Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Am Pranger der neuen Moral“

November 2023

Bernd Stegemann (56), Berliner Dramaturg und Essayist, wendet sich in seinem aktuellen Buch „Identitätspolitik“ gegen die Wut der selbsternannten Guten. Im Interview kritisiert der Autor, dass Andersdenkende stigmatisiert und Argumente durch Moralisieren mundtot gemacht werden: „Und die Empörung reicht als Beweis für die Verurteilung.“

Herr Professor Stegemann, nähern wir uns dem Thema mit einem Zitat aus Ihrem Buch? Sie schreiben: „Eine Gesellschaft braucht ein Fundament von geteilten Werten und Wahrheiten.“ Bröckelt dieses Fundament?
Es braucht ein Kräftegleichgewicht aus Bewahrung und Innovationen. Wenn eine der beiden Seiten zu stark wird, droht gesellschaftliche Erstarrung oder die Auflösung in Anomie. Im Moment scheinen wir in eine Phase der großen Erschütterungen zu geraten. Darum sollten die bewahrenden Kräfte wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten. 

Was ist Identitätspolitik?
Identitätspolitik stellt das Ich an die erste Stelle. Ihre Parole lautet: Wir zuerst. Man findet sie bei „America first!“ aber auch bei „Russki mir“ oder den Aktivisten von „black lives matter.“ Identitätspolitik arbeitet mit den heißen Gefühlen der Kränkung, der Empörung und der Rachsucht. Eine Politik, die die Kränkung zum Ausgangspunkt macht und zugleich immer neue Kränkungen feststellt, findet ein unerschöpfliches Reservoir an Empörung. 

Es ist also das „gute Wir“ gegen das böse Andere?
Das Betriebsgeheimnis der Identitätspolitik besteht darin, dass die eigene Identität für grundsätzlich gut gehalten wird, während alle anderen im Verdacht stehen, böse zu sein. Die Voraussetzung hierfür ist eine Besonderheit in der Moral. Wer andere moralisch beurteilt, hält sich schon dadurch für moralisch überlegen. 

Und sie sind wütend, die selbsternannten Guten …
Und aus der eigenen Vortrefflichkeit leitet sich dann allzu häufig das herrische Auftreten ab. Andersdenkende werden dann abgekanzelt. Je größer die Macht der Empörten wird, desto schwerer haben es die Stimmen, die Argumente vorbringen wollen. 

Sie warnen vor einer toxischen Ausbreitung von Identitätspolitik. Toxische Ausbreitung?
Ich warne vor den toxischen Folgen, wenn öffentliche Debatten im Muster der Identitätspolitik geführt werden. Dann gibt es nur noch Freund und Feind. Und Kompromisse werden verhindert, da sie als Verrat an der eigenen absoluten Wahrheit gelten. Beim Streit um Migration und Klima können wir erleben, wohin ein solcher Absolutheitsanspruch führt. 

Und das ist das Ende einer jeden Debatte, einer jeden Diskussion?
Wer die Interessen der anderen Seite nur noch unter der Perspektive der Feindschaft sieht, ist zur Verständigung nicht mehr bereit. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments verliert seine befriedende Kraft. An seine Stelle setzt sich die archaische Macht der identitären Behauptung: Der Wert einer Aussage bemisst sich daran, wer sie getätigt hat. Nicht mehr der rationale Gehalt des Arguments überzeugt, sondern die Position des Sprechenden ist entscheidend. Die Folgen dieser Irrationalität sind fatal: andersdenkende Personen werden stigmatisiert und Argumente werden durch Moralisieren mundtot gemacht. 

Wenn beispielsweise der „alte weiße Mann“ spricht? 
Der alte weiße Mann ist eine dreifache Abwertung, die, beträfe sie eine andere Identitätsgruppe, zu einem empörten Aufschrei führen würde. Doch die weißen Männer über vierzig Jahre gelten heute als Quell des Bösen, weswegen sie ohne Gegenwehr diffamiert werden dürfen. Dass man damit das Gegenteil von dem tut, was man im Kampf gegen Diskriminierung fordert, scheint hingegen nicht zu interessieren. 

Ein guter Satz aus Ihrem Buch, einer von vielen: „In fast allen Menschen nagt das Ressentiment.“ 
Die Geister des Ressentiments sind leicht zu wecken. Doch sind sie einmal entflammt, berauschen sie sich an ihren empörten Gefühlen. Keine Aufklärung konnte bisher einen Schutzwall vor der selbstgerechten Wut errichten. Darum ist jede Zeit gut beraten, wenn sie das Ressentiment nicht absichtlich steigert. Identitätspolitik ist so erfolgreich, weil sie die Ressentiments für ihre Zwecke einspannt. Und das macht sie zu einer regressiven Art von Politik. 
 
