Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein“

Dezember 2023

Spiegel-Reporter Ullrich Fichtner (58) sagt im Interview, dass die bisweilen hysterische Grundstimmung unserer Zeit die Verhältnisse, in denen wir leben, unterschätzt. Dem Autor zufolge bewegt sich derzeit vieles in die richtige Richtung, er erklärt beispielsweise: „Ein heute geborenes Kind wird sich an seinem 25. Geburtstag um die Energieversorgung keine Sorgen mehr machen müssen.“ Auch deswegen ruft der Deutsche aus: „Genug gejammert!“
 

Herr Fichtner, im „Spiegel“ war jüngst ein Essay von Ihnen zu lesen, ein Essay mit dem Titel „Genug gejammert!“. In unserer Zeit ist das ein bemerkenswerter Appell.
Ich sage: Genug gejammert, wenn damit der Glaube verbunden ist, dass wir nur noch den Weltuntergang verhandeln und dass sich das alles nicht mehr lohnt. Die jetzt von vielen – und gerade von jungen – Menschen fraglos geglaubte Erzählung lautet ja: Die Welt ist im Eimer und der Mensch ist der Schurke, und der Niedergang, der jederzeit in den Untergang umschlagen kann, ist eine ausgemachte Sache. Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. 

Sie sind anderer Meinung. 
Die Probleme sind groß, die Lage ist ernst, das ist keine Frage. Aber ich bestehe darauf, dass die Zukunft zumindest offen ist. Der Raum des Handelns ist die Gegenwart. Und wenn wir die Zukunft jetzt schon abschreiben, dann haben wir in der Gegenwart keine Kraft mehr, um die befürchteten, negativen Entwicklungen noch aufhalten zu können. Und abgesehen davon, verkennt die verdrießliche, bisweilen hysterische Grundstimmung unserer Zeit die Verhältnisse, in denen wir leben. Wir unterschätzen die Kraft, mit der laufend gewaltige Fortschritte gemacht werden. Und das ist nicht nur eine Meinung. Das lässt sich auf Argumente stützen.

Inwiefern werden die Verhältnisse, in denen wir leben, denn verkannt?
Wenn wir beispielsweise über den Klimawandel sprechen, habe ich immer den Eindruck, dass in den Augen der meisten Menschen das Pariser Klimaabkommen oder andere Verträge, die die Staaten abschließen, letztlich nur Papier sind und gar nichts zu bedeuten haben. Das aber ist eine Verkennung der politischen Prozesse. Denn das sind völkerrechtlich verbindliche Verträge, aus denen sehr viel folgt. In den acht Jahren seit Paris sind Prozesse in Gang gesetzt worden, die jetzt so langsam auch die letzten Winkel der Erde erreichen. Soll ich ein Beispiel nennen, das mich sehr beeindruckt?

Ja, bitte!
Ich habe im vergangenen Winter für mein Buch recherchiert, dass Kenia seinen Energiebedarf bereits zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien deckt. Aber stellen Sie sich vor: Diese Information ist schon wieder hinfällig. Inzwischen sind das bereits 90 Prozent. Der Weltklimarat erkennt an, dass sich in 170 Ländern Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf den Weg gemacht haben, die Erderwärmung in Schach zu halten. Daran kann man sehen, dass es eine weltweite Bewegung in die richtige Richtung gibt. Wir haben begonnen, die notwendigen Antworten zu geben. Es gibt eine globale Bewusstseinsveränderung. Auch die Politik ist sich der Problematik bewusst. Doch das ist etwas, was die meisten Menschen nicht verstehen wollen.
In dieser, wie Sie sagen, verdrießlichen, hysterischen Grundstimmung?
Ja. Diese hysterische Grundstimmung. Wobei ich selbstkritisch sage: Schauen Sie, um ein Beispiel zu nennen, auf spiegel.de. Und nehmen diese Nachrichten in sich auf. Die kurzfristige tägliche Aktualität strömt katastrophal auf uns ein. Da könnte man wirklich verzweifeln. Es sei denn, wir treten einen Schritt zurück und betrachten die längerfristigen Linien. Und aus dieser Betrachtung gewinne ich meine Zuversicht. 

