Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Bedrohte Ordnungen

Mai 2024

Im 6. Jahrhundert bricht die Pest aus, Anfang 2020 friert Corona die Welt ein. Lassen sich aus diesen Ereignissen Gemeinsamkeiten ableiten? An der Universität Tübingen wurde erforscht, wie sich Menschen vergangener Zeiten ›› ›› verhielten, wenn die Ordnungen bedroht waren. Der deutsche Historiker Mischa Meier (52) erklärt im Interview, welche Handlungsmuster sich ableiten lassen – und inwiefern historische Katastrophen helfen, die Gegenwart zu verstehen.

Herr Professor Meier, salopp gesprochen, aber: Als Wissenschaftler, der vergangene Katastrophen erforscht, müssten Sie mit unserer Zeit der multiplen Krisen eigentlich ihre helle berufliche Freude haben. 
Niemand kann Freude an Krisen haben, die er selbst erleben muss. Aber es ist in der Tat eine eigenartige Erfahrung, wenn man jahrelang aus der historischen Distanz auf seinen Forschungsgegenstand geblickt hat und plötzlich mittendrin steckt. 

Gegenwärtig folgt Krise auf Krise. Hat es denn in früheren Jahrhunderten solche Situationen gegeben?
Natürlich. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit dem 6. Jahrhundert. Da folgt eine Katastrophe auf die andere. Erdbeben, Überschwemmungen, Brandkata­strophen, Hagelschauer häufen sich, das Klima verschlechtert sich dramatisch, gleichzeitig gibt es große Kriegsverwüstungen, und das Ganze gipfelt dann 541 in dem Ausbruch der Pest. Was aber die Gegenwart betrifft …

Ja bitte?
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es zumindest in Mitteleuropa eine Situation, wie wir sie jetzt erleben, nicht gegeben. Insofern ist das jetzt generationenübergreifend tatsächlich eine neue Erfahrung. Und damit muss man eben auch erst einmal umzugehen lernen.

Aus historischen Krisen abzuleiten, wie Menschen mit Bedrohungsszenarien umgehen, das war ja über mehr als ein Jahrzehnt hinweg das Ziel des Forschungsprojekts „Bedrohte Ordnungen“. 
Wir haben in Tübingen zwölf Jahre lang versucht, „Bedrohte Ordnungen“, die zeitlich und räumlich weit auseinanderliegen, vergleichend miteinander in Beziehung zu setzen, um damit zur Analyse gegenwärtiger Bedrohungen beizutragen.

Gab es denn je eine Zeit, in der sich Menschen nicht bedroht gefühlt hätten?
Es gibt immer soziale Gruppen oder Individuen, die sich aus irgendeinem Grund bedroht fühlen. Die Frage ist aber, ob und wann die von ihnen ausgehende Bedrohungskommunikation derart hegemonial wird, dass sie alle anderen Themen in den Hintergrund drängt und die gesamte Ordnung dominiert. Erst dann kann man von einer „Bedrohten Ordnung“ sprechen.

Es scheint heute aber auch eine geradezu irrationale Lust an der Apokalypse zu herrschen.
Dass in „Bedrohten Ordnungen“ auch Apokalyptiker und Endzeitpropheten auftreten und Gehör finden, lässt sich vielfach in der Geschichte beobachten. Das ist eine der Möglichkeiten, mit Zukunftsängsten und dem Verlust von Routinen umzugehen. Auch hier stellt sich aber immer die Frage: Wie weit reicht dieses Phänomen und besitzt es das Potenzial, eine Ordnung zu verändern?

Ist der Apokalyptiker und Endzeitprophet eine Figur, die sich in der Geschichte in solchen Situationen wiederholt?
Ja. Endzeiterwartungen verlaufen immer in Konjunkturen, sie sind phasenweise stark und phasenweise schwächer. Wenn dann ausgerechnet in eine starke Konjunkturphase der Endzeiterwartung eine „Bedrohte Ordnung“ fällt, gewinnen Apokalyptiker richtig an Bedeutung. Dann wird es ernst.

