Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Wenn vor der Tür ein Löwe sitzt

Februar 2021

Gerald Hüther (70), einer der bekanntesten Hirnforscher, sagt im Interview: „Wir müssen zwischen einer realen Gefahr und einer nur in unserer Vorstellungswelt existierenden Bedrohung unterscheiden lernen.“
Ein Gespräch über Wege aus der Angst, Systemfehler in der Gesellschaft – und die Unbeherrschbarkeit des Lebens.

Die Pandemie, die Masken, die Einschränkungen des Lebens sind allgegenwärtig.
Ist damit auch die Angst allgegenwärtig, Herr Professor? 

Ja. Als bei uns die ersten Meldungen über die Ausbreitung dieses Virus aufgetaucht sind und ich gespürt habe, wie sich plötzlich Angst ausbreitet, habe ich mich hingesetzt, nachgedacht und meine Gedanken aufgeschrieben. So ist das Buch „Wege aus der Angst“ entstanden, ein Buch, das eigentlich den Hintergrund dieser Pandemie beschreibt. Ich wollte mir Klarheit darüber verschaffen, was diese Angst mit den Menschen macht. Und warum sich eine solche Angst fast noch schneller als das Virus selbst ausbreiten kann. 

Und warum konnte sich die Angst schneller ausbreiten als das Virus selbst?
Weil dafür schon der Boden bereitet war. Unsere Gesellschaft hat schon vorher dazu geneigt, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen gegen Schwierigkeiten nicht mehr resistent sind. Menschen können mit Problemen nicht mehr umgehen, sie sind nicht mehr so richtig bei sich. Sie haben vor allem eines verloren: Das Vertrauen. Und Vertrauen ist die größte Ressource gegen Angst. Es ist eine Gesellschaft geworden, in der sehr viele Menschen kein Vertrauen mehr haben. 

Vertrauen?
Es gibt drei Vertrauens-Ressourcen. Die erste Ressource ist das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen. Das kann man aber nur haben, wenn man auch in seinem Leben schon oft genug Gelegenheit gehabt hat, Probleme selbstständig zu lösen. Wenn ich dagegen immer alles von irgendwelchen Dienstleistern erledigt bekomme und als Kind bei Eltern groß werde, die mir alles aus dem Weg räumen, dann kann ich gar nicht lernen, wie ich Probleme löse. Da sieht es nicht gut aus in unserer Gesellschaft. Sehr viele Menschen wissen gar nicht mehr, wie das Leben geht. Sie geraten schon in Panik, wenn nur mal der Abfluss verstopft ist. 

Und was ist die zweite Ressource?
Das ist das Vertrauen, dass es noch andere gibt, die man gut kennt, auf die man sich verlassen und mit denen man ein Problem vielleicht gemeinsam lösen kann. Das geht aber in unserer Gesellschaft, in der Leistungsdruck und Konkurrenz bestimmend sind, relativ schlecht. Da zerfallen Beziehungen, da ist sich jeder selbst der Nächste und am Ende hat man nur noch wenige und oftmals gar keine Menschen mehr, an die man sich wenden kann. Die dritte Ressource ist vielleicht die stärkste. Das ist das Vertrauen, dass es wieder gut wird. Sie ahnen schon, das hat etwas Spirituelles, das in unserer Gesellschaft nicht mehr ganz so verbreitet ist. Früher hatte das die Kirche geliefert. Aber von der haben sich ja viele zurückgezogen. Heute glaubt der Mensch, er müsse das alleine hinbekommen. 
Lässt sich Vertrauen auch wieder zurück­gewinnen?
Ja. Aber das ist kein schneller Prozess. Weil es auch in unserem Wirtschaftssystem strukturell angelegte Gründe gibt, warum dieses Vertrauen verschwindet: Eine Dienstleistungsgesellschaft neigt dazu, Menschen inkompetent zu machen. Eine Konkurrenzgesellschaft neigt dazu, das soziale Vertrauen zu untergraben. Und eine Gesellschaft, die ihre Spiritualität verloren hat und nur noch an ökonomische Gegebenheiten glaubt, neigt dazu, in Angst und Panik zu verfallen, wenn es einmal nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hat.

