„Nur wissen das die Menschen nicht“
Matthias Horx (69), der wohl renommierteste Zukunftsforscher im deutschen Sprachraum, hatte in der allerersten Ausgabe von „Thema Vorarlberg“ im Jahr 2014 dazu aufgerufen, „alte Denkmuster zu überwinden“. In diesen zehn Jahren aber hat sich die Welt verändert. Was sagt Horx heute? Welche Zukunft steht uns bevor? Was bedeuten die Krisen der Gegenwart? Wir trafen den Zukunftsforscher, der vor wenigen Tagen an der FH Vorarlberg im Rahmen des Business Summits einen Vortrag hielt, zum Interview in Dornbirn.
Herr Horx, ist es naiv, zu glauben, es könne eine Zukunft ohne Krisen geben?
Ja, das ist naiv. Die Welt ist krisenhaft, da muss man nicht Kafka gelesen haben, um das zu verstehen.
Dessen Todestag sich in diesen Tagen ja zum einhundertsten Mal gejährt hat.
Für den Trendforscher ist interessant, dass der früher randständige und oft gar nicht verstandene Kafka plötzlich mitten im Zeitgeist liegt. Das ist ja ein Anzeichen dafür, dass wir in einer Wahrnehmungskrise sind. Alles scheint irgendwie kafkaesk zu werden. Viele fühlen sich wie Käfer, die morgens in einer veränderten Welt aufwachen.
Sie schreiben, Sie träfen immer mehr Menschen – jeden Alters, jeder Profession – die die Welt und die Zukunft vollkommen verloren geben. Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich bin keiner, der versucht, Menschen zu missionieren. Aber meine Arbeit ist so etwas wie mentale Zukunftsarbeit. Ich stelle den Wandel der Welt aus der Zukunft dar, und damit aus anderer Perspektive. Ich arbeite mit der Technik der Re-gnose. Das heißt: Sich in einen zukünftigen Zustand zu versetzen und dann zurückzuschauen. Das klärt den Geist, trainiert unsere Zukunfts-Kompetenz, und dann wird sichtbar, dass Krisen immer nur Übergänge sind.
Ließe sich das an einem Beispiel illustrieren?
Ich habe während Corona den Menschen empfohlen, sich gedanklich fünf Jahre in die Zukunft zu versetzen. Die Krise ist vorbei, was ist passiert? Wie hat sich die Welt verändert, wie könnte sie sich verändert haben? Diese Übung trainiert unseren „Future Mind“, unser inneres Zukunfts-Organ. Allerdings merke ich, dass viele Menschen, auch gerade Junge, sich gar keine interessante, bessere Zukunft mehr vorstellen können. Das war früher anders. Ich bin in der Aufbauzeit der 1960er und 1970er Jahre aufgewachsen. Damals war Zukunft eine utopische Verheißung. Technologie, Weltraumfahrt, Hochhäuser aus Metall, die in den Himmel ragen, fliegende Autos. Heute haben wir ganz viel sensationelle Technologie. Aber die Zukunft ist uns irgendwie verloren gegangen. Technologien, so spüren wir, lösen nicht die wirklichen Menschheitsfragen. Künstliche Intelligenz etwa: Nur sehr wenige Menschen glauben, dass KI in eine lebenswertere Zukunft weist. Diese Sorge ist durchaus berechtigt.
Es wird schwer sein, den Menschen diese Zukunftsängste zu nehmen.
Man kann einem Pessimisten nicht sagen: „Das ist die falsche Haltung!“ Da treibt man ihn nur tiefer rein. Es ist auch nicht falsch, sich vor Krisen zu fürchten. Aber man kann ja nicht nur auf seinen Ängsten sitzenbleiben, das ist infantil. Um Ängste zu überwinden, lohnt es sich zum Beispiel, sich mit „Konstruktiven Welt-Statistikern“ wie Hans Rosling oder Max Roser von der Datenplattform ourworldindata.com zu beschäftigen. Wenn man die generelle Entwicklung der Menschheit über die Zeit verfolgt, dann sieht man, dass sehr vieles immer besser geworden ist, langsam zwar, aber dennoch, und dass es auch heute immer noch besser wird. Nur wissen das die meisten Menschen nicht. Dass man Lithium-Ionen-Batterien demnächst recyceln kann, dass die Erneuerbaren Energien enorme Zuwächse haben, dass ab diesem Jahr sehr wahrscheinlich der CO2-Ausstoß in China sinken wird und dass China im vergangenen Jahr so viel Wind und Sonne online gebracht hat, wie Amerika und Europa zusammen, dass die bittere Armut in fast allen Ländern zurückgeht – das spielt in der Wahrnehmung der Menschen überhaupt keine Rolle. Wir sind auf eine ziemlich öde Weise wohlstands-egozentrisch. Wir klammern an einem „immer-mehr-weiter-so“. Geglaubt wird, was düster ist, aussichtslos, das, wovor wir Angst haben. Dieser ständig wachsende Pessimismus wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung – dieser „Immerschlimmerismus“ verdirbt den Diskurs in die Zukunft, er erzeugt das, was man in der Psychologie „erlernte Hilflosigkeit“ nennt.