Aber setzt sich nicht der, der zuversichtlich auf die Zukunft blickt, dem Vorwurf aus, blauäugig zu sein? Gar: Ignorant zu sein?
Das stimmt, diesem Vorwurf setzt man sich aus. Auf den Spiegel-Artikel hat mir ein Leser geschrieben: „In Ihrer Welt möchte ich auch gerne leben!“ Aber ich möchte darauf antworten: Dass die Welt, die ich da ausbreite, ja keine utopische oder eine spinnerte ist. Ich werte nur die vorhandenen Argumente anders. Man kann die Welt positiv oder negativ sehen. Wir aber haben diese fatale Neigung, schlechtgelaunte Menschen für viel smarter zu halten als die Zuversichtlichen. Aber vielleicht sind schlechtgelaunte Menschen ja wirklich nur: schlechtgelaunt. Es wäre schön, wenn wir diese Trampelpfade der konventionellen Griesgrämigkeit verlassen würden.

Wenn Sie – sinngemäß – sagen, es gehe alles in die richtige Richtung, dann irren aber all die Klima-Apokalyptiker und Untergangspropheten. Dann irrt beispielsweise auch diese selbst ernannte Letzte Generation.
Man muss wirklich blind sein, um nicht zu sehen, dass im Augenblick an allen Ecken und Enden Aufbruch stattfindet. Eine globale Bewusstseinsveränderung ist im Gang, ausgelöst durch die Effekte der Erderwärmung. Ein Paradigmenwechsel vollzieht sich. Wir begreifen zum ersten Mal, dass wir vielleicht nur ein Staubkorn im Universum sind, aber die Erde haben wir uns tatsächlich untertan gemacht. Das war die längste Zeit eine Katastrophe, zumal wir diese Macht zur Plünderung des Planeten genutzt haben. Jetzt wird es eine Chance, weil verstanden wird, dass wir den Planeten auch erhalten und verbessern können. Und nun will es eine glückliche Konstellation auch noch, dass uns sprunghaft voranschreitende Wissenschaften die Mittel an die Hand geben, die Herausforderungen zu meistern. Viele Menschen wissen darüber einfach noch zu wenig.

Sie sagen, dass dieses Nichtwissen auf einem Weltbild basiert, das ständig nur vom Schlimmsten ausgeht.
Hannah Arendt sagte, dass die Zukunft der Raum des Nichtwissbaren ist. Wir wissen nicht, was morgen passiert und was in zehn Jahren sein wird; aber wir sind trotzdem dazu verurteilt, für die Zukunft zu planen. Und damit leben wir, mit diesem Widerspruch. Dass die Zukunft einerseits unbekannt ist und andererseits von uns vorbereitet werden muss. Optimistische und pessimistische Voraussagen sind da gleichermaßen wertlos. Aber zwischen diesen beiden Polen liegt der Raum des Handelns. Und den muss man nutzen.

Apropos Handeln. Sie legen sich da fest. Sie sagen: „Wir haben es in der Hand, die Erde weiter zu zerstören, aber auch, genau dies nicht zu tun.“
Ja. Das ist letztlich immer wieder die Botschaft der diversen Berichte des IPCC, des Weltklimarats. Nur wird das nahezu bösartig immer falsch ausgelegt. Der Weltklimarat hat noch nie gesagt, dass die Welt untergeht oder dass alles ganz furchtbar wird. Damit beschäftigen die sich gar nicht. Die analysieren die Lage und zeigen Wege auf. In diesen Berichten wird von führenden Klimaforschern dieser Erde das ganze Besteck ausgebreitet, das es braucht, um die Situation zu lösen.

