Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Machtmaschinen – Schumpeters Albtraum

März 2023

Viktor Mayer-Schönberger (57), Professor am Oxford Internet Institute, will die Macht der US-amerikanischen und chinesischen Datenmonopolisten „mit einem offenen europäischen Datenraum“ brechen. Für die Innovationskraft kleiner und mittlerer Firmen wäre dies ein entscheidender Schritt, sagt der Internet-Experte: „Wer keinen Zugang zu Daten hat, kann mit der besten Idee nicht mehr innovativ sein. Datenmonopole sind Diebstahl am Fortschritt.“ Ein Gespräch mit Mayer-Schönberger – der gebürtige Salzburger war Mitglied des einstigen deutschen Digitalrats – über informationelle Macht, Datenschutz und Europas Angst vor der eigenen Courage.

Herr Professor, Sie haben Ende Jänner in Hard den „Dataroom“ besucht – und den Protagonisten dabei bescheinigt, mit ihrem Projekt auf der Höhe der Zeit zu sein … 
Ist die Rede von Künstlicher Intelligenz, Big Data, Datenzeitalter, Datenökonomie, denken viele Menschen zuerst an Technologie. Aber bevor man die richtige Technologie einsetzen kann, muss man sich vorab überlegen, wozu man sie braucht. Und das hat mir in Hard so gut gefallen, dass man sich diese zentralen Fragen zuerst gestellt hat. Wir haben in Hard das diskutiert, was in anderen Ländern und im Rahmen anderer Initiativen oftmals erst viel zu spät angesprochen wird: Wo will man überhaupt hin? Nur der, der die richtigen Fragen stellt, kann die Welt besser verstehen und bessere Entscheidungen treffen. Ansonsten wäre das wie bei Helmut Qualtinger. Der hat ja den Wilden auf seiner Maschin‘ besungen, der zwar nicht weiß, wo er hin will, dafür aber umso schneller dort ist. Wer aufbricht, ohne den Weg zu kennen, riskiert, in die falsche Richtung zu gehen.

Apropos falsche Richtung. Sie schreiben in Ihrem Buch „Machtmaschinen“, dass heute Datenkolonialisten aus den USA und aus China über den Rest der Welt regieren. 
Wir sind abhängig von diesen digitalen Machtmaschinen, von diesen Datenkolonialisten, deren informative Macht darauf beruht, dass sie ihre Daten optimal für sich und für ihren Profit nutzen können. Und unsere Abhängigkeit wächst ständig weiter. Um dieses Herrschaftswissen durch Digitalisierung,  diese Informationsasymmetrien, zu brechen, müssen wir die Zugänge zu Daten radikal öffnen. 

Und wie gelänge das?
Mit einem offenen europäischen Datenraum. Ein solcher Raum wäre die Chance auf einen digitalen Befreiungsschlag: Aus Machtmaschinen in den Händen weniger würden Ermächtigungsmaschinen für alle, die mit Informationstechnologien kompetent umgehen können. Nur so können wir Innovationen wieder vorantreiben. 

Wie ist das zu verstehen?
Daten sind die zentrale Ressource, die man braucht, um heute eine gute Idee umsetzen zu können. Wer keinen Zugang zu Daten hat, kann mit der besten Idee nicht mehr innovativ sein. Und das gilt für Europa und insbesondere auch für Österreich. Unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen leben nicht davon, riesige Mengen billiger Produkte zu produzieren, sie leben davon, agil und flexibel zu sein, neue Ideen zu haben und diese auch umsetzen zu können. Kann die mittelständische Wirtschaft ihre Ideen aber nicht mehr umsetzen, weil ihnen der Zugang zu Daten fehlt, dann haben wir ein fundamentales Problem. Dann haben wir einen Standortnachteil, einen Ressourcennachteil. 

Sie formulieren da ganz klar: „Datenmonopole sind Diebstahl am Fortschritt.“
So ist es! Datenmonopole sind Diebstahl am Fortschritt, weil sie nicht erlauben, dass die mittelständische Wirtschaft innovativ ist. Und die großen Datenkraken sind mit der Zeit so bequem geworden, dass sie selbst auch nicht mehr innovativ sind: Weil sie es verlernt haben. Weil sie es gar nicht mehr sein müssen. Der Stachel des Wettbewerbs sticht nicht mehr. 

Wie aber soll ein solcher Datenraum konkret geschaffen werden? Wie sollen die Datenmonopolisten konkret gezwungen werden, ihre Daten zu teilen?
Ganz einfach. Die Europäische Union hat schon jetzt im neuen „Digital Markets Act“ großen digitalen Plattformen die Pflicht auferlegt, ihre Daten in bestimmten Fällen mit europäischen Unternehmen, vor allem auch mit dem Mittelstand, zu teilen. Das ist ein erster richtiger Schritt. Aber wir brauchen den Zugang zu den Daten nicht nur für bestimmte Fälle, sondern umfassender. Natürlich gilt das nur für Sachdaten, die nicht – mehr – personenbezogen sind. Aber Sachdaten machen mehr als die Hälfte der Daten aus, die wir sammeln. Dieser breite Zugang zu Daten und Wissen ist gar nichts Neues. Schon im jahrhundertealten Patentrecht ist vorgesehen, dass ein zeitlich befristetes Patent nur bekommt, wer offen legt, wie eine neue Erfindung funktioniert – damit sie nach Ablauf auch erfolgreich von anderen nachgebaut werden kann. Indem wir unsere Einfälle mit anderen teilen, beflügeln wir uns gegenseitig – und bleiben innovativ.