Sie sagen den Menschen: „Korrigiert Euer Weltbild, das durch alarmistische Medien verzerrt ist!“ Sind Medien dieser Machart eines der Grundübel der Gegenwart?
Ich bin selbst Journalist, ich komme ursprünglich von der „Zeit“ in Hamburg, war Redakteur bei den Zeitschriften „Tempo“ und „Merian“. Früher waren Medienobjekte noch verlegerische Objekte, die eine gewisse Unabhängigkeit hatten, auch eine ökonomische Unabhängigkeit, eine zentrale Idee oder Botschaft, die auf Verbesserung abzielte. Das war der journalistische Ethos. In unserer überreizten Erregungs-Kultur funktionieren Medien zunehmend nur noch als Verstärker von Erregung. Das Mediale ist heute ein gigantischer Echoraum geworden, in dem Ängste und Befürchtungen stets noch einmal angeschärft, zugespitzt, verabsolutiert werden. Wenn sie heute manche Nachrichtenportale lesen oder Talkshows ansehen, haben sie manchmal den Eindruck, die Welt hätte ihren Verstand verloren. Das liegt vor allem an den Algorithmen des Digitalen, am sogenannten „Clickbaiting“. Man hält mit Negativmeldungen oder Negativmeinungen die Menschen möglichst lange am Bildschirm, um möglichst viel Werbung verkaufen zu können. Die Leute bekommen das Gefühl, dass sie in einer untergehenden Welt leben. Wie formulierte neulich der „Zeit“-Autor Bernd Ulrich: „Bevor wir untergehen, drehen wir durch!“
Sie haben bereits in der allerersten Ausgabe von „Thema Vorarlberg“ eine „hysterische Grundstimmung“ skizziert. Aber gemessen am heutigen Zustand der Welt war damals doch alles in bester Ordnung.
Das ist das chronische Nostalgie-Gefühl: Früher war alles in Ordnung. Aber natürlich stimmt das nicht.
Und doch unterscheiden sich die gegenwärtigen Krisen von den früheren.
Es gab immer schon Krisen. Allerdings waren das früher eher Einzelkrisen, bei denen man das Gefühl hatte: Danach kommt das alte Normal wieder. Heute aber haben wir eine echte Wandlungskrise. Eine Omnikrise. Wir kommen bei bestimmten Elementen unserer Wirtschaftsweise, unseres Konsums, unserer Lebensform, unserer Zivilisationsweise, unserer Demokratie an Grenzen. Wir müssen uns ändern. Allerdings haben wir uns zu sehr an eine lineare, kontinuierliche, ungestörte Entwicklung in immer die gleiche Richtung gewöhnt. Mehr von allem! Immer schneller! Wenn das mal eine Weile ausbleibt, werden wir wütend. Das ist eine Art von Dekadenz. Wenn man in einer Ehe- oder Partnerschaftsbeziehung immer weiter die Ansprüche steigert, wenn es mal schwierig wird, dann geht diese Partnerschaft in die Brüche. Man kann die Beziehung nur retten, wenn man versteht, welche Botschaft in der Krise verborgen ist.
Welche Botschaft?
Im Falle der Omnikrise unserer Zeit: Dass es nicht mehr so weitergeht wie bisher. Kann denn Zukunft nur darin bestehen, dass wir noch mehr konsumieren? Noch mehr vom Gleichen, immer noch mehr? Mit den alten Produktionsmethoden? Mit Kohlenwasserstoffen als ewigen Brennmitteln? Das ist doch nicht attraktiv, oder? Wir sollten uns auf den Weg vom Mehr zum Besser machen. Und das ist möglich, und wird am Ende auch passieren. Unsere Vorfahren hatten ganz andere Krisen zu überwinden, und sie hatten dazu viel weniger Möglichkeiten als wir sie heute haben.
Verkünden Sie uns das Ende eines Zeitalters?
Ein Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, dass es in einer relativ großen Gruppe von Menschen einen Konsens darüber gibt, was die Dinge zu bedeuten haben und wie sie zusammenpassen. Eine Epoche ist immer auch ein Kulturmodell, in dem wir allgemein verbindliche Begriffe entwickeln, etwa was Demokratie bedeutet oder Fortschritt oder Freiheit. Uns zerfallen jetzt die Begriffe. In Krisen entsteht alles als Paradox, alles läuft auseinander. Links und rechts können sich nicht mehr auf Kompromisse einigen, die Ökologie kämpft gegen die Ökonomie, Freiheit ist plötzlich ein Kampfwort gegen Andere geworden. Männer fangen an, sich mit Frauen auf einer fundamentalen Ebene zu zerstreiten, alle leben irgendwie in Eigen-Blasen. Das sind typische Zeichen, dass eine Epoche vorbei ist, dass eine gesellschaftliche Konsistenz zerbricht, die uns lange begleitete. Aber es wird sich auch eine neue Übereinkunft bilden. Aus den Turbulenzen der Gegenwart bildet sich ein neues Zeitalter, ein „Next Age“. Auch wenn es noch keinen echten Namen hat, und wir es nicht exakt im Detail beschreiben können. Wir können es aber als Vision entwickeln.
