Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Sehr wenig Verständnis für die jeweils andere Seite“

Juni 2024

Unter dem Titel „Weder lechts noch rinks“ haben Gerhard Schwarz und Claudia Wirz ein Buch mit Kolumnen veröffentlicht, die von den beiden in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen sind. Im Interview spricht Schwarz (73), langjähriger Wirtschaftschef der NZZ, einstiger Direktor der Denkfabrik „Avenir Suisse“ und derzeit interimistisch Präsident der Denkfabrik Zukunft.li, über den idealen Staat aus liberaler Sicht, über Freiheit und eine zunehmende Diskursverengung. Der gebürtige Vorarlberger sagt unter anderem: „Heute hat jeder das Gefühl, er habe mit der Wissenschaft – oder schlimmer noch: mit der Moral – das bessere Argument an seiner Seite.“

Herr Schwarz, in Ihrem aktuellen Buch sind 101 Kolumnen enthalten, die laut Vorwort „aus der Sicht des liberalen Skeptikers“ geschrieben sind. Was stellt denn dieser liberale Skeptiker mit Blick auf die Gegenwart fest?
Der Skeptiker sieht unglaublich viel Selbstbemitleidung statt Selbstverantwortung, die für uns Liberale ja im Zentrum steht. Und er sieht statt Respekt für den anderen, auch wenn man dessen Meinung nicht teilt, zunehmende Dialogverweigerung und Polarisierung. 

Das ist eine harte Diagnose.
Diese Tendenzen nehmen leider weiter zu. Sie haben sich in der Pandemie entwickelt, aber seither noch verstärkt. Damals wurden Kritiker und Impfgegner von der einen Seite nahezu als Verbrecher dargestellt. Und umgekehrt wurden diejenigen, die für harte Maßnahmen plädierten, von der anderen Seite bezichtigt, Zerstörer der Freiheit und der Grundrechte zu sein. Das reichte bis hin zum Sklavereivorwurf. In der Klimafrage ist das ähnlich. Und in der Politik generell auch. 

Inwiefern?
Es mag ein Schweizer Standpunkt sein, wenn ich sage, dass ich nichts von der Verteufelung weder der AfD noch der FPÖ halte. Diese Parteien entsprechen mir inhaltlich zu einem Großteil überhaupt nicht. Aber es gehört zur Demokratie, dass man auch mit den Rändern sprechen muss. Man hat sich im Dialog weiterzuentwickeln. Die politische Polarisierung ist in Deutschland und in Österreich ausgeprägter als in der Schweiz. Unsere Konzentrationsregierung vertritt derzeit etwa 75 Prozent, früher waren es sogar bis zu 90 Prozent der Bevölkerung. Aber inhaltliche Polarisierung existiert auch bei uns, bei Themen wie Klima, Zuwanderung, Pandemie. Auch da ist sehr viel Unversöhnlichkeit und sehr wenig Verständnis für die jeweils andere Seite.

Es ist wohl ein Zeichen der Zeit, dass man heute die anderslautende Meinung nicht einmal mehr hören will.
Mir scheint das heute ausgeprägter als früher zu sein. Ich habe in meinen Kolumnen deswegen auch die Wissenschaftsgläubigkeit etwas thematisiert. Die Annahme, die Wissenschaft spreche eine absolute Wahrheit aus, verunmöglicht jede Debatte. Ich bin gewiss kein Wissenschaftskritiker oder Wissenschaftsgegner. Aber ich bin ein Skeptiker. Die Wissenschaft vertritt immer nur den momentanen Stand des Wissens oder Unwissens. Und wir wissen, wie rasant sich Wissen entwickelt. Nehmen Sie als Beispiel die Medizin: Da hat man vor 30 Jahren Therapien verschrieben, bei denen man sich mit dem heutigen Wissensstand fragt: Wie konnte man nur? 

Und wer trotzdem die Wissenschaft verabsolutiert?
Trägt maßgeblich zur Dialogunfähigkeit bei. Man sagt: Das ist empirisch bewiesen. Und damit gibt es keine Diskussion mehr darüber. 

Aus Ihren Kolumnen geht deutlich hervor, dass Sie eine gesellschaftliche Geisteshaltung einfordern, in der offen um das jeweils beste Argument diskutiert wird.
Es gehört zentral zu einer liberalen, offenen Gesellschaft, dass man um das beste Argument ringt, immer wieder. Aber heute hat jeder das Gefühl, er habe mit der Wissenschaft – oder schlimmer noch: mit der Moral – ohnehin das bessere Argument an seiner Seite und müsse es deswegen gar nicht mehr groß der Debatte aussetzen. Und derjenige, der eine andere Position vertritt, wird unglaublich schnell in eine Ecke gestellt: In die Ecke des Nichtwissenden, des Wissenschafts-Leugners oder gar des schlechten Menschen, der Not und Elend erst gar nicht sieht. Das aber verunmöglicht den Dialog. Das enttäuscht, ja empört mich. Ich war als Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion bekannt dafür, lange und hartnäckig mit meinen Kollegen um das beste Argument zu diskutieren. Das ist die liberale Vorstellung, die man in einer Demokratie und in einem gewissen Ausmaß auch in Unternehmen leben sollte. 