Sie rufen nach einer „Entmachtung der Informationsmächtigen“. Das ist ein kurzer Satz. Aber eine große Forderung.
Das stimmt. Aber es geht mir nicht darum, den Goliath zu entmächtigen. Ich will den David bemächtigen. Ich will die Unternehmen, die heute arm sind an Informationen und an Daten, bemächtigen. Denn in dem Moment, in dem die Davids dank Datenzugang wieder ihre Ideen in Produkte umsetzen können, haben wir nicht nur eine wettbewerbs-orientierte Wirtschaft, sondern können auch als Gesellschaft die richtigen Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit finden. 

Verglichen mit den USA und mit China ist Europa da unglaublich weit zurück.
In Europa hat man sich eingeredet, dass die ganze Welt die europäischen digitalen Dienstleistungen in Anspruch nehmen werde, weil wir hohen Datenschutz bieten. Doch die Rechnung ist nicht aufgegangen. Warum? Weil die Menschen vor allem eines wollen: Eine gute Dienstleistung. Und wenn Google eine bessere Dienstleistung bietet als ein europäisches Unternehmen, dann suchen eben alle bei Google. Dasselbe gilt für Facebook. Und für TikTok. Und für all die anderen riesigen digitalen Plattformen. Wenn die Menschen selbst einwilligen und ihre Daten den Datenkraken geben, weil diese bessere Dienstleistungen und Services bieten, dann nützt uns der beste Datenschutz nichts.

Wie erklären Sie sich Europas Zurückhaltung?
Wir haben in Europa Datenschutz fast zur Religion, oder zumindest zur Ersatzreligion des Digitalen, erhoben. Ich sage: Wir müssen weg von dieser Auffassung. Wir müssen verstehen, dass die Nutzung von Daten, um bessere Einsichten und damit bessere Entscheidungen zu generieren, in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Wohltat ist. Die Chinesen und die US-Amerikaner sehen im Umgang mit Daten eine Chance, besser zu entscheiden. Und wir in Europa haben immer Angst vor der eigenen Courage. 

Auch wenn das kurios klingen mag: Aber ist die Erkenntnis, dass Wissen auch Macht ist, der europäischen Politik ausgerechnet im digitalen Zeitalter verloren gegangen?
Leider. Wissen ist Macht. Wobei das Wort ‚Wissen‘ heute impliziert, dass ich Daten nutze. Man könnte also sagen: Die Nutzung von Daten – für bessere Entscheidungen – ist Macht. Wer das nicht tut, der entmächtigt sich selbst. 

Sie wollen den Zugang zu Daten für alle: Ist das eine Utopie? Oder eine realisierbare Vision?
Das ist überhaupt keine Utopie! Wir profitieren bereits heute von frei zugänglichen digitalen Daten, beispielsweise von Wikipedia oder von der Tatsache, dass Fahrpläne im öffentlichen Personen- und Nahverkehr sowie Umweltdaten frei zugänglich sind. Wir müssen diesen freien Zugang nur ein paar Schritte weiterdenken. Die Politik hat die Nutzung von Daten auf allen Ebenen zu fördern und die von den Datenmonopolisten aufgestellten Barrieren niederzureißen. Das würde dazu führen, dass wir in einer Welt leben könnten, in der nicht nur einige wenige alles über alle anderen wissen, sondern in der dann die Informationsmacht gerechter verteilt wäre. Heute weisen viele darauf hin, dass wenige Menschen sehr reich sind, man überlegt sich verzweifelt, wie das verändert werden könnte. Man übersieht dabei aber oft eine Tatsache.

Die da wäre?
Die Tatsache, dass der materielle Reichtum oftmals nur die Konsequenz eines informationellen Reichtums ist, einer informationellen Konzentration. Da wäre es doch viel gescheiter, das Übel an der Wurzel zu packen. Also nicht Jeff Bezos mehr Steuern aufzuzwingen, sondern die Daten, die Amazon reich machen, auch der mittelständischen Wirtschaft zur Verfügung zu stellen, damit auch diese effektiv und gesund agieren kann.

