der Dynamik des Bevölkerungswachstums in Verbindung gesetzt. Seine pessimistischen Aussagen zu kommenden Knappheiten und Hungersnöten haben das Denken der Menschen geprägt. Die Geschichte hat Malthus allerdings deutlich widerlegt. Hungerten um 1800 noch über 90 Prozent der Menschen, ist der Anteil hungernder Menschen heute auf 11 Prozent gesunken. Und ich behaupte, dass in 30 Jahren überhaupt niemand mehr hungern wird. Denn entgegen der Theorie von Malthus sorgen technologische Entwicklungen seit 200 Jahren für ausreichend Ressourcen einer stark wachsenden Bevölkerung. Der Endlichkeit der Ressourcen steht also die Endlosigkeit der menschlichen Kreativität entgegen, und das macht mich optimistisch.

 

Seit Tausenden von Jahren ist der Mensch der Mensch geblieben. Doch das ändert sich. Jetzt gerade!

Allerdings benennen Sie in Ihrem Buch auch eine Krise, die umfassend und bedrohlich sei ...

Ja. Die Humankrise. 

Ihre Feststellung? Dramatisch. Sie schreiben: „Wir stehen an der Schwelle zu einer Revolution des Menschseins an sich.“

Wir haben mit all den wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen der vergangenen 250 Jahre die Natur um uns herum verändert. Was wir aber nicht verändert haben, ist der Mensch selbst in seiner körperlichen und geistigen Verfassung. Seit Tausenden von Jahren ist der Mensch der Mensch geblieben. Doch das ändert sich. Jetzt gerade! Wir sind dabei, nicht mehr nur die Natur um uns herum, sondern auch den Menschen zu verändern, und zwar auch in seinen Grundlagen, sei das genetisch-biologisch, sei das psychologisch-phänomenologisch. Das geht in die Richtung, die Aldous Huxley in seiner „Brave New World“ beschrieben hat. Neue Technologien tragen zu dieser Humankrise bei, sie bergen Risiken, sie bergen aber auch Chancen.

Welche neuen Technologien sind gemeint?

Gentechnologien – Stichwort CRISPR-Babys. Künstliche Intelligenz – Superintelligenz, Big Data Kontrolle. Gehirntechnologien – beispielsweise Neuro-Enhancement, Gehirn-Computer-Schnittstellen. Nanotechnologien – Nano-Roboter im Körper. Und Alterstechnologien – Ewiges Leben.

Hat die Realität Huxleys einstige Utopien also bereits eingeholt?

Die Realität hat einstige Utopien immer wieder eingeholt. Denken Sie nur an Leonardo da Vincis Flugmaschinen. Nur ist das Tempo ein anderes geworden. Selbst Huxley hatte sich nicht vorstellen können, wie schnell das gehen würde. Er hatte in seinem 1932 veröffentlichten Buch geschrieben, dass der Mensch in der Lage ist, den Menschen genetisch zu manipulieren. Wissen Sie, wann Huxley seinen Roman spielen ließ? Im Jahre 2540 (!). Und wenn man sich ansieht, was CRISPR in der Bio- und Gentechnologie bedeutet, dann sind wir heute schon in der Lage, tatsächlich an dieses Szenario denken zu können – weniger als 100 Jahre nach Huxleys Roman. Dem Herzschrittmacher wird der Gehirnschrittmacher folgen. Doch wird das über das rein Medizinische hinausgehen, man wird in die Sphäre des gesunden Menschen eingreifen. Chips in unserem Gehirn oder eine perfekte virtuelle Realität werden die Phänomenologie unserer Erfahrung verändern, künstliche Intelligenz unser Denken. Körper und Geist werden genetisch verändert werden, was ganz neue soziale Differenzen hervorbringen könnte. Die technologische Entwicklung beschleunigt sich, in einem Ausmaß, dass politische oder gesellschaftliche Diskussionen gar nicht mehr hinterherkommen. 

Und damit verschwinden – ein Zitat von Ihnen – die letzten „Komfortzonen absoluter Gewissheit“.

Auch das ist eine historische Entwicklung. Mit Kopernikus verloren wir unsere Zentralstellung im Universum. Darwin zeigte uns, dass wir nicht im Zentrum der Schöpfung stehen, Freud zeigte uns, dass wir noch nicht einmal Herr im eigenen Haus unseres Geistes sind. Und in der modernen Physik verschwindet der Objektivitätsbegriff. Sie wissen in der Quantenphysik nicht mehr, was ein Objekt ist. Mit Ergebnissen neuer Wissenschaften verschwinden Gewissheiten, die zuvor als ewig geltend, als absolut erachtet wurden. 