Apropos. Sie bezeichnen in einer Ihrer Kolumnen Wettbewerb als „eine segensreiche Institution“. Da dürften einige laut aufschreien …
Oh ja! Aber erstens bin ich es seit 40 Jahren gewöhnt, dass Leute bei meinen Texten aufschreien und sich empören. Und zweitens ist der Wettbewerb aus meiner Sicht ein großartiges Entdeckungsverfahren und Entmachtungsverfahren. 

Weil Wettbewerb zu Schumpeters kreativer Zerstörung und damit zu Innovation führt?
Ja. Zu einhundert Prozent! Chapeau, dass Sie darauf hinweisen! Aus dem Wettbewerb geht Strukturwandel hervor. Firmen gehen unter, Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz, dafür wachsen neue Firmen, die Leute einstellen. Strukturwandel ist nie schmerzlos. Ich bin daher der Meinung, dass der Staat dort helfen muss, wo dieser Wandel zu sehr hohen sozialen Kosten führt. Aber was der Staat nicht tun sollte, ist, den Strukturwandel zu bremsen. Das ist einer der größten Fehler, den der Staat machen kann, und er macht ihn leider immer wieder. 

Es heißt immer wieder: Liberale verklären den Markt.
Ja. Man wirft uns Liberalen gerne vor, die Freiheit oder eben auch den Markt zu verklären. Aber das ist nicht so. Ich persönlich betone immer wieder, dass ich den Markt nicht für etwas Ideales halte – aber ich halte ihn, ähnlich wie die Demokratie, für weniger schlecht als die Alternativen. 

Der Staat sollte Ihnen zufolge jedenfalls sehr bedacht und behutsam agieren.
Ich bin kein Anarchist. Ich bin nicht für die Abschaffung des Staates. Der Staat hat eine wichtige Rolle, etwa in der Geldpolitik oder der Kriminalitätsbekämpfung. Aber er sollte nicht in jedes Detail eingreifen. Der Staat sollte nur den Rahmen setzen, innerhalb dessen sich die Menschen bewegen können, innerhalb dessen sie initiativ sein und etwas unternehmen können. Wenn ein Staat permanent eingreift, permanent ausgleicht, dann bleibt für persönliche Leistungsfähigkeit, Individualität, Spontaneität, Kreativität kein Raum mehr. Konsequent weitergedacht hieße das, dass wir am Ende alle gleich wären. Und das ist die totalitäre Gesellschaft, die ich für einen Horror halte, für jene furchtbare neue Welt der Huxleyschen Dystopie.

Wobei der Staat ja bereits zunehmend auf die Bevormundung der Bürger setzt.
Man fragt sich, warum sich die Menschen nicht viel mehr dagegen wehren, sondern das akzeptieren. Ich kann mir das nur damit erklären, dass sie in doppeltem Sinne verwöhnt sind: Es gibt einerseits eine Wohlstandsverwöhnung in unseren reichen Gesellschaften, andererseits aber auch eine Freiheitsverwöhnung. Wir merken gar nicht mehr, wie unsere Freiheit schleichend eingeengt wird. Ich war nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs beruflich viel in den ehemals kommunistischen Staaten unterwegs. Und habe dort gemerkt, dass diese Menschen – die ein Leben lang in einer unfreien Gesellschaft gelebt haben – eines ganz genau gewusst haben: Welchen Wert Freiheit hat.

Sie verteidigen die Freiheit, kritisieren in Ihren Kommentaren deswegen so manche gesellschaftliche und politische Entwicklung. Wer in Summe liberale Positionen vertritt, macht sich`s in der Öffentlichkeit aber nicht unbedingt leicht.
Man macht sich damit nicht beliebt. Der Liberalismus ist keine bequeme Idee. Er ist unbequem. Denn er verlangt ja, dass man sich selbst um sein Schicksal kümmert und Verantwortung übernimmt. Das gilt auch im Unternehmertum. Wer Risiken eingeht, sollte auch selbst die Konsequenzen tragen, wenn etwas missglückt. Wie gesagt: Liberalismus ist unbequem. Und besonders unbequem ist die Idee der Ungleichheit.