Da dürfte das mediale Dauerfeuer, das sich seit Ausbruch der Pandemie über das Land gelegt hat, alles andere als hilfreich sein …
Das ist nicht hilfreich. Was die gesamte Menschheit in Angst versetzt, ist im Grunde genommen ja nicht dieses Virus, sondern die sich noch rascher über die Medien global ausbreitende Vorstellung von seiner Gefährlichkeit. Aber man muss da auch die Frage stellen, ob es nicht ein Systemfehler ist, wenn einzelne Themen derartig nach oben gespült werden, dass sich die gesamte Öffentlichkeit um nichts anderes mehr dreht …

Ihr Buch lässt sich auch als Kritik an den Medien und an der Politik im Umgang mit der Pandemie lesen, weil deren Protagonisten Ängste ganz gezielt schüren und steuern.
Ja. Allerdings ist es mir sehr wichtig, zu sagen, dass diese Situation nicht erst mit Corona aufgetaucht ist. Vielmehr ist es in unserer gesamten Gesellschaft schon seit vielen Generationen so, dass es immer wieder Menschen gibt, die Angst schüren, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Man kann Menschen durch das Schüren von Angst gefügig machen. Und da muss man nicht erst Politiker heute sein. 

Sondern?
Das ist immer schon so gemacht worden. Denken Sie nur an das Fegefeuer, das die katholische Kirche verkündet hat, damit sich die Menschen möglichst an die Vorgaben halten. Und man kann in Elternhäusern nachschauen. Es gibt genügend Eltern, die ihren Kindern sagen: ‚Wenn Du Dich nicht richtig anstrengst, dann wird das nichts mit Deinem Leben.‘ Man schürt Angst, um etwas zu erreichen. Produkte, Leistungen, Dienstleistungen, Warnungen werden ja auch immer über diese Angst lanciert. So bekommen sie allerdings keine selbstbestimmten Menschen, sondern nur Menschen, die aus Angst, nicht genug zu sein, lernen und folgen.

Und doch sagten Sie in einem Interview, es wäre „absolut absurd, wenn es uns gelänge, die Angst zu besiegen“. Wie ist das gemeint?
Wir müssen Angst haben. Wir brauchen Angst. Denn biologisch gesehen ist Angst ein Mechanismus, der uns hilft, wieder auf einen mit dem Leben vereinbaren Weg zurückzufinden, wenn wir uns verirrt haben. Nur: Wir müssen zwischen einer realen Gefahr und einer nur in unserer Vorstellungswelt existierenden Bedrohung unterscheiden lernen. Das ist äußerst wichtig, weil das sehr viel mit der Corona-Situation zu tun hat! 

Lässt sich das mit einem Beispiel illustrieren?
Nehmen Sie einmal an, Sie öffnen eine Tür und davor sitzt ein Löwe. Sie wissen dann ziemlich genau, was Sie zu tun haben: Die Türe wieder zu schließen. Sie verbarrikadieren sich, der Löwe bleibt draußen, alles ist gut. Wenn Sie sich nun aber nur vorstellen, dass vor vielen Türen ein Löwe sitzen könnte und dann auch noch im Fernsehen gemeldet wird, dass in der Stadt momentan sehr viele, sehr hungrige Löwen unterwegs sind und auch schon Menschen gefressen haben – dann bekommen sie immer mehr Angst. Sie bekommen Angst vor der Angst. Nur können sie dieser vorgestellten Angst nicht begegnen. Und deswegen ist das so gefährlich. Dem Körper und dem Hirn des Menschen ist es – physiologisch gesprochen – egal, ob die Angst real oder nur vorgestellt ist …

Was ist Angst? Was geschieht da im Gehirn? 
Das Hirn ist so beschaffen, dass stets versucht wird, alles in Einklang zu bringen. Neurowissenschaftlich gesprochen heißt das, dass alle Nervenzellen im Hirn ständig versuchen, einen Zustand zu erreichen, in dem die Aktivitäten alle gut zusammenpassen und miteinander korrelieren. Das ist der Zustand, in dem am wenigsten Energie verbraucht wird. Wenn nun aber beispielsweise die Meldung kommt, dass ein gefährliches Virus beginnt, sich auszubreiten und demnächst auch Österreich erreicht – dann passt das nicht. 

