Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von der Verzögerung der Zeit – und einer „InnehalteStelle“ in Feldkirch

Oktober 2021

Der Schweizer Künstler Mark Riklin (55) bespielt im Rahmen der „Montforter Zwischentöne“ eine „Innehalte­stelle“ in Feldkirch. Im Interview sagt Riklin, dass es sich viele Menschen leisten könnten, hin und wieder innezuhalten – und sich zu überlegen, was im Leben wirklich wesentlich ist.

Herr Riklin, Sie bespielen im Rahmen der „Montforter Zwischentöne“ eine „Inne­haltestelle“ in Feldkirch. Was ist denn eine „Innehaltestelle“?
Es ist eine Haltestelle, die nicht nach außen, sondern nach innen führt, zu den wesentlichen Fragen des eigenen Lebens. Aber ich möchte gleich vorwegschicken: Ein Freund von mir, Martin Liebmann, hat diese Innehaltestelle erfunden; wunderschön umgesetzt hat sie Architektin Bianca Anna Böckle. Von mir stammt nur der kleinste Teil, ich versuche sie zu bespielen. Wobei mir die Ausgestaltung vermutlich erst in Feldkirch, im Zusammenspiel mit den Menschen vor Ort, klarwerden wird …

Aber nachdem Sie der Schweizer Landesvertreter des Vereins zur Verzögerung der Zeit sind, wird diese Haltestelle in jedem Fall auch dieser Verzögerung der Zeit dienen, oder? 
Das hoffe ich. Innehalten ist eine Form des Verzögerns. Anhalten, aus dem Hamsterrad aussteigen, das eigene Leben auch einmal von außen betrachten und sich wesentliche Fragen stellen, anstatt immer weiter und weiter zu rennen. Manche Menschen rennen mit Scheuklappen durch das eigene Leben.

Es gibt vielfach den Wunsch nach Entschleunigung in dieser hektischen Zeit. Allerdings finden nur die wenigsten in sich selbst auch den Willen, zu entschleunigen.
Ja. Aber es hat auch nicht jede und jeder die Möglichkeit dazu. Auch Zeit ist ungerecht verteilt. Diese Feststellung ist mir wichtig. Wenn ich an eine alleinerziehende Mutter denke, an einen alleinerziehenden Vater oder an Leute, die in prekären Anstellungsverhältnissen arbeiten, dann ist es fast schon zynisch zu sagen, alle könnten sich Zeit nehmen. Aber ich glaube, dass mehr Leute mehr Spielräume hätten, als sie selbst glauben. Es könnten sich meiner Meinung nach wesentlich mehr Menschen leisten, hin und wieder innezuhalten. Und sich zu überlegen, was in ihrem Leben wirklich wesentlich ist und was man ersatzlos streichen könnte, ohne dabei viel zu verlieren. Der erste Schritt ist innehalten, der zweite Platz machen und Leerraum schaffen, der dritte aber ist der schönste: Überlegen, was man mit der gewonnenen Zeit machen könnte, zum Beispiel ein Plädoyer halten für das ewige Anfangen. 

Ein Plädoyer für das ewige Anfangen?
Der Anfängerstatus hat in unserer Gesellschaft einen viel zu schlechten Ruf. Alle wollen ihn möglichst schnell verlassen. Dabei ist es eine unglaubliche Qualität, Anfänger zu sein, noch keine blinden Flecken zu haben, sich erlauben zu dürfen, etwas noch nicht zu können, die Lust, etwas Neues zu versuchen, zu experimentieren.

Sie sagten in einem Interview, Sie würden eine „Not-to-do-Liste“ führen und dort Unwichtiges eintragen, um Platz zu schaffen für das Wesentliche.
Eine solche Liste zu führen, klingt einfach. Und absurd zugleich. Dahinter stecken aber schwierige Fragen: Sind wir fremdbestimmt? Erfüllen wir die Erwartungen anderer, um ihnen zu gefallen? Müssten wir öfters nein sagen? Es ist gerade diese Kunst des Nein-Sagens, die uns oft zu wenig gelingt.