Wie ist das zu verstehen?
Nun, die Gleichheit vor dem Gesetz ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich halte aber die Vorstellung, dass es eine Gleichheit am Markt geben sollte, die Menschen also nicht zu sehr unterschiedliche Einkommen und Vermögen haben sollten, für eine äußerst fragwürdige zeitgeistige Erscheinung. Menschen sind total unterschiedlich, unterschiedlich in ihren Begabungen, ihrer Intelligenz, ihrem Fleiß, ihrem Charakter. Geben Sie Menschen am Anfang ihres Berufslebens mit 18 Jahren allen den gleichen Geldbetrag, und Sie werden sehen: Dass die einen nach ein paar Jahren nichts mehr haben, während andere ein paar Jahre später den Betrag verdoppelt, verfünffacht, gar verzehnfacht haben werden. Der eine ist tüchtig, der andere nicht. Auch spielt der Zufall eine große Rolle. Und trotzdem …

Ja, bitte?
Und trotzdem will man zu sehr alle Menschen gleich machen. Trotz der großen Unterschiedlichkeit sollen Menschen letztlich das Gleiche haben, das gleiche verdienen? Die Aussage bei Einkommen und Vermögen „je gleicher desto besser“ widerspricht diametral dem liberalen Menschenbild. Es zählt zu den aus liberaler Sicht verheerendsten Entwicklungen, dass es den Staats- und Umverteilungsgläubigen gelungen ist, Gerechtigkeit und Gleichheit als zwei Seiten der gleichen Medaille darzustellen.

Sie sagen ja, dass das Wissen um die Unterschiedlichkeit der Menschen den Liberalismus von Utopien unterscheidet.
Genau! Den Liberalismus zeichnet ein sehr realistisches Menschenbild aus. Blaise Pascal sagt, der Mensch sei weder Engel noch Bestie. Das ist auch unser liberales Verständnis.
Viele Utopien, gerade die sozialistischen Utopien, haben dagegen die Vorstellung, dass am Ende der Entwicklung der neue Mensch steht, ein guter Mensch ohne jeden Eigennutz. Das war und ist eine vollkommen abstruse Annahme. 

Zentral für den Liberalismus ist seine Abgrenzung nach links und nach rechts. Haben Sie das Buch deswegen mit Ernst Jandls Bonmot „weder lechts noch rinks“ betitelt?
Wir haben den Titel – und das Titelbild des Karikaturisten Peter Gut – einerseits gewählt, weil wir zeigen wollten, dass die Kolumnen durchaus mit einer Prise Humor zu lesen sind. Andererseits geht es in der Tat um diese Abgrenzung: Im Unterschied zu den Liberalen setzen die linken Parteien auf Gleichmacherei. Und die Rechten, oft konservativen Parteien, wollen im Gegensatz zu uns bewahren um des Bewahrens willens. Wir sind nicht für das Neue, nur weil es neu ist, aber wir sind offen für die Veränderung. Und wir sind auch in Abgrenzung zu den rechten Parteien viel weniger apodiktisch, viel weniger der Meinung, wir wüssten, was gut ist für die Gesellschaft und das müsste man dann auch von Staates wegen durchsetzen. 

Sie schreiben in einer Ihrer Kolumnen: „Meinungsunterschiede auszuhalten und sich andere Meinungen anzuhören, kann unangenehm sein. Schädlich ist es nicht.“ Lautet so auch Ihr Schlusswort?
Es wäre ein wunderbares Schlusswort, weil es an den Anfang unseres Gesprächs zurückführt: Dass wir uns in Richtung Dialogverweigerung und Polarisierung bewegen. Und es passt zu diesen Kolumnen, die viel begeisterte Zustimmung gefunden haben, aber auch manche empörte Ablehnung. Dabei sollten die darin geäußerten Argumente in einer freien und offenen Gesellschaft nicht nur ihren Platz haben, es braucht die etwas zugespitzten Meinungen sogar. 

Warum?
Weil sie helfen, sich selbst seine eigene Meinung zu bilden. Durch die Zuspitzung wird man zum Nachdenken angeregt. Und damit kommt man weiter, als wenn man sich gedanklich nur in einer allzu braven, allzu gemäßigten Mitte bewegt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Gerhard Schwarz

* 1951 in Hard, hat in St. Gallen und Harvard Ökonomie studiert. Von 1981 bis 2010 war er bei der NZZ tätig, 16 Jahre als Leiter der Wirtschaftsredaktion und zwei Jahre zusätzlich als stellvertretender Chefredakteur. Danach leitete er bis 2016 den größten unabhängigen Thinktank der Schweiz, Avenir Suisse. Schwarz ist Präsident der Progress Foundation und Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Er lebt in Zürich und in Schwarzen­berg. Lesetipp! Gerhard Schwarz und Claudia Wirz, „Weder lechts noch rinks – 101 Kolumnen aus der Neuen Zürcher Zeitung“, NZZ Libro, Basel, 2024.

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