Sie warnen allerdings auch davor, die Technologie allein den Technokraten zu überlassen ...

Das zeigt uns ebenso die Geschichte. Die erste technologische Manifestation der Quantenphysik war die Atombombe. Die war im Geheimen von Wissenschaftlern und Technologen gebaut worden, unter Führung des US-amerikanischen Militärs, ohne jeglichen Diskurs, ohne jegliche Kontrolle. Die Atombombe und die Art, wie sie entwickelt wurde, war ein Urverbrechen der Wissenschaft. Und das führe ich auch deswegen aus, weil wir heute wieder eine Situation haben, in der viele technologische Entwicklungen überhaupt keiner Kontrolle mehr unterliegen. Dass Google beispielsweise an einer Künstlichen Intelligenz arbeitet, die uns Menschen überlegen sein könnte, und an einem Quantencomputer, der schneller rechnet als alles, was wir bisher gesehen haben, dass in China in Genetik-Labors ganz neue genetische Verfahren entwickelt werden, all das geschieht nicht nur außerhalb einer Kontrolle, es geschieht sogar auch außerhalb einer breiten Wahrnehmung. Ich sage, dass wir die Entwicklung dieser völlig neuen Technologien nicht nur den Demokratien und ihren Demokraten überlassen sollten, nein, ich gehe sogar weiter und sage: Der technologische Fortschritt sollte auch nicht der puren kapitalistischen Verwertungslogik überlassen werden. Und das ist im Moment leider der Fall. Entweder ist es eine kapitalistische oder eine militärische Verwertungslogik, die die technologischen Entwicklungen vorantreibt.  Und das halte ich für sehr gefährlich.

Entscheidend, um die Zukunft gestalten zu können, werde eine Allianz aller gesellschaftlichen Kräfte sein und eine gemeinsame demokratische Kultur. Das aber, Herr Jaeger, ist eine Utopie, oder? 

Es ist keine Utopie, die im Sinn von Thomas Morus eine andere Welt und einen anderen Ort meint. Es ist die Hoffnung, dass eine demokratische Gestaltung des technologischen Fortschritts Realität wird. Die Europäische Union hat bereits eine Expertenkommission ins Leben gerufen, die sich mit der künftigen Gestaltung der Künstlichen Intelligenz auseinandersetzt. Und der deutsche Ethikrat hat sich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, was es heißt, den Menschen genetisch verändern zu können. Doch noch werden diese Diskussionen getrennt von allen gesellschaftlichen Institutionen geführt, ohne breite Öffentlichkeit. Das muss sich ändern. Jeder Einzelne sollte sich mit diesen Themen beschäftigen! Die Klimabewegung hat gezeigt, was möglich ist. Wacht auf! Und beschäftigt euch mit der Frage, was es bedeutet, dass wir den Menschen verändern können! 

 

Ich behaupte sogar, dass wir heute alle diese sogenannten Krisen lösen können, denen wir gegenüberstehen.

Sie schreiben, es sei bereits Gefahr in Verzug ...

Wir müssen uns mit dieser Humankrise beschäftigen. Nicht die Frage, ob wir mehr Flüchtlinge aufnehmen können oder die Banken besser regulieren sollen, ob neun oder zehn Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben können und ob sich der Klimawandel noch stoppen lässt, ist für unsere Zukunft allesentscheidend. All diese Fragen lassen sich bei nüchterner Betrachtung und gutem Willen mit einem Ja beantworten. Die zentrale Frage ist, wie weit wir der Technologie erlauben dürfen, den Menschen in seinen grundlegenden genetischen, geistigen, psychologischen und physischen Eigenschaften zu verändern. Dies ist keine Frage, für deren Beantwortung wir uns beliebig lange Zeit lassen können. Wir müssen umgehend zu einer Entscheidung finden, sonst ist der Moment, in dem wir noch gestaltend eingreifen können, unwiederbringlich vorbei. 

Und wie würde, wie könnte ein Fazit lauten?

Wir brauchen nicht nur Mut zur Zukunft, wir brauchen Mut zur Gestaltung der Zukunft. Doch dazu muss der Mensch auch zur Akzeptanz seiner Arroganz und Ignoranz bereit sein. Kant sprach von der Fähigkeit des Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Nun, die Aufklärung muss nicht neu ausgerufen werden. Aber es ist daran zu erinnern, wie wichtig es ist, kritisch zu sein gegenüber bestehenden Meinungen und gegenüber bestehenden Autoritäten. Wir müssen das Neue als Chance begreifen, aber wir dürfen die Bedrohung nicht übersehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Buchtipp

„Mehr Zukunft wagen! Wie wir alle vom Fortschritt profitieren“, Gütersloher Verlagshaus, 2019

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