

Muster extremer Machtpolitik
Als sich Trump und Putin in Alaska trafen, um über die Ukraine zu verhandeln, warnten viele Kommentatoren und Politiker, es wiederhole sich eine Situation wie in München 1938. Ist dieser Vergleich zulässig? Im Interview erklärt Historiker Peter Geiss, was sich aus historischen Ereignissen wirklich lernen lässt und warum Geschichte nicht notwendigerweise den Blick schärfen muss. Der 54-Jährige sagt dabei: „Die Vorstellung, Vergangenheit und Zukunft könnten einander ähnlich sein, ist problematisch.“
Herr Professor, es heißt, dass die Kenntnis der Geschichte, zumindest der Zeitgeschichte, zwingend nötig ist, um die Gegenwart verstehen zu können. Stimmen Sie dem Satz zu?
Ja. Ohne Kenntnis der Geschichte ist die Genese der Gegenwart nicht nachvollziehbar.
Lässt sich aus der Geschichte auch ableiten, was mit Blick auf die Zukunft zu tun ist?
Nein. Wie die meisten Historiker bin auch ich der Ansicht, dass wir keine direkten politischen Handlungsanweisungen aus der Vergangenheit gewinnen können. Die Wiederholung einer bestimmten Handlung, die wir in der Vergangenheit sehen, führt heute unter veränderten Rahmenbedingungen nicht notwendigerweise zum selben Ergebnis. Hinzu kommt, dass sich keine zwei Handlungen perfekt gleichen, Wiederholung eins zu eins also unmöglich ist. Deswegen kann ich als Historiker nicht die Autorität beanspruchen, eine bestimmte Handlung als die einzig richtige zu empfehlen oder sie als falsch einzuordnen.
Sprechen wir über ein aktuelles Beispiel. Als sich Trump und Putin im August in Alaska trafen, um über die Ukraine zu sprechen, und Selenskyj dabei außen vor ließen, warnten Politiker und Kommentatoren vor einer Situation wie in München 1938 …
Die Münchner Konferenz 1938 war der traurige Höhepunkt der Appeasement-Politik gegenüber Hitler. Im Kern ging es den europäischen Demokratien darum, durch Zugeständnisse an den deutschen Aggressor einen neuen europäischen Krieg zu verhindern oder zumindest Zeit zu gewinnen. Dafür waren sie bereit, Ende September 1938 auf der Münchner Konferenz die territoriale Integrität der Tschechoslowakei zu opfern, indem sie das Land zwangen, das überwiegend deutschsprachige Sudetenland an das NS-Regime abzutreten. Das betroffene Land war nicht an den Verhandlungen beteiligt.
Ihrer Ansicht nach ist das allerdings ein unzulässiger zeithistorischer Vergleich.
Man kann an sich alles mit allem vergleichen, die Probleme fangen an, wenn man gleichsetzt. München 1938 ist eine der am häufigsten verwendeten historischen Analogien. Es gibt wohl kaum eine Krise des Kalten Krieges, in der dieses Beispiel nicht herangezogen wurde. Im Rückblick, aus der Distanz heraus, wirkt das dann meistens eher unangemessen und sogar gefährlich. Unter Berücksichtigung dieser Wirkungsgeschichte würde ich persönlich die München-Analogie eher meiden.
Warum würden Sie diese Analogie meiden?
Weil diese Analogie ja implizit immer auch die Erinnerung an die Person Hitlers wachruft. Das führt zu einer sehr starken Emotionalisierung: Beim Bemühen um eine möglichst präzise Analyse von Machtverhältnissen und Handlungsoptionen hilft diese Analogie vielleicht gerade deshalb weniger als andere. Das gilt auch, weil sie einen existenziellen Faktor ausblendet: die heute anders als 1938 gegebene Verfügbarkeit von Nuklearwaffen. Natürlich können wir an den späten 1930er Jahren Muster extremer Machtpolitik studieren, die überzeitlich relevant bleiben. Aber diese Möglichkeit bieten uns viele weitere Konstellationen seit dem Peloponnesischen Krieg zwischen Sparta und Athen (431-404 v. Chr.) auch, die uns emotional weniger vereinnahmen, dadurch mehr analytische Distanz erlauben und vielleicht gerade deshalb zu besseren Ergebnissen führen. Was aus dem Studium überzeitlicher Muster dann allerdings ganz konkret für die Praxis in der Gegenwart folgt, ist eine wirklich schwierige Frage.
Es lässt sich aus historischer Sicht also keine eindeutige Handlungsempfehlung aussprechen?
