Alfons Dür

* 1948 in Lauterach, Studium der Rechts­wissenschaften in Wien, Richter, von 1998 bis 2008 Präsident des Landesgerichtes Feldkirch. Forschungen zur NS-Justiz und zu Fragen der Rechts- und Justiz­geschichte Vorarlbergs.

„Wie Cicero bitten wir, in unserem Vaterland sterben zu dürfen“

November 2022

Ein jüdischer Althistoriker und seine Frau nehmen sich nach der Reichspogromnacht am 14. November 1938 in Feldkirch das Leben.

Nach dem Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den Ersten Sekretär der Deutschen Botschaft in Paris Ernst vom Rath kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland zu staatlich gelenkten und organisierten Gewaltakten gegen Juden und jüdische Einrichtungen. 1400 Gebetshäuser und Synagogen wurden zerstört, 7500 Geschäfte beschädigt oder niedergebrannt, über 1300 Menschen verloren ihr Leben, 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. Unzählige wurden verletzt, beschimpft, bespuckt und erniedrigt.
In Garmisch-Partenkirchen, wo 1936 die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten, einem international berühmten Kurort mit einst auch vielen jüdischen Gästen, wurden die jüdischen Bürger der Stadt in den Morgenstunden des 10. November 1938 aus ihren Wohnungen und Häusern gejagt und zum „Haus der Nationalsozialisten“ am Adolf Wagner Platz, dem heutigen Marienplatz, getrieben. Dort wurden sie, wie der Garmisch-Partenkirchener Historiker Alois Schwarzmüller berichtet, „von einer teils einheimischen, teils auswärtigen Menge beschimpft und bespuckt, dann mussten sie unter dem Diktat des NS-Kreisleiters Johann Hausböck ein Papier unterschreiben, dass sie Garmisch-Partenkirchen mit dem nächsten erreichbaren Zug verlassen und nie wieder zurückkehren.“ Außerdem mussten sie sich verpflichten, ihre Besitzungen an einen Arier zu verkaufen. 
Unter den 44 jüdischen Bürgern, die an diesem Tag Garmisch-Partenkirchen verlassen mussten, befanden sich der 71 Jahre alte Althistoriker Dr. Michael Schnebel und seine 57 Jahre alte Ehegattin Emma, die seit 1930 in Garmisch-Partenkirchen wohnhaft waren. Bewacht und begleitet von einem SA-Mann eilten sie zurück in ihre Wohnung, packten vier Koffer und verliessen Garmisch-Partenkirchen. Auf ihrer Meldekarte wurde später vermerkt: „Seit der Judenaktion unbekannt wohin verzogen“. Am Abend des 10. November 1938 hatten alle jüdischen Bürger Garmisch-Partenkirchen verlassen. Das Garmisch-Partenkirchener Tagblatt jubelte: „Nun sind wir unter Deutschen.“
Michael und Emma Schnebel wollten in die Schweiz fliehen und fuhren mit dem Zug nach Feldkirch. „Da sie keine Reisepapiere besaßen, wurde ihnen die beabsichtigte Ausreise in die Schweiz untersagt“, heißt es in einem Bericht des Gendarmeriepostens Feldkirch vom 14. November 1938. Bis zur Klärung der Sache wurde ihnen gestattet, im Hotel „Vor­arlberger Hof“ ein Zimmer zu beziehen.
Am 11. November 1938 suchte Michael Schnebel die Passabteilung der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch auf. Die Vorsprache ist im Register der Passabteilung vermerkt, Akten dazu sind jedoch nicht vorhanden. Offenbar wollte er für sich und seine Frau die für eine Ausreise in die Schweiz notwendigen Papiere besorgen, was aber nicht möglich war.
Am 12. November 1938 suchten Michael und Emma Schnebel den Feldkircher Notar Wolf auf und errichteten bei diesem zwei Testamente, in denen sie Magdalena Boese aus Berlin, die Frau eines verstorbenen Bruders von Emma Schnebel zur Universalerbin einsetzten. Als Wohnort gaben sie an: „Zur Zeit Feldkirch, Vorarlberg, bis vorgestern wohnhaft in Garmisch-Partenkirchen“. 
Da das Ehepaar im Hotel Vorarlberger Hof zuletzt am 11. November 1938 gesehen wurde, wurde ihr Zimmer am 13. oder 14. November gewaltsam geöffnet, „wobei Schnebel und seine Frau“, wie der Gendarmerieposten schrieb, „tot in den Betten aufgefunden wurden.“ Sie hatten sich mit Veronaltabletten vergiftet. Das Datum ist im Bericht übertippt, sodass unklar ist, ob dies am 13. oder 14. November geschehen ist. Im Nachlassakt, der sich im Staatsarchiv München befindet, wird der 14. November 1938 als Todesdatum angeführt. In einem Abschiedsbrief schrieb Michael Schnebel: „Wir haben uns getötet, wir halten es für besser, im Vaterland zu sterben, als in der Fremde zu verelenden. Wie Cicero bitten wir, in unserem Vaterlande sterben zu dürfen. […] Es ist das Beste, daß wir aus der Welt gehen“.