Wir hatten zuletzt 2018 miteinander gesprochen, damals sagten Sie, die Forschungsergebnisse könnten zur „Relativierung des Alarmismus“ beitragen …
Ja, das war eines unserer ursprünglichen Ziele: Wir wollten aufzeigen, dass Menschen in Bedrohungssituationen nach bestimmten Mustern handeln, dass es wiederkehrende Ablaufmechanismen gibt, dass man mit bestimmten Verlaufsschemata rechnen muss, mit Skripten, die sich vollziehen. So könnte man Sicherheit und Stabilität gewinnen, um den Alarmismus in solchen Situationen zu relativieren.

Von welchen Ablaufschemata sprechen Sie da?
Dass Experten wie Pilze aus dem Boden schießen. Dass politische Entscheidungsträger versuchen, darauf Legitimation aufzubauen. Dass mit Zeit argumentiert und gesagt wird: Die Zeit drängt! Wir können uns jetzt keine Diskussionen leisten! Wir müssen etwas tun! Dass sehr stark emotional argumentiert wird. Dass man sich moralisierend auf die Vergangenheit bezieht und versucht, daraus Legitimation für Handlungen in der Gegenwart zu gewinnen. Oder dass betroffene Akteure sich dem Geschehen nicht mehr entziehen können. Man hat sich zu äußern, man kann sich nicht mehr neutral verhalten, es ist einfach da und es ist überall.

Kann man angesichts der Gegenwart noch von Alarmismus sprechen? 
Alarmismus ist ein schwieriger Begriff: Er führt in Situationen, in denen vielleicht irrtümlich Bedrohungsszenarien imaginiert werden, schnell zu panikartigen, häufig auch voreiligen oder falschen Handlungen und Reaktionen. Andererseits – und das sehen wir seit 2020 sehr deutlich – kann er auch hilfreich sein, um Trägheit und Zögerlichkeit aufzulösen und notwendige politische und gesellschaftliche Prozesse in Gang zu bringen.

Wurde da Ihre historische Forschung sozusagen zu einer Erforschung der Gegenwart?
Ja. Als 2020 die Pandemie ausbrach, haben wir uns selbst erstmals in einer „Bedrohten Ordnung“ gesehen. Wir haben darauf reagiert, indem wir begonnen haben, sehr intensiv unsere eigenen Forschungen mit gegenwärtigem Geschehen zu konfrontieren und unser eigenes Tun im Lichte aktueller Ereignisse zu reflektieren. Im Prinzip mussten wir unser Forschungsprojekt, das ja zum Ziel hatte, „Bedrohte Ordnungen“ aus der Distanz zu analysieren, umbauen, indem der Faktor der eigenen Erfahrung nun mitreflektiert wurde. Das war gar nicht so einfach.

Sie sagten 2018: „Ist die Ordnung bedroht, greifen Routinen nicht mehr, der Mensch beginnt um seine Zukunft und Existenz zu fürchten.“ Auf die Anfänge der Pandemie bezogen trifft das zu …
Ja, das haben wir ja sehr deutlich beobachten können. Vor allem das social distancing hat nahezu alle Routinen zerstört. Und insbesondere in der Anfangsphase der Pandemie waren Fragen, die konkret auf die Zukunft und die eigene Existenz zielten, höchst virulent. Niemand wusste anfänglich ja, ob und wann die Pandemie jemals wieder ein normales Leben zulassen würde – und was ‚normal‘ dann bedeuten würde. 

Lässt sich die Pandemie mit einem historischen Beispiel einer „Bedrohten Ordnung“ in Verbindung setzen? 
Ja. Auf dieselbe völlige Unsicherheitserfahrung trifft man auch in den Quellen zur Justinianischen Pest im 6. Jahrhundert. Man wusste damals nichts über die Pest, nichts über den Erreger, nichts über die Übertragbarkeit, nichts über die Krankheitsbilder – und das hat damals wie heute das Gefühl gnadenloser Willkür und absoluter Unsicherheit erzeugt. Denken Sie nur an diese Leichentransporte in Bergamo im März 2020. Da wusste niemand: Werden wir selbst davonkommen?

Ist das ein einendes Element, dass sich die Menschheit völlig ausgeliefert sah? Damals der Pest, in der Gegenwart zumindest anfänglich dem Corona-Virus?
Das könnte man so sagen. Natürlich gibt es Unterschiede, etwa den, dass sich das Geschehen in der Gegenwart im globalen Kontext vollzogen hat und dass dadurch Information und Erkenntnisgewinn viel schneller ausgetauscht werden konnten. Natürlich waren im 6. Jahrhundert die Informationswege viel langsamer. Dadurch haben Informationsdefizite und auch Gerüchte eine viel stärkere Rolle gespielt. Aber das einende Element, das war diese grenzenlose Unsicherheit.