Diese Unmöglichkeit ergibt sich aus drei wesentlichen Punkten. Erstens: Wir können niemals in die Köpfe von politischen Akteuren schauen. Und gerade in unserer Zeit sehen wir, wie sehr nicht vorhersagbare Impulse und Stimmungen mächtiger Entscheider das Geschehen beeinflussen. Zweitens: Wir können in der Welt des Politischen und Sozialen nie alle kausalen Faktoren erfassen, die für die Vorhersage der Zukunft relevant wären. Und drittens ist die Vorstellung problematisch, Vergangenheit und Zukunft könnten einander ähnlich sein. Allerdings müssten wir ja genau diese Ähnlichkeit bei der Verwendung historischer Analogien voraussetzen. Der Politikwissenschaftler Yuen Foong Khong macht das in seinem Buch ,Analogies at War‘ unter anderem an der Ähnlichkeit fest, die US-Präsident Lyndon B. Johnson zwischen dem Jahr 1965 und dem Jahr 1938 sah.
Inwiefern?
Lyndon B. Johnson argumentierte damals sinngemäß: Die USA müssen sich militärisch massiv in Vietnam engagieren, um die aggressive Expansion des Kommunismus zu stoppen. Wenn sie das nicht täten, wäre das eine Neuauflage von Appeasement und würde nicht zum Frieden, sondern zu einem Weltkrieg führen, wie das eben nach 1938 geschah. Aus der Distanz wird es uns heute aber sicher schwerfallen, die von Johnson behauptete Ähnlichkeit der Situationen von 1965 und 1938 wahrzunehmen. In Kenntnis des Vietnamkriegs und seiner Ergebnisse sehen wir wohl eher ein Beispiel dafür, wie man sich mit einer historischen Analogie verrennen kann. In meinem Buch habe ich schon in der Einleitung betont, dass Geschichte unseren Blick auf die eigene Gegenwart nicht immer schärft. Sie kann auch das Gegenteil davon bewirken: Vernebelung und Radikalisierung unserer Gegenwartswahrnehmung bis hin zum Realitätsverlust. Gute Analysen bringen wir dann am ehesten zu Stande, wenn wir emotional nicht stark in das Geschehen involviert sind. Wenn wir also selbst – wie von Hannah Arendt ausgeführt – in die Rolle des ,Zuschauers‘ gehen und keine bestimmte Sache zu vertreten haben. Genau das schaffen wir aber bei aktuellen Krisen und Kriegen natürlich nicht, in die wir als Gesellschaft involviert sind.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Max Weber hat in diesem Zusammenhang einmal an die peinliche Rolle deutscher Professoren im Sommer 1914 erinnert. Mitgerissen von der in akademischen Kreisen damals sehr verbreiteten patriotischen Hochstimmung warfen sie in unangemessener Weise ihre akademische Autorität in die Waagschale, um für die nationale Kriegsanstrengung zu trommeln. Diese Distanzlosigkeit kann bis heute eine Warnung sein. Ich will damit nicht sagen, dass Historiker etwa auf pazifistische Positionen festgelegt wären – sie können sehr wohl für eine starke Landes- und Bündnisverteidigung eintreten. Aber sie sollten doch mit Max Weber gesprochen immer – so gut es ihnen irgend möglich ist – unterscheiden, ob sie gerade als Bürger der Demokratie eine bestimmte Position vertreten oder ob sie aus ihrer Fachautorität heraus sprechen.
Zumal im Namen der Geschichte oft Schindluder getrieben wird.
Ich würde das nicht so stark formulieren. Die Übergänge zwischen lernender und instrumentalisierender Geschichtsbetrachtung sind fließend und den Akteuren wahrscheinlich oft selbst nicht bewusst, sofern es sich nicht um extreme Fälle wie Geschichtspropaganda im Zeichen totalitärer Ideologien handelt. Sehr nützlich finde ich in diesem Zusammenhang eine begriffliche Unterscheidung, die Khong vorgenommen hat: Wir können uns eher in ‚diagnostischer‘ Absicht auf Geschichte beziehen, dann wollen wir etwas lernen, was sich nicht in der Bestätigung unserer vorgefassten Überzeugungen erschöpft. Oder wir nutzen Geschichte eher ,rhetorisch‘, wissen also vorher schon, was aus unserer Geschichtsbetrachtung herauskommen soll. In diesem Fall beglaubigt die Geschichte dann beispielsweise einfach nur eine ganz unabhängig von ihr bestehende politische Agenda oder Ideologie.