Welche persönlichen Zeitdiebe haben Sie beim Führen dieser Liste ausfindig gemacht?
Ein – überraschungsfreies – Beispiel hat mit unserem Medienkonsum zu tun. Ich habe mir, angeregt durch den St. Galler Schriftsteller Rolf Dobelli, eine Nachrichten-Diät verschrieben. Ich mag das Wort. Es ist meine persönliche Diät, mich bewusst dafür zu entscheiden, wann ich in welchem Ausmaß in welchen Medien Nachrichten konsumiere. Ich will den Tag nicht mit medialem Kurz-Futter beginnen. Das heißt nicht, dass ich mich dem äußeren Leben gegenüber verschließe. Aber ich fokussiere mich eher auf längere, ausgeruhte Texte. Eine andere Kategorie betrifft den Haushalt. Wie viele Menschen gibt es, die den Inhalt ihres Geschirrspülers wieder und wieder umschichten? Oder ihre bereits gut geputzte Wohnung noch besser putzen? Das hat viel mit Ansprüchen zu tun, mit Selbstansprüchen. Wir leben in einer optimierten, in einer selbstoptimierten Welt, in der man möglichst perfekt sein muss. 

Was tun Sie mit der gewonnenen Zeit?
Viele Menschen kommen erst durch einen Schicksalsschlag an einen Punkt, der sie zwingt, die Unterscheidung zu treffen, was wesentlich ist und was nicht. Aber es gibt auch den anderen Weg. Man kann auch ohne Schicksalsschlag in seinem Leben diese Unterscheidung treffen. Das Buch „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ widmet sich der Frage, was Menschen im Rückblick bereuen. Eigentlich ist das Ergebnis erschreckend banal: Menschen bereuen, Dinge nicht gemacht zu haben, die an sich selbstverständlich wären. Beispielsweise in Beziehungen zu investieren. Mir ist meine Familie sehr wichtig, meine Frau, meine Kinder. Unsere beiden Töchter sind bald zwölf und vierzehn Jahre alt. Sie brauchen uns immer weniger, aber wenn sie uns brauchen, dann ist es wichtig, präsent zu sein. Richtig da zu sein. Vielleicht nur für einen kurzen Moment. Aber der ist wichtig. 

Im richtigen Moment da zu sein, präsent zu sein, das klingt gut …
Es gibt Menschen, die ihr Glück nicht in der Langsamkeit, sondern in hohem Tempo finden und darin, vieles gleichzeitig zu tun. Alle sprechen von Multi-Tasking. Ich bin eher ein Vertreter des Mono-Taskings. Das ist das Gegenteil. Es ist ein Luxus, ein Geschenk, sich voll und ganz einer Sache oder einer Person widmen zu können. Natürlich kann man das nicht ständig machen, das Leben wäre wohl nicht mehr bewältigbar. Aber die Frage ist: Warum füllt man das Leben bis zum Letzten aus? Warum muss jeder, wirklich jeder Moment bewirtschaftet sein? Warum können wir nicht einfach einmal auch nichts tun und uns die Zeit nehmen, über uns und unser Leben nachzudenken? Warum greifen Menschen, wenn sie warten müssen, sofort zu ihrem Smartphone? Warum haben Paare, wenn sie im Restaurant sitzen, auf dem Tisch ihre Handys liegen? In unserer Gesellschaft fällt das schon gar nicht mehr auf. Es ist zur Gewohnheit geworden. Aber dieser Zwang, ständig den Moment bewirtschaften zu müssen, ist, philosophisch gesehen, nichts anderes als eine Ablenkung von sich selbst. Es ist anstrengend, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und sich dann mit existenziellen Fragen auseinandersetzen zu müssen …

