Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, seit 2001 bei der „Presse“ in Wien, seit 2005 im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technologie, Raumfahrt, Militärwesen und Geschichte.

Von einem Rechtsruck, der kaum einer war

Dezember 2017

Seit der Nationalratswahl heißt es inflationär, dass der Zeitgeist von links nach rechts gekippt sei. Das ist wohl ein Irrtum: Die Grundstimmung im Land ist seit Jahrzehnten mehrheitlich rechts von Links, nur haben das viele Medien verkannt und deklarierte Linke sich überschätzt.

„Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Goethe: Faust I, 575-577

Das Heulen und Zähneknirschen nach der Wahl im Oktober ist laut in Teilen der Gesellschaft. Nicht zuletzt dort, wo man Kapazitäten und/oder Kanäle für öffentlichkeitskeitswirksame publizistische Meinungsäußerung hat.

Die SPÖ stagnierte, die Grünen traten ab, die bürgerliche Mitte und (teils auch nationale) Rechte siegten. Die Linke um die Kernplaneten SPÖ/Grüne/Pilz (die KPÖ ist ignorierbar und NEOS ein Sonderfall, dazu später) kratzte 35 Prozent zusammen und schrumpfte zum Reichsdrittel. Sie beweint einen „Rechtsruck“, den auch viele Journalisten diagnostizieren. „Der Zeitgeist weht von rechts“, wird’s bisweilen nobel formuliert.

Nobel kann man auch einen Irrtum formulieren. Ist der Zeitgeist echt nach rechts gerückt oder war er nicht schon dort? Hatten Rechtsruckseher lange nur etwas verwechselt? Glaubten sie, etwas als Zeitgeist zu spüren, das doch nur ein flatterhafter Teil-Zeitgeist war? Haben sie, die „Linksruck“ meist lächelnd schreiben, etwas Größeres, Beständigeres übersehen?

Was ist der „Zeitgeist“, den als Wort wohl Johann Gottfried Herder 1769 prägte und der als „genius saeculi“ schon früher bekannt war, eigentlich? Man weiß es intuitiv: Denkweisen, Mentalitäten, politische, soziale, künstlerische und andere Ideen, die in einer Gesellschaft zeitweise ganz stark sind. Goethe sagte, Zeitgeist drücke ein „gesellschaftliches Übergewicht“ aus, wo „eine Seite besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss.“

Ihm sei widersprochen: Der Zeitgeist ist nicht zwingend ein monolithisches Etwas. Denn wo und wie, bleiben wir beim Politischen, misst man ihn? Ist er das, was im Idealfall die Mehrheit denkt? Mehrheiten denken aber meist leise, weil sich die Masse en gros nur schwer äußern kann. Oder ist er das, was eine aktive Minderheit laut von sich gibt?

Ich denke, es schweben meist mindestens zwei Zeitgeister: der Laute und der Leise. Der Laute ist leicht messbar, da er über öffentliche „Lautsprecher“ tönt: (1) Medien; (2) Kunstbetrieb und Intellektuelle; (3) NGOs; (4) Bildungsbetrieb, etwa Schulen und Unis. Mitwirkende von 2, 3 und 4 nutzen auch Kanal 1. Gruppe 4 konzentriert sich aber mehr auf räumlich abgeschiedenes Wirken, wobei es in Klassen und Hörsälen nicht nur ums Vermitteln von Wissen, sondern auch ums Hegen und Pflegen von Werten, Meinungen und Ideologien geht.

Dass diese Lautsprecher einen tendenziell linkskanalisierten Ton haben, ist weder neu noch Vorwurf. An Unis ist das etwa im Geiwi-Bereich, einem Motor für Phänomene wie Political Correctness (PC), praktisch deklariert. In großen Teilen der Medienbranche ist Linksdrall täglich erlebbar. „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak ortete in der Oppositionswelle gegen die künftige Regierung „teils hysterisch anmutende Aussagen vieler Aktivisten, unter die sich viel zu viele Journalisten gemischt haben“.

