Zoran Terzic

* 1969 in Banja Luka, ist Bühnenautor und Kulturtheoretiker. Terzic studierte ursprünglich Bildende Kunst in New York und wurde 2006 am Lehrstuhl für nicht-normative Ästhetik und Kulturvermittlung in Wuppertal bei Bazon Brock promoviert. Terzi´c lebt in Berlin, sein 2020 bei diaphanes, Zürich erschienenes Buch „Idiocracy – Denken und Handeln im Zeitalter des Idioten“ ist Grund­lage dieses Interviews. © Foto: Bettina Sellmann

Der Magnetismus des Idioten

September 2022

Herr Terzic, Lemmy von Motörhead sagte einmal in einem Interview, er rate seinen Freunden: „Haltet Euch fern von Idioten.“ Diesem Rat dürften Sie etwas abgewinnen können, oder? 
Lemmy ist nicht mehr unter uns. Stünde er vor mir, würde ich erwidern, dass es auf den Typus ankommt. Aus der Ferne betrachtet, sehen alle Idioten gleich aus. Unterschiede entdeckt man erst, wenn man sich ihnen nähert. In der Kunst- und Literaturgeschichte haben wir es oft mit erhabenen Idioten zu tun, von denen man lernen könnte, deren Nähe man eigentlich suchen müsste – denken Sie an Don Quijote oder an Dostojevskis Myschkin. Diese Idioten sind wahr, erhaben und schön. Aber von jenen anderen Idioten, die ihren Selbstzerstörungstrieb ausleben und andere mit sich in den Abgrund reißen, da sollte man sich fernhalten.

Sie schreiben in Ihrem Buch, es sei das Zeitalter des Idioten angebrochen.
Von Lemmy mitten hinein in einen großen Gesellschaftsdiskurs? Das ist jetzt aber ein riesiger Sprung (lacht). Aber ja, es stimmt. Das Zeitalter des Idioten bezeichnet den Umstand, dass selbstzerstörerische Idiotypen dominieren. Sie sorgen fürs Systemversagen, das man aus dem Wirtschaftsleben, aus Organisationen und Sozialverbünden kennt. So gesehen gibt es nicht unterschiedliche Krisen, sondern die Welt selbst ist die Krise – oder auch Chance, je nachdem wie man da darauf blickt. Und der Idiot ist das Maskottchen dieser Zeit. 

Wie ist das gemeint?
Die gegenwärtige Ökonomie verspricht uns ein Gleichgewicht der Marktkräfte und eine goldene Zukunft. Doch kommt es eben anders als man denkt: Zeit ist ineffizient, Menschen sind ineffizient, Material ist ineffizient. Mit diesen Abweichungen muss man umgehen lernen. Der Idiot macht das nicht. Im Gegensatz zum strategos, von dem die alten Griechen sprachen und der antizipiert, was passieren wird, prescht der idiotes voran, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Dieses Verhalten wird in Politik und Wirtschaft gefordert. Alle sollen „ihr Ding“ machen. Für Platon war dieses Ding aber ein Unding: mit einer Meute von Egomanen lässt sich kein Staat machen. Anders gesagt: das Zeitalter der Idioten bringt dysfunktionale Gesellschaften hervor. Und das ist erstaunlicherweise genau das, was viele wollen.

Eine Ihrer Thesen lautet ja: Es gibt eine neue Qualität des Idiotentums, die sich am politisch Absurden festmacht.
Der politische Diskurs und die gesellschaftlichen Debatten radikalisieren sich seit Jahrzehnten, unterstützt von Machtdynamiken innerhalb der sozialen Medien. Allerorts steht die Realität unserer Erfahrung in Frage. Nehmen Sie nur die Flat Earth Society, die wissenschaftlich beweisen will, dass die Erde eine Scheibe ist. Oder all die anderen, derzeit populären Verschwörungstheorien, in deren Kern die Leugnung steht: ein Trotz gegenüber einer komplexen Welt, der man eine simple Welt entgegensetzt. So entsteht eine konfuse Art des politischen Gegeneinanders, die sich in bestimmten Führungsfiguren, in bestimmten Diskursen, in bestimmten Streitformen äußert. Ich verknüpfe das im Begriff der Idiokratie.

Einem Wortspiel aus Idiotie und Demokratie?
Idios meint das Eigene, Private, Unverhandelbare, und -kratie bezeichnet die Herrschaft. Idiokratie ist die Herrschaft des Selbst. Wir werden als Idiokraten systemisch zu „eigenen“ Positionen gezwungen, die wir bejahen, auch wenn wir sie verneinen müssten. Wir wählen gegen unsere Inter­essen, wir agitieren für Sachen, die wir nicht verstehen oder die nicht der Rede wert sind. Das alles zusammengenommen ist objektiv idiotisch. Der Mensch entwickelt keinen Außenhorizont mehr, weil er sich zunehmend in medialen Echokammern verliert. Die Idio­kratie läuft letztlich auf die Herrschaft des „Einzigen und seines Eigentums“ hinaus, die der Vorläufer Nietzsches, Max Stirner, beschrieben hat.