Sondern?
Dann bringt das im Hirn alles durcheinander, es wird inkohärent, die Nervenzellen feuern durcheinander, die Erregung breitet sich im Hirn immer weiter aus, es wird immer energieaufwendiger. Man hat’s nicht gerne, wenn das nicht passt. Und deswegen versuchen wir alle immer wieder, einen Zustand anzustreben, in dem Denken und Handeln eine Einheit sind und in dem die Erwartungen mit den Realitäten übereinstimmen. Und gleichzeitig ist es so, dass wir alle intuitiv wissen, dass wir diesen Zustand nie erreichen. Wir haben ja schöne Namen dafür: Schlaraffenland. Paradies. Himmelreich. Dort ist es in der Vorstellung so, dass alles passt. Aber solange wir lebendig sind, passt das nie. Und das ist eben das Kennzeichen des Lebens: Dass es nie richtig passt. 

Formulieren Sie auch deswegen den – sehr schönen – Gedanken, wir müssten „lernen, mit der Unbeherrschbarkeit des Lebens unseren Frieden zu machen“?
Das ist die Quintessenz all dessen, was wir aus dieser Corona-Problematik lernen können und lernen müssen: Dass es nicht möglich sein wird, das Leben zu beherrschen. Das Leben zeichnet sich dadurch aus, dass es unbeherrschbar ist und sich immer wieder neu auf irgendeine Art und Weise organisiert. Deshalb wird man auch kein Virus beherrschen können und man wird auch nicht seinen Nachbarn, seine Frau oder seine Kinder beherrschen können und nach seinen eigenen Vorstellungen so lange zurechtbiegen, bis sie einem wirklich passen. Es wäre günstiger, wir würden uns damit abfinden und aufhören, an anderen herumzumachen. Wir sollten vielmehr schauen, wie wir mit den anderen so zusammenleben können, dass es für alle gut ist. Denn dann hört man auch auf, zu bekämpfen.

Was ist zu tun, wie kommen wir raus aus dieser Angst?
Indem wir versuchen, uns gegenseitig selbst zu stärken. Also: ich helfe Ihnen, dass Sie Vertrauen in Ihre eigenen Kompetenzen zurückgewinnen. Ich helfe Ihnen, dass Sie das Gefühl haben, sich auf mich verlassen zu können. Und ich helfe Ihnen, indem ich Ihnen viele schöne Geschichten erzähle, um Ihnen Mut zu machen und daran zu glauben, dass eigentlich alles immer wieder gut geworden ist – und vielleicht auch dieses Mal wieder gut wird. Aber davon werden Sie noch nicht wieder richtig stark: Was Sie eigentlich bräuchten, wäre, dass ich Ihnen Gelegenheit gebe, sich in Ihrer eigenen Kraft zu erleben, auch in Ihrer Attraktivität, in Ihrer Schönheit und in Ihrer Anziehungskraft auf andere Menschen zu erleben. Und da gibt es ein einfaches Mittel und ich wundere mich immer, warum die Menschen gar nicht selbst draufkommen …

Und das wäre?
Gehen Sie einfach etwas liebevoller mit sich selbst um! Wenn Sie anfangen, ab sofort etwas liebevoller zu sich selbst zu sein und nur noch das zu tun, was Ihnen guttut, dann fangen Sie wieder an, auf Ihre innersten, tiefsten Bedürfnisse zu hören. Sie erleben, dass Sie plötzlich wieder der Gestalter Ihres eigenen Lebens werden. Sie müssen nicht dann essen, wenn Sie keinen Hunger haben, Sie müssen sich nicht Fernseh-Sendungen anschauen, über die Sie sich dann hinterher ja sowieso nur ärgern. Sie gewinnen auf einmal unendlich viel Zeit, kommen wieder zu sich selbst und verbinden sich auch wieder mit ihrem eigenen Körper. Sie finden sich dann selbst auch wieder liebenswerter und sind dann auch liebevoller zu anderen und auch zu allen anderen Lebewesen. Es ist eine innere Verwandlung. Und die macht Sie stark! Weil dann wissen Sie, dass Sie’s können und dass Sie jemand sind, der für sich selbst gut sorgen kann. Und solche kräftigen Menschen kann keiner mehr wie aufgescheuchte Hühner herumjagen. 