Michael Schnebel stammte aus einer fränkischen Bierbrauerfamilie. Er besuchte in Nürnberg das humanistische Gymnasium, das er jedoch vor dem Abitur verließ und sich einer kaufmännischen Tätigkeit zuwandte, die er dreißig Jahre lang ausübte. Aus Begeisterung für die Antike begann er im Alter von 44 Jahren seine Kenntnisse der alten Sprachen durch Privatunterricht zu vertiefen, mit 48 Jahren gab er seinen kaufmännischen Beruf auf und begann an der Ludwig-Maximilian-Universität München Alte Geschichte zu studieren. Er spezialisierte sich auf griechische Papyri und verfasste eine Dissertation über die Landwirtschaft im hellenistischen Ägypten, für die er eine Vielzahl griechischer Papyri auswertete. Obwohl er kein Abitur hatte, wurde er von der Universität München zum Doktoratsstudium zugelassen, das er mit großem Erfolg beendete. Seine Doktorarbeit wurde 1925 als siebenter Band der Münchner Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte veröffentlicht. Noch heute gilt er als bedeutender Papyrologe. 
Emma Schnebel stammte aus einer Nürnberger Familie von Kaufleuten und Ärzten. Sie war eine gebildete Frau, die mit dem Kanon der deutschen Literatur tief vertraut war.
Begraben wurden Michael und Emma Schnebel auf dem Friedhof St. Peter und Paul in Feldkirch, 1949 wurden sie – vermutlich über Veranlassung der Universalerbin Magdalena Boese – auf den jüdischen Friedhof in Hohenems überführt.
Zehn Tage nach dem Tod des Ehepaares ersuchte ein Student namens Franz Strauß die Garmisch Partenkirchener Polizei um Sicherung des wissenschaftlichen Materials des „Juden Michael Schnebel“ für das papyrologische Seminar der Universität München. Es bestehe „Grund zur Annahme, daß der Jude nicht mehr in Deutschland weilt und seine Wohnung der Beschlagnahme verfällt“. Das papyrologische Seminar lege großen Wert darauf, in den Besitz dieses Materials zu kommen. „Es liegt wahrscheinlich vor in Gestalt von Zetteln und Notizen, die in Kartothekkästen oder Zigarrenkisten usw. aufbewahrt werden.“
Ob der wissenschaftliche Nachlass von Michael Schnebel tatsächlich dem papyrologischen Institut zugekommen ist oder nicht, ist nicht bekannt und kann nicht mehr festgestellt werden. Bekannt ist hingegen, dass es sich bei dem Studenten, der das Ersuchen um Sicherung des wissenschaftlichen Nachlasses des „Juden Michael Schnebel“ stellte, um den späteren bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß handelte. Strauß, der selbst Alte Geschichte studierte, dürfte vom Doktorvater von Michael Schnebel gebeten worden sein, sich um dessen Nachlass zu kümmern.
Der Hausrat, die persönlichen Gegenstände, die Bücher und das Inventar der Wohnung von Michael und Emma Schnebel wurde versteigert, insgesamt 1218 Gegenstände wurden im Versteigerungsverzeichnis einzeln angeführt. Die Versteigerung dauerte mehrere Tage.
Als „Sühneleistung“ für die Ermordung des Legationsrates der deutschen Botschaft in Paris legte der NS-Staat „den Juden deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit“ die Zahlung einer Kontribution von einer Milliarde Reichsmark auf. Alle abgabepflichtigen Juden mussten eine „Judenvermögensabgabe“ von 20 Prozent ihres Vermögens als „Sühneleistung“ bezahlen. Die „arische Erbin“ von Michael und Emma Schnebel machte zwar geltend, dass diese vor der Kundmachung und damit vor dem Inkrafttreten der „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ verstorben seien und ihr Nachlass daher nicht abgabepflichtig sei. Es half ihr aber nicht. Auch sie musste die „Judenvermögensabgabe“ von 20 Prozent des ihr zugefallenen Nachlasses, einschließlich des Erlöses aus der Versteigerung der persönlichen Gegenstände der Schnebels entrichten. Nach Bezahlung wurde das Nachlassverfahren am „4. 3. 40 Erledigt“. So steht es auf dem Umschlag des Nachlassaktes, direkt unter dem dort aufgeklebten Vermerk „Der Inhalt dieser Akte unterliegt dem Steuergeheimnis (Hinweis auf § 22 AO)“.

Emma Schnebel (1881–1938)

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.