Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Diese Gesellschaft ist nicht gespalten“

April 2023

André Kieserling (61), Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld, kann der in Massenmedien omnipräsenten Diagnose, die Gesellschaft sei gespalten, nichts abgewinnen. Im Interview sagt der Buchautor: „Die großen Konflikte der Gesellschaft liegen nicht vor uns, sie liegen hinter uns.“ Ein Gespräch über die Gesellschaft der Unterschiede, lautstarke Minderheiten – und den Nutzen von Konflikten.

Herr Professor, soll man den verbalen Konflikt eigentlich suchen oder scheuen? 
Das ist eine Frage, auf die man eigentlich nicht mit Ja oder Nein antworten kann, weil beides richtig ist und weil beides im Laufe der Geschichte von sehr ernstzunehmenden Leuten vertreten worden ist. Vielleicht kann man sagen, dass kleine Systeme besonders konfliktempfindlich sind, etwa eine Freundschaft oder eine Ehe. Dort hat ein Konflikt das Potenzial, alles zu verderben. Ähnliches gilt für Gespräche. Auch wenn nur zwei von drei Anwesenden streiten, kann der Dritte währenddessen nichts anderes tun. Wenn zwei sich streiten, schämt sich der Dritte, hat Niklas Luhmann übrigens einmal formuliert. Es gibt also soziale Systeme, die so klein sind, dass jeder offene Konflikt, der in ihnen ausbricht, sie sofort und im Ganzen erfasst. Solche Systeme kann man spalten. Und deswegen kann in diesen Fällen eine Moral der Konfliktvermeidung, der Konfliktscheu durchaus sinnvoll sein. 

Und in anderen Fällen?
Ein Nein zum Konflikt hört auf, vernünftig zu sein, wenn das System wächst. Differenziertere und komplexere Systeme können Konflikte besser isolieren und haben darum weniger Gründe, sie zu unterdrücken. Außerdem können sie einen großen Teil ihrer Konflikte durch verbindliche Entscheidung beenden, etwa vor Gericht oder durch politische Wahlen, auch das erhöht ihre Konflikt-Toleranz. Die moderne Gesellschaft ist ein solches System. In ihr wäre es wenig sinnvoll, sich generell gegen den Konflikt auszusprechen oder die Sanftmut zur obersten Tugend zu erklären. Die Moral der Konfliktscheu gilt also nur für Kleinsysteme, etwa wenn man auf größeren Familienfesten politische Themen von vornherein als zu streitnah vermeidet, aber nicht mehr für die Gesellschaft selbst. 

Und da sind wir beim eigentlichen Thema Ihres Buches: Sie sagen, es gebe keine gespaltene Gesellschaft.
Die heute übliche Diagnose lautet, die Gesellschaft sei gespalten. Aber wenn man nach Belegen fragt, werden fast immer nur Konflikte in der Gesellschaft genannt, für die sich keineswegs jedermann interessiert oder gar zur Partei­nahme aufgefordert fühlt. Während wir hier miteinander reden, ohne uns zu streiten, wird gleichzeitig an allen möglichen Stellen in der Gesellschaft gestritten, und während dort gestritten wird, geht es an vielen wieder anderen Stellen ganz unstrittig zu. Und deswegen ist es für die Gesellschaft im Ganzen extrem unzutreffend, zu sagen, sie sei gespalten. Denn das würde ja bedeuten: Die Gesellschaft wäre nur von einem Konflikt erfasst. Jeder Mensch stünde also entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Natürlich gibt es Ausnahmen wie in Nordirland, einem Land, in dem der Konflikt alle Beteiligten erfasst und sie der einen oder anderen Partei zuordnet. Aber bei uns? Von der uns weisgemachten Spaltung sind wir sehr weit entfernt. Diese Gesellschaft ist nicht gespalten.