Aber es gibt auch solche, die die Vergangenheit verklären.
Wir neigen dazu, aus Verzweiflung immer wieder die alten Rezepte zu verwenden. Aber sie können nicht einfach eine Entwicklung umdrehen. Der Versuch, in die Vergangenheit zurückzukommen, ist hoffnungslos.
Sie sagten bei Ihrem Vortrag an der FH Vorarlberg, dass Neues entstehe, wenn Trend auf Gegentrend stoße, und nannten als Beispiel die Glokalisierung. Was ist das?
Warum muss das Globale und das Lokale ein Widerspruch sein? Kann man nicht Heimat und Weitsicht haben, Wurzeln und Horizont? Der Globalist ist ortlos, wurzellos, der Lokalist will dagegen in seiner Nische seine Ruhe haben, seine Heimat bewahren und keine Störung von außen. Aber das sind doch falsche Alternativen. Menschen brauchen beides. Wenn sie jetzt nach Vorarlberg schauen: Wer ist hier in der Mehrheit?
Da findet sich, ohne allzu lokalpatriotisch zu klingen, wohl eine pragmatische Mischung.
Das denke ich auch. Vorarlberger sind in ihrer Mehrheit weltoffen und lokalpatriotisch. Das meine ich mit „GloKALismus“: Offen sein, aber auch einen Rahmen haben, in dem man sich wohlfühlt. Die Globalisierung hat einen massiven Gegentrend des Neuen Nationalismus mit sich gebracht, und das kann man nur auflösen, indem man den Widerspruch auf einer höheren Ebene verbindet. In der Synchronisation des scheinbar Widersprüchlichen entsteht Zukunft. Würde beispielsweise alles digital, würden wir uns in einer solchen Welt nicht wohlfühlen, bliebe alles analog, würden wir Möglichkeiten verpassen. Wir brauchen also eine „digiloge“ Strategie, eine Strategie, in dem das sinnvoll Menschliche bewahrt wird, aber das Digitale dort zum Zug kommt, wo es angemessen und sinnvoll ist.
Zukunft, sagten Sie 2014, beginne mit der Überwindung alter Denkmuster.
Wir bilden in unserem Leben Erfahrungen und glauben dann, dass diese Erfahrungen für immer gelten. Das ist das, was uns ins Unglück führt: Der Beharrungstrotz. Wir brauchen die Veränderung, aber die Veränderung im Maßvollen. Das heißt nicht, dass wir jeden Tag unsere Meinung ändern sollten. Das heißt nur, dass wir uns immer wieder neu auf Veränderung einlassen sollten. Wer sich zu sehr fixiert, wird geistig eng. Wir können die Welt immer wieder neu entdecken. Und weil wir zu Beginn über Naivität gesprochen hatten: Im gewissen Sinne müssen wir vielleicht auch wieder naiv werden. Denn Naivität ist ein sehr unmittelbares Verhältnis zur Welt. Kinder sind ja sehr flexibel im Umgang mit der Wirklichkeit. Sie haben auch mal ihre Trotzphasen, aber dann lernen sie dazu...
Sie haben im Vortrag gesagt: Die Tür zur Zukunft geht nach innen auf. Das irritiert.
In unserer Vorstellung kommt Zukunft von außen auf uns zu. Zukunft ist, was außen stattfindet, etwas, mit dem wir nichts zu tun haben. Aber machen wir nicht auch große Teile der Zukunft selbst? Es braucht die Selbstveränderung. Und der Kernbegriff für Selbstveränderung ist letztendlich die Liebe.
Liebe?
Das klingt jetzt irgendwie spinnert, oder? Aber die Zukunft hängt doch von unseren Fähigkeiten ab, zu lieben; über uns selbst hinaus zu lieben, über unser Ego, über unsere Ansprüche, über unsere Frustrationen hinaus. Wir brauchen neue Narrative, neue Stories, die uns mit dem Kommenden verbinden. Mit den alten Gerüchten wird es nicht mehr gehen. So sehe ich meine Aufgabe: Geschichten über eine mögliche Zukunft zu erzählen, die einen weiterbringen und die ein Faszinosum der Zukunft aufrechterhalten können.
Vielen Dank für das Gespräch!
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