Apropos. Die Gesellschaft scheint ja nur noch aus Corona-Leugnern und Corona-Hysterikern zu bestehen …
Wir müssen die übertriebenen Versuche, die Angst zu bewältigen, in beiden Lagern suchen – also sowohl bei denen, die jetzt nach noch schärferen Maßnahmen rufen als auch bei denen, die den politischen Instanzen nicht trauen, allem Möglichen anhängen und Verursacher suchen. Das ist beides gleichermaßen ungünstig. Was wir brauchen, sind Menschen in der Mitte, die den Kopf sozusagen auf den Schultern tragen und damit auch noch denken. Wir brauchen Menschen, die sich ein eigenes Urteil bilden können. Denn die Menschen, die am meisten Angst haben, sind am leichtesten in Panikreaktionen zu treiben. 

Sie haben im Sommer geschrieben: „Wenn diese Corona-Krise vorbei ist, werden wir der Frage nachgehen müssen, ob unsere Angst berechtigt war oder ob sie nur deshalb so groß werden konnte, weil wir uns gegenseitig Angst gemacht haben.“ Welcher Antwort neigen Sie denn mittlerweile zu?
Ich kann diese Frage noch immer nicht beantworten. Weil in keiner Weise absehbar ist, wie diese Corona-Problematik ausgeht. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, dass diejenigen die Oberhand behalten und dann das weitere Leben bestimmen, die glauben, sie könnten alles kontrollieren und anderen Menschen sagen, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Dann wird das aber eine schwierige Gesellschaft. George Orwell hat das in seinem Roman „1984“ beschrieben. Es besteht aber auch die Chance, die andere Möglichkeit also, dass immer mehr Menschen angesichts dieser unhaltbaren Situation auf sich selbst zurückgeworfen werden und zur Besinnung kommen: Dass sie sich also mit der Frage beschäftigen, was im Leben wirklich wichtig ist und worauf es ankommt. Und das könnte dazu führen, dass Menschen sich dann emanzipieren - aus ihrer Abhängigkeit und aus einer Situation, in der sie entweder keine Kompetenzen oder keine Freunde mehr haben oder an nichts in dieser Welt mehr glauben können. 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wege aus der Angst
Was Gerald Hüther empfiehlt

Im Interview rät Gerald Hüther: „Schauen Sie auf die Website www.liebevoll.jetzt!“ „Liebevoll jetzt“ ist eine von Hüther mitgetragene Initiative, mit der die Menschen zu einem liebevolleren Umgang mit sich selbst eingeladen werden. Die Initiatoren erklären: „Wir wenden uns damit an alle, die sich in ihrer Haut nicht mehr wohl fühlen und unter den vielen Zwängen und Erfordernissen leiden, die unser Leben immer stärker beherrschen. Liebevoll zu sich selbst zu sein bedeutet, sich unabhängig von den jeweiligen äußeren Gegebenheiten wieder mit der eigenen Lebendigkeit zu verbinden.“ Hüther sagt: „Schauen Sie sich die Webseite an, dann merken Sie, dass das auch eine Chance ist, wenn genug Menschen auf dieser Webseite Zuversicht bekommen.“ 

Buchtipp

Gerald Hüther
Wege aus der Angst – Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2020

Zur Person
Gerald Hüther

* 1951 in Emleben, ist ein deutscher Neurobiologe
und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher. Der renommierte Hirnforscher Hüther hält Vorträge, organisiert Kongresse, berät Politiker und Unternehmen und ist regelmäßig Gesprächsgast in Rundfunk und Fernsehen. 2015 gründete er die Akademie für Potentialentfaltung, deren Vorstand er ist.
www.gerald-huether.de

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.