Und doch ist das Gerede von der gespaltenen Gesellschaft allgegenwärtig. Sie und Ihr Koautor Jürgen Kaube formulieren in diesem Zusammenhang den bemerkens­werten Satz: „Eine lautstarke Minderheit vermag den Eindruck zu erwecken, erheblich zu sein.“ 
Die sozialen Medien kommen den Lauten im Lande entgegen. Anders als im Zeitalter der Stammtische bleibt es heute nicht unbemerkt, wenn sich eine kleine Gruppe auf die Kundgabe von Unsinn oder von Verbalaggressionen gegen Politiker und andere Prominente spezialisiert. Die öffentliche Zugänglichkeit solcher Äußerungen ermöglicht es, in Massenmedien darüber zu berichten und sich besorgt zu zeigen, was aber nur sinnvoll ist, wenn man annimmt, dass die Spinner und Hater soziale Großgruppen oder mächtige gesellschaftliche Tendenzen repräsentieren. Statt aber zu prüfen, ob das so ist, verwendet man den Begriff der Spaltung, der einfach unterstellt, dass es so sei.

In den Medien ist die Behauptung, die Gesellschaft sei gespalten, omnipräsent.
Spaltungsbehauptungen sind in den Massenmedien zum alltäglichen Refrain geworden. Massenmedien weiden sich an solchen Szenarien und warnen zugleich vor ihnen, sie weiden sich an dieser Mischung aus Lockendem und Beunruhigendem. Aber wir urteilen hier primär als Soziologen, und das bedeutet, dass wir die Massenmedien nicht als Autorität für Gesellschaftsbeschreibungen akzeptieren können. Deren Sicht auf Konflikte verrät mehr über sie selbst als über die Gesellschaft. Ruhe und Frieden haben nun einmal keinen Nachrichtenwert. Und deswegen sind es immer die Konflikte, die im Gesellschaftsbild der Massenmedien dominieren, eben auch in solchen Fällen, in denen Soziologen das für stark übertrieben halten. Von Spaltung zu sprechen, um kleine Konflikte zu großen aufzubauschen, ist ein wichtiger und momentan sehr beliebter Teil dieser Übertreibungstechnik. 

Sie können Zeitdiagnosen, wonach das gemeinsam Geteilte abnehme, beziehungsweise die Gesellschaft in zwei Pole zerfallen sei, generell nichts abgewinnen.
Der Teil der Soziologie, der als Zeitdiagnostik in die Massenmedien drängt, muss dort erhebliche Konzessionen machen. Und die wichtigste Konzession besteht darin, dass der Zeitdiagnostiker behaupten muss, unter unser aller Augen finde eine von niemandem außer ihm selbst bemerkte, eine stille Revolution statt. Die Journalisten hören das Wort ‚Revolution‘ und sagen: ‚Super, das klingt nach Turbulenz, das bringen wir!‘ Und der Zeitdiagnostiker muss also behaupten, dass sich eine völlig neue Gesellschaft abzeichne. Dafür gibt es einen Trick. Und der besteht darin, etwas, woran wir seit Jahrhunderten gewöhnt sind, irrigerweise als Neuheit auszugeben. 

Irrigerweise?
Wenn sich heute jemand hinstellt und sagt, bis gestern waren wir alle eines Sinnes und einig in allen wesentlichen Fragen, aber jetzt zerfällt der Konsens im Grundsätzlichen, dann ist das Quatsch. Als hätte es vor wenigen Jahrzehnten eine Gesellschaft mit allseits geteilten Überzeugungen gegeben. Wer die Spaltung als Neuheit beschreibt, mogelt, was die Vergangenheit betrifft. Man muss nur an die Kriege nach der Religionsspaltung oder an Klassenkämpfe denken, um zu erkennen: Diese großen Konflikte der Gesellschaft liegen nicht vor uns, sie liegen hinter uns.

Wer also apodiktisch von der gespaltenen Gesellschaft spricht, liegt falsch.
Ja. Das sieht man allein schon an der Quantität. Praktisch jeder Konflikt, den es in der Gesellschaft gibt, wird so behandelt, als wäre es eine Spaltung der Gesellschaft selbst.

Wenn man Ihrer Argumentation folgt und sagt, es gebe keine Spaltung, also keine zentrale Polarisierung, dann irrt ja auch jeder populistische Politiker, der von dem Volk spricht.
Wenn Populisten von dem Volk sprechen, dann ist das immer gegen jemanden gerichtet, der nicht dazugehören soll. Man könnte diese angeblichen Gegner des Volkes soziologisch nie aus der Gesellschaft herausdefinieren. 