Es heißt, dass Menschen angesichts „Bedrohter Ordnungen“ den Glauben an eine sichere Zukunft verlieren. 
Ja. Da bestätigen die aktuellen Ereignisse unsere empirischen Ergebnisse – und zeigen damit eben auch deutlich, dass wir uns nicht nur in einer wie auch immer gearteten Ausnahmesituation befinden, sondern tatsächlich in einer „Bedrohten Ordnung“. 

Sind Illusionen jäh zerstört worden? Der Glaube, alles entwickle sich zum Guten?
Den Glauben, dass alles sich am Ende doch noch irgendwie zum Guten entwickelt, sollte man nie verlieren. Und auch unsere Untersuchungsfälle zeigen ja, dass am Ende einer „Bedrohten Ordnung“ auch Hoffnung, positive Entwicklungen, Restauration stehen können. Außerdem gab und gibt es in jeder „Bedrohten Ordnung“ immer Akteure, die auch während der Bedrohung profitieren oder zumindest darauf setzen, dies tun zu können.

Sie meinen damit, profan gesprochen, Kriegsgewinnler?
So könnte man es nennen, ja. Es gibt immer Profiteure. Es gibt keine „Bedrohten Ordnungen“ ohne Profiteure. Denken Sie nur an die Maskendeals in der Pandemie. Leute bereichern sich in jeder „Bedrohten Ordnung“. Und es ist ein typisches Kennzeichen, dass solche Fälle dann plötzlich zunehmen und auch sehr schnell sichtbar werden – und dass sich dadurch dann auch innergesellschaftliche Zerwürfnisse verstärken. 

Weisen entsprechende Ereignisse über all die Zeiten hinweg Gemeinsamkeiten auf? Folgt immer auch eine Konsequenz?
Ja. Wir haben beobachtet, dass „Bedrohte Ordnungen“ in der Regel mit beschleunigtem sozialen Wandel einhergehen: Es gibt immer Gewinner und – die freilich viel stärker sichtbaren – Verlierer, und das führt zu sozialen Neukonfigurationsprozessen. Es wird auch immer verstärkt um Identitätsfragen gerungen: Wer gehört noch dazu, wer nicht mehr? Solche Prozesse der In- und Exklusion beobachten wir aktuell auch, etwa in den Forderungen der AfD in Deutschland beziehungsweise der FPÖ in Österreich nach Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Wir sehen außerdem, dass neue historische Narrative entstehen, die in der Regel eine ‚gute, alte Zeit‘ mit der selbst erfahrenen Gegenwart konfrontieren. Das alles sind typische Muster, die wir im Lichte unserer empirischen Ergebnisse nun besser einordnen und verstehen können.

Krisen anders denken, war der Titel der Abschlusskonferenz des Forschungsprojekts. Inwiefern Krisen anders denken?
Unser Ansatz erlaubt es, aus den vielfältigen, allgegenwärtigen Krisen jene Situationen heraus zu präparieren, die tatsächlich „Bedrohte Ordnungen“ im Sinne unserer recht strikten Definition darstellen. Wir können also einen Beitrag dazu leisten, zwischen sich permanent vollziehendem Wandel und scharfen Zäsuren zu unterscheiden. Und mit unseren Fallbeispielen können wir Material zur Verfügung stellen, das uns hilft, gegenwärtiges Geschehen besser zu verstehen und einzuordnen. Wir kommentieren also die Gegenwart, tragen zu Differenzierungen bei und helfen – hoffentlich – zu verstehen, was um uns herum gerade geschieht und warum bestimmte Akteure in bestimmter Weise handeln und reagieren.

Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Geschichte kennen?
Ja. Das würde ich schon unterschreiben.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Zur Person

Mischa Meier 

*13. Juni 1971 in Dortmund, ist ein deutscher Althistoriker. Meier lehrt als Professor für Alte Geschichte an der Universität Tübingen. Er ist auch Herausgeber der international renommierten Fachzeitschrift „Historia“ und Autor mehrerer Monografien.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.