Sie formulieren da den schönen Satz, das isolierte Selbst der Vielen sei das neue Zentrum der Welt.
Wir sehen zwei gegenläufige Bewegungen. Auf der einen Seite nehmen die übergeordneten Menschheitsdiskurse zu, etwa die Debatte über den Klimawandel und die Planetenrettung. Auf der anderen Seite haben wir die Einzelwerdung des Menschen, der mit seinem Smartphone und seinen Tweets und Kommentaren eine Art Ersatzgesellschaft konstituiert. Und das ist im Grunde genommen das Thema des Idioten: In der antiken Auffassung stellt der Idiot eine Inkongruenz zwischen dem Politischen und dem Privaten dar. Als Idioten wurden jene bezeichnet, die das private Eigene auf das große Ganze bezogen. Das ist heute nicht viel anders: An politischen Dynastien von Nordkorea bis zu den USA sieht man etwa, wie ein Familienbusiness zur Staatsform wird. Dabei hatte schon Aristoteles davor gewarnt, das Eigenheim zum Vorbild des Staates zu nehmen. Es sind familiäre Störungen, die auf die Gesellschaft übertragen werden. 

Sie unterscheiden zwischen dem Dummkopf und dem Idioten, schreiben da, der Dummkopf bekomme nichts mit, der Idiot alles – nur eben auf absurde Weise. 
Der Dummkopf denkt viel, aber falsch, der Idiot ist mühe- und gedankenlos. Ihm ist seine „Hirnlosigkeit“ die Grundlage des Denkens, der Unsinn die Grundlage des Sinns. Und deswegen kann er Sachen sagen und Dinge tun, die eigentlich nicht gesagt und nicht gemacht werden können. Das ist kreativ. Donald Trump hat beispielsweise in den USA geschafft, was noch nie jemand vor ihm geschafft hat: Er hat die Regeln der amerikanischen Politik radikal verändert und ist damit durchgekommen. Er hat auch deswegen Erfolg, weil er von Leuten umgeben ist, die so sind wie er. So wird ein Band geknüpft, das objektive Erwägungen außer Kraft setzt. Ich würde das als die Traktion des Idioten bezeichnen, als eine Art Magnetismus. 

Trump, ein Magnet für Idioten in diesem Verständnis?
Die populärste Figur?
Ja, genau. Aber man darf nicht vergessen: Einerseits hebt man Trump als Person hervor, andererseits steht er für ein Prinzip. Deshalb schreibe ich vom „transzendentalen Trump“ und verweise auf die Ur-Figur der künstlerischen Moderne, „König Ubu“ von Alfred Jarry: In dem Stück, 1896 in Paris uraufgeführt, geht es um einen Tyrannen, der widerwillig an die Macht gelangt, dann aber Gefallen daran findet und schließlich beginnt, seine Umgebung zu enthirnen. Der Idiotenherrscher reduziert alles auf sich selbst, der Umfang seiner Krone ist sein einziger Maßstab. Aber wie sagt es Ubu: „Habe ich denn nicht einen Hintern wie jeder andere auch?“ Und Recht hat er. Das Absurde ist das Wirkliche und das Wirkliche absurd, und man kann mit alten Formen des strategischen Denkens, mit ökonomischer Vernunft – oder mit welcher Vernunft auch immer –, nicht mehr dagegen ankommen. Der Idiot kennt keine Scham. Er marschiert mit Truppen oder Worten irgendwo ein und macht sich breit. Seine Grundsätze sind beliebig – oder wie es Modezar Karl Lagerfeld einmal formulierte: „Das was ich sage, gilt nur in dem Moment, in dem ich es sage.“ Gilt das noch oder gilt das nicht mehr? Nur der Idiot erkennt im Selbstwiderspruch eine höhere Wahrheit.

Das Frappante an heutigen Verschwörungstheorien ist, dass viele einen Kern Wahrheit beinhalten. Und das macht es wiederum so schwierig, dagegen zu argumentieren …
Die Choreografie der Wirklichkeit mündet in einer Parodie. Versatzstücke aus Vernunft und Unvernunft werden wie in einer surrealen Collage aneinandergefügt, bis sich am Ende etwas ergibt, das jeder Logik widerspricht, aber mit einem Trotz daherkommt, als sei das Unwirkliche wirklich. Und dann verbreitet es sich, bis es sich mit den Kräften des Realen letztlich ausgleicht, bis sich die Menschen fragen: Was stimmt denn nun? So entstehen starke Narrative, die nicht widerlegt werden können, denn man müsste sich mit jedem einzelnen Wahrheitsapostel zusammensetzen und intensiv darüber diskutieren, was denn beispielsweise der Unterschied zwischen zweifeln und leugnen ist.