In Ihrem Buch heißt es, dass die Beweislast bei denjenigen liege, die Einheitlichkeit zur Norm machen wollen.
Konflikte spalten die Gesellschaft nicht. Sie integrieren die Gesellschaft. Diese faszinierende soziologische Erkenntnis geht auf Georg Simmel zurück: Die Gesellschaft wird nicht oberhalb ihrer Konflikte integriert, durch Religion oder irgendeinen Wertehimmel, sondern dadurch, dass mit jedem neuen Konflikt auch die Partner wechseln, dass also ein- und dieselbe Person im einen Fall Gegner und im anderen Fall Kooperationspartner sein kann. In der Politik sind wir ja daran gewöhnt, dass die eine Partei die andere Partei zunächst bekämpft und nach der nächsten Wahl dann als Koalitionspartner braucht. 
Wer von Spaltung spricht, weist oft auch Andersdenkenden Moralferne zu. Auch das ist ein Zitat von Ihnen …
Niemand tritt auf und sagt: Ich spalte die Gesellschaft. Das Wort wird ausschließlich in der Anwendung auf andere gebraucht. Der Spalter ist immer der andere. Das ist nichts anderes als eine Formulier-Alternative für den alten Satz, der politische Gegner sei ein Vaterlandsverräter. Ein semantisches Upgrade sozusagen. Es hat genau dieselbe Bedeutung. Man will zeigen, dass der Gegner aus moralischen Gründen nicht wählbar ist. Zwar ist den meisten, die das Pech haben, sich Derartiges anhören zu müssen, klar, dass das nicht ernstgemeint ist. Aber es bleibt natürlich schlechter Stil: Denn der demokratische Gegner sollte eigentlich immer wählbar sein, auch und gerade moralisch. Im Übrigen: Die Moral ist eine der härtesten Sanktionen, ein sehr gefährliches Instrument. 

Könnte das ständige Gerede von der gespaltenen Gesellschaft letztlich doch zu einer Spaltung führen? Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung?
Ich habe kein magisches Verständnis von Diskursen, ich glaube nicht, dass man die Realität ändert, indem man behauptet, sie sei anders. Oder dass man eine Gesellschaft, die soziologisch gesehen völlig stabil und integriert ist, desintegrieren kann, indem man beispielsweise Minderheiten oder Außenseiter zu Feinden erklärt. Wahrscheinlicher ist, dass Gruppen, die so reden, sich selbst isolieren und dann in der Isolation wachsen oder schrumpfen mögen. Aber sie haben einstweilen keine Chance, den Rest der Gesellschaft von ihrem Irrsinn zu überzeugen; sie stehen zum Glück auf einem ganz und gar verlorenen Posten.

Und wie würde Ihr Fazit lauten? 
Unsere moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit massiven und ungelösten und beunruhigenden Problemen. Aber nicht mit dem Problem der Spaltung durch einen und nur einen Konflikt. Wir haben mehrere Konflikte. Und das ist gut so, das geschieht zu unserem Glück, weil diese Konflikte im Verhältnis zueinander querstehen und sich damit gegenseitig begrenzen. Ein anderes Wort für diese Begrenzung ist: Innenpolitischer Friede. Vermutlich ist es denen, die unentwegt vor Spaltungen warnen, gar nicht bewusst, aber das Ideal einer Gesellschaft ohne harte Konflikte hätte etwas Differenzierungsfeindliches. Die Gesellschaft besteht per se aus Unterschieden. Und das ist auch gut so.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterlesen 
„Die gespaltene Gesellschaft“, André Kieserling, Jürgen Kaube,, Rowohlt Berlin Verlag, November 2022.

André Kieserling, * 1962 in Dortmund, ist seit 2006 Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld. Kieserling, der Philosophie und Soziologie studierte, leitet seit 2015 ein Langzeitprojekt zur Erschließung und Edition des wissenschaftlichen Nachlasses von Niklas Luhmann. 

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