Noch ein Punkt in Ihrem Buch erstaunt den Laien: Sie sagen, wir würden uns vormachen, in einer Epoche rasanter technologischer Veränderung zu leben. In Wahrheit, sagen Sie, würden wir aber „in einer Zeit rasenden Innovationsstill-stands“ leben. 
Aber genau so ist es. Wir leiden unter Gegenwartseitelkeit. Wir zelebrieren jedes Jahr das neue iPhone, und das ist dann fünf Prozent schneller und hat zehn Minuten mehr Akku-Laufzeit und eine etwas bessere Fotoqualität und schon applaudieren wir heftig und kaufen es für viel Geld. Das ist doch nicht mehr radikal neu! Die großen Innovationsschritte der 1990er- und frühen 2000er-Jahre haben wir heute nicht mehr und alle Indikatoren deuten darauf hin, dass unsere Innovationskraft erschlafft ist. Und gleichzeitig machen wir uns vor, dass alles dramatisch besser wird, wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. So – ein – Quatsch!

Hat der Durchschnittsbürger denn eine falsche Vorstellung von der Innovationskraft des Silicon Valleys? 
Ja! Wenn man genauer hinschaut, dann sieht man, dass die oft nur mit Wasser kochen und dass die Kochgeschwindigkeit noch dazu stark abgenommen hat. Doch wir blicken immer noch mit großen, staunenden Augen auf das Silicon Valley, wenn uns perfekte Selbstdarsteller das Blaue vom Himmel erzählen. Das Silicon Valley imitieren zu wollen, war vor 20 oder vor 30 Jahren noch der richtige Ansatz. Aber heute würde das nur bedeuten, dass wir lahme, bequeme Informationsmonopolisten kopieren. Und das kann nicht Sinn und Zweck einer zeitgemäßen Wirtschaftspolitik sein. Die Informationskonzentration hat zu einer Machtkonzentration geführt, und dadurch auch zu einer Innovationsverarmung.

Sie schreiben im Buch auch über den österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter (1883 – 1959). Und stellen fest: „Die Informations- und Machtasymmetrie unserer Zeit durch Datenmonopole würde Schumpeter rasend wütend machen.“ Warum?
Eben aus diesem Grund: Der Innovationsverarmung. Schumpeter hat immer diese innovativen Entrepreneure hochgehalten und deren Rolle betont, nicht nur für den Wettbewerb, sondern auch für die Innovationskraft. Und in seinen späten Jahren hatte er eine große Angst: Dass nur noch die großen Unternehmen Kapital für die Umsetzung von Innovationen haben werden und breite Innovation damit verunmöglicht wird. Schumpeter ist ob dieses Gedankens in seinen letzten Lebensjahren regelrecht depressiv geworden. Seine Befürchtung hat sich nicht erfüllt nach dem Zweiten Weltkrieg; in den USA und auch in Europa, hier dank des Marshallplans, war das notwendige Kapital verfügbar. Aber heute sind wir eben wieder bei Schumpeter. Mit einem Unterschied: Das Kapital ist heute nicht mehr die zentrale Ressource. Die zentrale Ressource sind heute die Daten. Das aber war Schumpeters Albtraum: Dass eine Ressource so knapp ist, dass Entrepreneure sie nicht mehr bekommen und damit auch nicht mehr innovativ sein können.

Sie sagen, Neues könne in Europa nur durch Rückbesinnung auf Joseph Schumpeter entstehen, inwiefern?
Indem wir verstehen, dass nicht die großen Riesenkraken-Unternehmen alle guten Ideen haben, sondern dass diese Ideen weit verteilt und oftmals auch bei den Start-ups, bei den kleinen Unternehmen, im Mittelstand zu finden sind. Wir müssen also Ideen und deren Umsetzung dort fördern, wo sie auftreten. Wir sollten da ansetzen, wo die USA und China wegen ihrer eigenen innovationsbremsenden Datenkraken schwächer sind, als sie glauben: Bei der tatsächlichen Fähigkeit zur Innovation.

Da schließt sich unser Gespräch. Sie sagen, die richtige Frage ist zu stellen.
Genau: Die richtige Frage ist zu stellen. Wir müssen aber auch erkennen, dass wir durch das bessere Verstehen der Wirklichkeit zu den besseren Fragen kommen, die uns dann wiederum die besseren Antworten auf die großen Herausforderungen bieten. Aber dafür müssen wir die ausgetretenen Pfade verlassen und unser Hirn öffnen. Nur mit dem Verständnis, dass ich nicht schon alle Lösungen parat habe, sondern dass neue Einsichten auf mich warten, kann ich verstehen, warum der offene Zugang zu Daten so wichtig ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Viktor Mayer- Schönberger, * 1966 in Zell am See, ist Professor für Internet Governance and Regulation an der Universität Oxford. Er berät Unternehmen, internationale Organisationen und Regierungen und war Mitglied des neunköpfigen Digitalrates der Deutschen Bundesregierung. Von Mayer-Schönberger sind mehrere Bücher erschienen, unter anderem „Framers: Wie wir bessere Entscheidungen treffen“ (2021, mit Kenn Cukier und Francis de Vericourt), „Machtmaschinen“ (2020, mit Thomas Range) und „Big Data“ (2013, mit Kenn Cukier).

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