„Presse“-Innenpolitiker Oliver Pink schrieb, dass sich ein erheblicher Anteil der Journalistenszene zur „städtisch-akademischen Geistesarbeiterschicht bürgerlicher Provenienz“, aber mit Linksdrall zählt, und „diesen kleinen Kosmos für die reale Welt hält“. Also sind viele Medien weniger ein Abbild der Öffentlichkeit als eines ihrer Macher. Dass sie speziell in den letzten Jahren sehr oft an Interessen und Denken breiter Massen vorbeitönten, ist bekannt. Die vier Lautsprecher und ihre Mitwirkenden, die zudem dazu neigen, in Blasen Gleichgesinnter zu verkehren, erschaffen also einen Teil-Zeitgeist, der größer wirkt, als er ist.
Das Internet mit seinen (a)sozialen Medien, Postingflächen und Foren könnte als fünfter Lautsprecher gelten. Er beschallt aber mehr den Backstage-Bereich des öffentlichen Theaters mit all seinen Echokammern, digital von der analogen Welt getrennt, eine raunende Parallelöffentlichkeit, ein Sonderfall. Weil das Web für alle offen ist, ist die anfängliche Linksdominanz darin heute geschwächt; es liefert nun ein etwas schärferes Bild von Öffentlichkeit und Zeitgeist. Aber das ist ein anderes Thema.

Jetzt zum leisen Zeitgeist: Der lässt sich etwa durch persönliche Gespräche fern der Vier-Lautsprecher-Szene und Blicke ins Internet stichprobenartig erahnen, erscheint aber als aggregiertes Gesamtbild in der Regel erst in Umfragen und Wahlen. Demnach hatten bei den zuvor 21 Parlamentswahlen in Österreich von 1945 bis 2013 bürgerliche/rechte Parteien meistens die Absolute: Ignoriert man Unter-ein-Prozent-Gruppen und rundet, ergab es im Schnitt nach klassischem Rechts-/Links-Schema ein Verhältnis von 53 zu 46 Prozent. Im jüngsten Zeitraum 1995 bis 2013 hatte sich das sogar auf 56 zu 43 verschoben, der Spalt sich also fast verdoppelt. Man bemerke: In den 1990ern sickerte die PC ein, in den 2000ern hob das Gendern an. Die Linke war nur 1945, 1971, 1975 und 1979 stärker – mit maximal 51,6 Prozent.
Sogar Wien wählte im Oktober eigentlich Rechts: SP/Grüne/Pilz/KP kamen auf 49,28 Prozent, VP/FP/NEOS auf 49,41! Die jungen NEOS sind bei dieser Rechnung haarscharf rechts der Mitte verortet, wie es die meisten Beobachter tun, unter Hinweis etwa auf den (wirtschafts)liberalen Tenor der Strolz-Truppe, ihre wieder rigidere Migrationspolitik und den gescheiterten Plan eines Wahlbündnisses mit Sebastian Kurz. Sie selbst sehen sich weder rechts noch links. Naja.

Noch was: Die SPÖ war immer rechter, als sie wirkte. Der Masse ihrer Wähler war und ist wie zu Beginn der Arbeiterbewegung nicht Theoretisieren, sondern materielle Existenzsicherung wichtig, etwa durch faire Löhne und Arbeitsbedingungen, leistbares Gesundheitswesen. Als das bis in die 1970er-Jahre weitgehend erreicht war, machten intellektuelle Zirkel mit Politologenprägung die Partei zum Vehikel abstrakterer Themen wie erst freier, dann „richtiger“ Lebensgestaltung, Gesinnung, Moral, Weltoffenheit oder lockerer Zuwanderung. Das mag oft gut gewesen sein. Dass die SPÖ aber eine sozial linksideologische Schale und einen rechtsdrehenden Kern hatte, wurde sichtbar, als sie ab den 1990ern zur FPÖ hin ausrann.

Wie meint der Philosoph Robert Pfaller: „Wenn Sozialdemokratie nur noch für Binnen-Is, Rauchverbote und den Umgang mit Zwischengeschlechtlichkeit steht, braucht man sich nicht wundern, dass Eltern, die nicht wissen, wie sie ihren Kindern den nächsten Schulausflug bezahlen sollen, anders wählen.“

Der leise Zeitgeist war also schon seit Langem rechts von Links. Der Laute hat das Gegenteil nur vorgaukelt.

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