Sprechen wir nochmals über München 1938. Diese Analogie wurde auch in der Kuba-Krise 1962 gezogen. Was geschah damals?
Die Sowjetunion hatte auf Kuba, also vor der amerikanischen Haustür, Abschussanlagen für Atomraketen errichtet, die weite Teile der USA erreichen konnten. Kennedy machte entsprechende Aufklärungsergebnisse am 22. Oktober 1962 in einer Radio- und Fernsehansprache öffentlich. Darin sagte er unter Berufung auf die Erfahrung der 1930er Jahre, dass man Aggressoren entschlossen entgegentreten müsse, um weitere Aggression zu verhindern. Das war ganz klar eine Anspielung auf München 1938. Zugleich betonte er aber auch, dass die USA keinen Krieg wollten. Er zog also gerade nicht die logische Konsequenz aus der von ihm selbst bemühten Analogie.
Und was wäre das gewesen?
Das wäre wohl der Befehl zum Angriff auf die sowjetischen Stellungen auf Kuba gewesen. Genau diese Aktion hatte der Kommandeur der strategischen Bomberflotte Curtis LeMay am 19. Oktober von Kennedy in einer internen Besprechung verlangt. LeMay hatte dem Präsidenten sogar vorgeworfen, so etwas Übles wie ,Appeasement in München‘ zu betreiben, wenn er sich der Notwendigkeit des sofortigen Angriffs nicht stelle und stattdessen die extrem gefährliche Option eines Blockaderings um die Insel wähle. Kennedy verweigerte den Angriffsbefehl und handelte damit gegen die Logik einer zu Ende gedachten Appeasement-Analogie, weil er wusste, dass in einem Atomkrieg ,sogar die Früchte des Sieges nur Asche in unserem Mund wären‘, wie er es am 22. Oktober in seiner Ansprache drastisch ausdrückte. Vor diesem Erfahrungshintergrund teile ich die Auffassung, die der US-Politikwissenschaftler John H. Herz schon in den 1960er Jahren formuliert hat: Für das Nuklearzeitalter dürfte die Appeasement-Analogie in ihrer vollen Konsequenz unangemessen sein, da die totale militärische Niederlage eines nuklear bewaffneten Gegners nicht mehr erreichbar ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr zu einem Preis erreichbar, den man sich für irgendeinen Teil der Menschheit vorstellen möchte.
Lässt sich also keine zeithistorische Analogie auf die heute geopolitisch so angespannte Situation anwenden?
Ich glaube nicht, dass uns die direkten Analogien helfen – auch Kuba 1962 sagt uns nicht, was heute zu tun ist, denn damals war der Kalte Krieg zwar sehr heiß geworden, aber es bestand keine militärische Großkonfrontation wie heute leider in Europa. Denkimpulse können vom Blick in die Geschichte durchaus ausgehen, aber wir sollten uns davor hüten, unsere Zeit allein durch die Linse von Analogien zu betrachten. Wir sollten die gegenwärtige Situation so gut wie möglich aus sich selbst heraus in ihren Eigenheiten, Risiken und Potenzialen verstehen. Dabei kann uns allerdings Geschichte als Trainingsraum sehr helfen.
Als Trainingsraum?
Diese Idee findet sich schon bei dem griechischen Historiker Polybios im 2. Jahrhundert vor Christus: Geschichte sei ein ‚sportliches Training‘ – wörtlich ‚gymnasía‘ – für die praktische Politik. Wenn wir uns mit Geschichte befassen, üben wir das Durchdenken kausaler Zusammenhänge und unterschiedlicher Entwicklungsszenarien. Es geht nicht darum, aus dem Gestern die Antworten auf die Fragen von heute zu gewinnen; es geht darum, am Gestern eine Urteilsfähigkeit auszubilden, die uns ohne direkte Übertragung von Direktiven bei der Beantwortung der Fragen von heute hilft. Richard E. Neustadt und Ernest May sprechen ganz zu Recht von Imagination, die geschult wird. Und sie betonen, wie wichtig es ist, wenn wir mit Analogien arbeiten wollen, deren Grenzen immer mitzudenken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Peter Geiss, * 1971, ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Bonn.
In seiner Arbeit widmet sich Geiss Möglichkeiten und Grenzen des praktischen Lernens aus der Geschichte. Weitere Schwerpunkte sind internationale Konfliktbearbeitung und Verständigung in historischer Perspektive. Von Geiss sind mehrere Publikationen erschienen, sein aktuelles Buch „Geschichte in Zeiten der Unsicherheit“, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 2025, ist Basis dieses Interviews.






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