In der Pandemie hatte der eine oder andere wohl mehr Zeit für sich selbst, als ihm lieb war, mehr Zeit, als er zu nutzen gewillt war.
Ja. Wobei das eine wichtige Bildungsaufgabe wäre. Im „SBW Haus des Lernens“ konnte ich ein Fach namens „Angewandte Glückswissenschaft“ unterrichten. Damit waren entscheidende Fragen verbunden: Was macht mich zufrieden, vielleicht gar glücklich? Wo ist mein innerer Antrieb? Wie werde ich, der ich bin? Wie lerne ich den Umgang mit Zeit? Viele Kinder müssen eine Kindheit lang das machen, was von ihnen erwartet wird, von Eltern, von Lehrpersonen. Aber was ist mit der Fähigkeit, sein eigenes Ding machen zu können? Sich mit sich selbst beschäftigen zu können? Was hindert uns daran, dass solche Fragen in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen, in einer Zeit, in der sich das Altern verlangsamt, aber die Kindheit beschleunigt? Mir kommt da ein Buch in den Sinn …

Welches?
Eines von Marianne Gronemeyer: „Das Leben als letzte Gelegenheit.“ Das Leben, dieses kostbare Gut, nicht zu verschwenden, indem man den Tag mit so viel Unwichtigem füllt und sich ablenken lässt vom wirklich Wesentlichen. Immer mehr Menschen sehnen sich nach Einfachheit, nach Minimalismus – und nach Essenzialismus.

Im „Club der toten Dichter“ wird Thoreau zitiert: „Ich wollte das Mark des Lebens in mich aufsaugen … damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte“.
Wunderbar, dass Sie das ansprechen. Das ist genau der Punkt. Carpe diem. Ich habe als Lehrer mit diesem faszinierenden Film gearbeitet, habe einen „Club der jungen Dichter“ gegründet, mit meinen Schüler*innen darüber philosophiert, wie wichtig es ist, sein eigenes Leben zu leben. Mir fällt eine Anekdote ein, aus St. Gallen. Da steht an einer Mauer die Frage: „Heute schon gelebt?“ Ich wollte immer schon herausfinden, wer das mit welchem Motiv an diese Wand geschrieben hat. Diese philosophischen Worte. Habe ich heute wirklich schon mein Leben gelebt? Und nicht ein fremdes Leben? Eine Frage mit Tiefgang, die zum Nachdenken anregt. 

Und da kommt wieder die „Innehaltestelle“ in Feldkirch ins Spiel …
Sie ist ein Blickfang, vielleicht auch eine Irritation. Aber eine Irritation ist stets ein guter Grund, kurz stehen zu bleiben, ins Gespräch zu kommen. Ich experimentiere gerne mit Gedankenanstößen im öffentlichen Raum, werfe Fragen auf, die auf den ersten Blick absurd scheinen. Die Menschen schütteln teilweise den Kopf und schmunzeln gleichzeitig. Aber sie beginnen nachzudenken, nehmen die Frage mit. Sie tragen sie weiter, sie wird so zu einer wandernden Geschichte. Denn Menschen erzählen weiter, was von der eigenen Erwartung abweicht. 

Wollen Sie unseren Lesern auch eine solche Frage stellen?
Haben Sie heute schon nichts gemacht?

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Montforter Zwischentöne 

4. November bis 1. Dezember 2021 im Montforthaus Feldkirch, Vorarlberger Landes­konservatorium, Alten Hallenbad, Palais Liechtenstein, Schloss Amberg und an Küchentischen im ganzen Land.
Unter dem Titel „Vom Beenden zum Anfangen‘ lädt das innovative Festival zu einem überaus bunten Programm an musikalischen Darbietungen. So auch im Dialog mit anderen Kunst- sowie Wissenschaftssparten, von der Literatur, Fotografie und Performance bis zur Philosophie und Soziologie. Weitere Infos, darunter das detaillierte Programm, sowie Tickets finden sich auf www.montforter­zwischentoene.at

 

Zur Person

MarK Riklin *1965, künstlerischer Leiter und Herausgeber der „Stadt als Bühne“, Leiter der „Meldestelle für Glücksmomente“. Schweizer Landesvertreter des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“. Lehrbeauftragter an der FHS OST. Geschichtenkurier im SBW Haus des Lernens. M. A. in Sozialwissenschaften an der Uni Konstanz.

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