Wir sprechen also letztlich über die Selbstgerechten und deren Methode, alle und alles auszugrenzen, was nicht dem eigenen Weltbild entspricht?
Was mich an dem Wiedererstarken der Identitätspolitik besorgt, ist die historische Gedankenlosigkeit, eine politische Methode, die für die schlimmsten Verbrechen der Menschheit verantwortlich ist, so naiv anwenden zu wollen. Der Faschismus kann neben dem Nationalismus als Mutter der Identitätspolitik gelten. Mich würde interessieren, was sich die progressiven Aktivisten erhoffen, wenn sie deren Methoden kopieren?

Da müssen wir dann auch über die Sprache reden, oder? Über den „Umbau der alltäglichen Sprache“, wie Sie das formulieren …
Sprache entwickelt sich, doch wenn eine politische Agenda anfängt, Sprache umbauen zu wollen, ist Vorsicht geboten. Die Pause beim Gendergap ist nicht nur sprachlich problematisch, sondern sie ist inzwischen auch zu einem moralischen Signal geworden. Wer diese Pause zwischen dem Substantiv und dem angehängten „innen“ macht, will signalisieren, dass er zu den Guten gehört. Solche Tugendsignale waren schon immer antidemokratisch und dienten vor allem der Erziehung einer widerständigen Bevölkerung. 

Da sind wir bei Cancel Culture, da sind wir bei den „Woken“ …
Der woke Blick ist ein weiterer Widerspruch der Identitätspolitik. Er wittert überall Diskriminierung und ist selbst nicht zimperlich, wenn er einen vermeintlichen „Täter“ identifiziert hat. Dann gilt keine Unschuldsvermutung mehr, sondern die Empörung reicht als Beweis für die Verurteilung. 

Und die Kritiker verstummen …
Die Angst, an den Pranger der neuen Moral gestellt zu werden und ein stigmatisierendes Etikett angehängt zu bekommen, lässt viele verstummen. Ein falsches Wort, und der Sprecher wird aus dem Kreis der Guten ausgeschlossen. Das wollen immer weniger Zeitgenossen riskieren, wie jüngst der Fall Constantin Schreiber gezeigt hat. Nach diversen Angriffen auf ihn, wo die Zivilgesellschaft ihn weitestgehend alleingelassen hat, hat er beschlossen, sich öffentlich nicht mehr zum Islam zu äußern. Denn die Diffamierung endet nicht bei dem Ausschluss, es können auch Attacken auf die Reputation oder sogar das Leben folgen.

Sie sprechen von der Zuspitzung der Widersprüche zu Konflikten, in denen es nur noch Sieger und Verlierer geben kann und vom Ende des Universalismus.
Der Universalismus ist der Wert, auf den sich der Westen geeinigt hat. Für alle sollen die gleichen Verfahren und Gesetze gelten. Damit haben alle die gleichen Chancen, wenn auch nicht das gleiche Leben. Den Universalismus zu verteidigen, ist äußerst anspruchsvoll. Denn wir erleben, wie schnell ein identitätspolitischer Furor es schafft, Menschen wieder in ungleiche Identitätsgruppen einzuteilen. Wie wenige heute noch bereit sind, dem Wiedererstarken des Stammesdenkens entgegenzutreten, zeigt, wie gefährdet der Universalismus ist. Der Universalismus stirbt so wie die Demokratie nicht an seinen Gegnern, sondern an der Mutlosigkeit seiner Verteidiger.

Sie schreiben in Ihrem Essay „Wutkultur“: „Da es nur geringer intellektueller Anstrengung bedarf, um moralisch zu sein, und ein moralisches Auftreten zugleich Vorteile verspricht, ist der Missbrauch vorprogrammiert.“ Kann so ein Fazit lauten?
Aufklärung ist keine Qualität, die man konservieren kann. Es braucht zu jeder Zeit Anstrengungen, um die Gleichheit zu verteidigen und den Argumenten zu folgen, statt dem Ressentiment. Die neue Verwirrung unserer Zeit besteht darin, dass eine regressive Methode wie die Identitätspolitik es geschafft hat, als progressiv zu gelten. Erst wenn diese Verkehrung verstanden wurde, kann dem allgemeinen Moralisieren etwas entgegengesetzt werden. 

Vielen Dank für das Gespräch

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