Diese Menschen sind allerdings diskussionsresistent, weil überzeugt von ihren Wahrheiten. Und ein Zitat lautet: Streite niemals mit Idioten, sie werden dich auf ihr Niveau bringen und dich dann mit ihrer Erfahrung besiegen.
Ja, das ist von Mark Twain. Der Leugner zerrt dich ins Gebiet der Inkompetenz, das er aber kompetent beherrscht. Dort hat man mit herkömmlichen Bildungsidealen keine Chance. Weil sich die Kriterien ständig wandeln. Wittgenstein sagt an einer Stelle, es mache keinen Sinn, jemandem, der etwas nicht verstehe, zu sagen, dass er es nicht verstehe. Weil das ja impliziert, dass er verstünde, was er nicht versteht. Trotzdem nehme ich das ernst. Ich frage mich, welche Kommunikationsstrategien es gibt, um diesseits des Absurden überhaupt noch diskutieren zu können. Hier helfen womöglich Kunst und Literatur, da Ahnungslosigkeit ihr Metier ist.

Muss man denn überhaupt mit solchen Menschen diskutieren? Muss man wirklich?
Ich würde sagen, man kann, wenn man muss, und wenn man es tut, dann eben „unterhalb der Dummheit“, wie ich das im Buch formuliere. Außerdem haben wir es nicht mit Theaterfiguren, sondern mit realen Agitatoren zu tun, und wir sprechen nicht von Aussätzigen oder Wahnsinnigen. Es geht bei ihnen nur um eine private Form der Rationalität, eine radikale Konsequenz des Liberalismus, die so liberal ist, dass sie sich aus freien Stücken aufhebt – die modernen Enthirner nennen sich ja gerne „Freidenker“. Nochmals: wir anderen, so sehr wir uns das einreden, sind nicht außen vor. Auch wir sind bisweilen „Quatschisten“, wenn wir smarte Antworten auf unbeantwortbare Fragen geben. Die entscheidende Frage ist: Was macht Selbstzerstörer aus, und welchen gesellschaftlichen Einfluss haben sie? Welche Rolle spielen sie im ökonomischen Ganzen? Der Börsenhandel ist ja irrer als jeder Verschwörer. Aber jeder Irrsinn hat einen Grund, warum er existiert.

In Ihrem Buch zitieren Sie aus einem Pink-Panther-Film. Da sagt der Vorgesetzte Dreyfus resignierend über seinen Kommissar: „Gebt mir zehn Männer wie Clouseau und ich könnte die ganze Welt zerstören.“
Der Punkt ist: Wenn man nur zehn Clouseaus zur Weltzerstörung benötigt, kann man Idioten nicht als inkompetent bezeichnen. Und in Idiotenhochzeiten genügt da womöglich schon einer. Analog gilt man etwa im Populismus nur dann als authentisch und durchsetzungsfähig, wenn man wie Clouseau dreist und ahnungslos ist, das heißt nicht dem Establishment zugehörig. Wir verlangen nach Hasardeuren, um es dem System heimzuzahlen, das uns trägt. Das ist demokratisch, hat aber undemokratische Konsequenzen: ganz abgesehen von handelsüblichen Autokratien, hat auch der Trumpismus zu massiven Verwerfungen geführt, wie die zahlreichen Untersuchungsausschüsse oder jüngsten Entscheidungen des US-Verfassungsgerichts zeigen. 

Hannah Arendt sagte einmal sinngemäß, die Wahrheit sei, im öffentlichen Diskurs angelangt, nur eine Meinung unter vielen. Im Endeffekt dreht sich also alles um die Frage, was Wahrheit ist – und wer bestimmt, was wahr ist.
Wer hat angesichts einer Vielzahl von Meinungen im öffentlichen Diskurs die größte Traktion? Hat am Ende doch der, der am lautesten schreit, Recht? Wahrheit wird vielfach als Etikette verwendet, ohne innere Widersprüche zu berücksichtigen. Aber Wahrheit ist kein Ding, das man hat, sondern eher ein Ort, an dem man lebt. Auch hier stellt sich die Frage, ob sich traditionelle Instanzen als Wahrheitshüter eignen, um der allgemeinen Konfusion Paroli bieten zu können. Diese Frage wird sich in Zukunft vermehrt stellen. Denn der Online-Strom ufert weiter aus. Aber eines noch …

Ja bitte?
Bei dem, was ich im Buch „Idiopraxis“ nenne, geht es auch darum, sich dem allgemeinen Idiotismus zu stellen, weil das Idiotische auch ein Teil dessen ist, was jeden von uns ausmacht, ob ökonomisch, ob psychologisch, ob existenziell. Kreative Menschen wissen, den „inneren Idioten herauszuholen“, wie es in Lars von Triers Film von 1997 heißt, das heißt, mit dem Idiotischen in uns zu spielen und damit Neues zu schaffen. Manche Ökonomen sprechen dahingehend von „Freakonomics“, und schon die Dadaisten sahen im erhabenen Idioten einen gesellschaftlichen Hoffnungsträger. In diesem Sinne!

Vielen Dank für das Gespräch! 

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