Daniela Egger

Was man nie vergessen möchte

Mai 2016

In einer kognitiv geprägten Welt sind jene, die offensichtlich dem Vergessen entgegengehen, stigmatisiert. Warum aber ist es so schwer geworden, demente Menschen in der Gesellschaft zu behalten? Breit getragene Sensibilisierungskampagnen klären auf. Und Jugendliche haben mit dem Buch „Jede Erinnerung ist ein Unikat“ etwas ganz Besonderes geschaffen.

Für viele Familien wird der Alltag mit einer an Demenz erkrankten Person früher oder später zur Belastung. Die Symptome sind so individuell wie der erkrankte Mensch, und daher sind auch die pflegerischen Notwendigkeiten höchst unterschiedlich. Den meisten Familien geht es aber in einem Punkt sehr ähnlich: Man zieht sich zurück vom gesellschaftlichen Leben und bleibt unter sich. In einer kognitiv geprägten Welt sind jene, die offensichtlich dem Vergessen entgegengehen, stigmatisiert. Man weiß nicht so recht, wie man mit einem Menschen umgehen soll, der orientierungslos an der Bushaltestelle steht, möglicherweise in nicht ganz passender Kleidung oder in der Annahme, er befinde sich ganz woanders. Dies beschreibt der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer als den eigentlichen Kern der Herausforderung. Er behauptet in seinem Buch „Das 4. Lebensalter – Demenz ist keine Krankheit“, jede Gesellschaft habe die zu ihr passende Krankheit, in der eine Frage steckt, bzw. auch eine Chance, um Fehlentwicklungen zu erkennen. Ob diese Erkenntnis jetzt für Menschen mit Demenz und ihre Familien hilfreich ist oder nicht, ein Blick auf diese Fragestellung lohnt sich dennoch. „Was ist passiert, dass wir bei euch keinen Platz mehr haben?“, fragt er etwa auf einem seiner Vorträge. „Warum ist es so schwer geworden, Menschen, die nicht reibungslos funktionieren, in der Gesellschaft zu behalten?“ Und genau dies ist eines der wichtigsten Ziele der Aktion Demenz – Menschen mit Demenz möglichst lange in der Gesellschaft zu behalten.

33 Vorarlberger Modellgemeinden sind es seither, die sich gemeinsam mit der landesweiten Plattform auf den Weg gemacht haben, eine demenzfreundliche Gemeinde zu werden. Drei von ihnen wurden inzwischen offiziell als solche zertifiziert: Lustenau, Rankweil und Dornbirn. Im Jahr 2016 schließen sich weitere zehn Gemeinden in einem Regionenverbund an. Konkret bedeutet dies, dass in jeder dieser Gemeinden und Regionen jeweils eine Ansprechperson zu finden ist, die Unterstützungsangebote vor Ort vermittelt und beispielsweise Vorträge oder Info-Veranstaltungen organisiert. Da alle Städte und größeren Gemeinden Teil der Aktion Demenz sind, werden mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Vorarlbergs erreicht. Die Modellgemeinden werden, wie die Aktion Demenz insgesamt, finanziell vom Land Vorarlberg unterstützt. Gemeinsam mit der landesweiten Projektstelle werden Sensibilisierungskampagnen entwickelt, die dazu geeignet sind, auch Menschen zu erreichen, die nicht persönlich mit dem Thema Demenz zu tun haben. Etwa mit Ausstellungen wie zuletzt im Atrium des Vorarlberg Museum unter dem Titel „Da war doch was!“, eine partizipative Wanderausstellung, die der Frage nachgeht: „Was möchte ich nie vergessen?“ Den Beginn machten fünf Schulen von Bludenz bis Bregenz, die mit ihren Schülern bereits im Herbst 2015 dieser Frage nachgingen, sei es im Unterricht über Demenz, bei einem Besuch einer Demenzstation in einem Pflegeheim oder bei einem Theaterstück für Jugendliche. Unter der Projektleitung des Wahlpflichtfachs Kulturmanagement des Gymnasiums Schillerstraße in Feldkirch und der Leitung von Frauke Kühn entstanden riesige, handgeschöpfte Papiere, die danach zu einem überdimensionalen Buch gebunden wurden. „ Jede Erinnerung ist ein Unikat“ ist ein Buch voller Erinnerungen von Jugendlichen zwischen 13 und 19 Jahren, die auch in 50 Jahren noch im Archiv des Vorarlberg Museum nachschauen können, was sie damals, im Jahr 2016, nie vergessen wollten. Die Ausstellung wird ab Herbst 2016 im Frauenmuseum Hittisau zu sehen sein.

Eine weitere wichtige Säule, um ein Land wie Vorarlberg demenzfreundlich zu machen, sind Schulungen von Menschen im öffentlichen Dienst im Umgang mit verwirrten Personen. Seit Sommer 2015 erhalten alle angehenden Polizisten in Vorarlberg eine Einführung zum Thema Demenz und praktische Übungen für den Alltag im Rahmen ihrer Grundausbildung. Das Interesse ist groß. Banken, Geschäfte, Gemeindebedienstete – nach und nach suchen immer mehr Institutionen nach Möglichkeiten, ihre Mitarbeiter kompetent zu machen für unerwartete Begegnungen mit Menschen, die mit den alltäglichen Dingen überfordert sind.

Die Aktion Demenz hat eine gewisse Strahlkraft entwickelt, die über die Landesgrenze hinaus wirkt. Das Thema Demenz geht die gesamte Gesellschaft an, und neben den konkreten Unterstützungsmaßnahmen der medizinischen und pflegerischen Versorgung Vorarlbergs sind es genau diese vernetzenden Maßnahmen und Sensibilisierungsversuche, die auf große Resonanz stoßen. So lautet beispielsweise die Rückmeldung einer Besucherin der Ausstellung: „Genau das ist der richtige Weg, um Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen für etwas zutiefst Menschliches zu öffnen. Für das WIR im Angesicht der Orientierungslosigkeit.“

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