Ein Zitat von Ihnen lautet: „Ein heute geborenes Kind wird sich an seinem 25. Geburtstag um die Energieversorgung keine Sorgen mehr machen müssen.“ Klingt schön. Und utopisch.
Für diesen Satz gibt es sehr viele gute Argumente. Man muss nur die Jahresberichte der internationalen Energieagentur IEA lesen, um festzustellen, dass die Vergrünung der Strom- und Energieversorgung weltweit in einem nahezu atemberaubenden Tempo vor sich geht. 2025 werden die erneuerbaren Energien von allen Stromquellen auf Erden die größte sein, in diesem Jahr werden sie die Kohle erstmals übertreffen. 2027 werden Solaranlagen die ergiebigste Stromquelle der Welt sein. Gerade an Solar- und an Windenergie sieht man, dass sich die Kräfte des Marktes geradezu bilderbuchartig entfalten: Innerhalb von zehn Jahren sind die Preise für Strom aus Solaranlagen um fast 90 Prozent und für Strom aus Windkraft um fast 60 Prozent gesunken. Ein erneuerbares Wirtschaftswunder wirbelt um den Globus. Das sind keine Utopien. Das sind Fakten. Angesichts dieser großen Fortschritte bin ich an dieser Stelle tatsächlich sehr apodiktisch: Die Energie wird uns bald nicht mehr als großes Problem beschäftigen. Ich muss es nochmals betonen: Große Dinge bewegen sich in die richtige Richtung, ohne dass sich die allermeisten Zeitgenossen dessen überhaupt bewusst sind. Das gilt auch in vielen anderen Bereichen, in der Medizin, in der Biotechnologie, bei der Künstlichen Intelligenz.
Aber wenn sich die großen Dinge in die richtige Richtung bewegen, wie Sie sagen, dann wäre es Aufgabe der Medien, das auch richtig zu kommunizieren.
In Demokratien haben Medien die Aufgabe der Kritik. Zeitungen und andere Medien berichten nicht darüber, dass Flugzeuge landen, sie berichten nur, wenn eines abstürzt. Sie berichten, um zu verhindern, dass sich Missstände wiederholen. Dieser Geist der Kritik ist den Medien eingeboren und insofern berichten sie in der Regel nicht über das Gelingende, sondern über das Nichtgelingende. Aber tatsächlich ist da ein neues Problem aufgetaucht: Die Menschen haben den Kanal voll von den schlechten Nachrichten. Sie können diese negative Ausrichtung nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr lesen. Und insofern wird sich da etwas tun müssen. Wir Journalisten haben neue Wege zu finden, um zu einer ausgeglicheneren Weltdarstellung zu kommen. Wir müssen Missstände aufzeigen, natürlich, aber dabei auch klar machen, dass das nur Momentaufnahmen in einem größeren Bild sind. 

Sie bemühen sich um dieses größere, weitaus positivere Bild. Sie sehen ein neues Paradigma angebrochen. Sie sagen: „Das Rettende wächst!“
Ja, und das ist nicht nur so dahingesagt. Das sind meine Erfahrungen der vergangenen Jahre. Und was ich feststelle, das werden auch Ihre Leser und Leserinnen feststellen: Dass beispielsweise die jungen Leute, Studenten und Berufsanfänger heute andere Vorstellungen davon haben, wie ihre Arbeit aussehen soll und was die Firma machen soll, in der sie arbeiten. Dass sich beispielsweise die Industrie der Konsumgüter umstellt. Dass alle möglichen Alltagsgegenstände jetzt damit beworben werden, dass sie kein oder zumindest viel weniger Plastik enthalten. Dass immer mehr Material jetzt biologisch abbaubar ist. Es gibt immer mehr solcher Beispiele, die in Summe eines zeigen: Dass es wirklich eine völlig neue Art nachzudenken gibt. Wir haben in einem Zeitalter der total überdrehten Verbrauchsgesellschaft gelebt, in Überkonsum, haben Raubbau an der Natur betrieben, eine empörende Taubheit gegenüber dem Leben gezeigt. In gewisser Weise tun wir das immer noch. Aber die Haltung ändert sich, weil immer mehr Menschen, vor allem aber die jungen, sagen: So will ich nicht weiterleben, so dürfen wir nicht weiterleben.

Und wenn man diese Fortschritte sieht, diese großen Schritte in die richtige Richtung, dann könnte man zum Abschluss dieses Gespräches also nochmals sagen: Genug gejammert?
Das ist jetzt aber Ihr schönes Schlusswort (lacht). Das würde ich genau so stehen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Ullrich Fichtner, * 1965 in Hof, ist Spiegel- Reporter mit Dienstsitz Paris. Der renommierte deutsche Journalist wurde für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet. Fichtner hat Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaften studiert, und im Laufe seiner Karriere unter anderem für die Frankfurter Rundschau, Associated Press und die Zeit geschrieben. Seit 2001 ist Fichtner beim Spiegel.

 

Lesetipp!

Ullrich Fichtner, „Geboren für die großen Chancen. Über die Welt, die unsere Kinder und uns in Zukunft erwartet“, Deutsche Verlags­anstalt, München, 2023

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