Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„In unserer Kultur der Gehetztheit“

März 2024

Der Arbeitsforscher Hans Rusinek (34) sagt im Interview, dass unser Umgang mit Zeit selbst- und weltzerstörerisch ist. Dem Berater und Publizisten zufolge sind Umweltkrise und Erschöpfungskrise in der Arbeit miteinander verbunden: „Wir verwechseln Produktivität mit Gehetztheit, mit diesem rasenden Stillstand, der uns davon abhält, Entscheidendes zu hinterfragen und anders zu machen.“

Alles wird hektischer. Und immer mehr Menschen haben das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben. Das aber hat Ihnen zufolge, Herr Rusinek, fatale Folgen.
Wir leben in einer Welt, in der wir einiges hinterfragen sollten. Aber diese Gehetztheit hält uns davon ab. Man braucht Raum und Zeit, um Dinge zu hinterfragen. Verantwortung ist eine zeitintensive Praktik. Zeit ist die Voraussetzung für sämtliche Handlungen, die uns in eine enkeltaugliche Zukunft bringen könnten.

Sie schreiben, dass es in dieser komplexen Welt nicht die eine Lösung für die Klimakrise gibt. Aber wenn sie einen Punkt nennen könnten, „von dem aus sich die Welt in tatsächlich bessere Bahnen lenken ließe“, dann wäre das – so sagen Sie – unser Umgang mit Zeit.
Es gibt nichts, an dem man unsere toxische Arbeitskultur und unser umweltschädliches Dogma in der Arbeitswelt so unmittelbar und direkt erkennen kann wie an unserem Umgang mit Zeit. Zeitnot und Gehetze sind selbst- und weltzerstörerisch: In dem Ausmaß, in dem wir Ressourcen abbauen und der Welt keine Möglichkeit mehr zur Regeneration geben, bauen wir auch unsere eigenen körperlichen Ressourcen ab. So sind Umweltkrise und Erschöpfungskrise in der Arbeit miteinander verbunden.

Und doch gilt derjenige als beruflich erfolgreich, der ständig arbeitet und außerhalb der Arbeit kaum Zeit hat.
In unserer Kultur der Gehetztheit gelten Menschen, die nicht gehetzt wirken, als suspekt, während Menschen, die ständig am Limit sind, in bestimmter Art und Weise überlegen wirken. Aber warum ist das so? Warum finden wir einen randvollen Kalender so erstrebenswert? 

Wie könnte eine Antwort lauten?
Es ist ein menschliches Bedürfnis, einen Unterschied machen zu wollen. Das Schlimmste, was viele Menschen erleben können, ist offenbar, kein Meeting, keinen Termin zu haben. Denn das heißt wohl: Nicht gefragt zu werden, nicht gebraucht zu werden.

Diese Gehetztheit wird einem aber auch von außen aufgezwungen, oder?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, dass viele kulturelle Prozesse von innen und von außen ineinandergreifen. Ein Teil wird einem sicherlich von außen aufgetragen, etwa über den Leadership-Mythos, demzufolge ein erfolgreicher CEO bereits in aller Frühe anfängt zu arbeiten. Wäre ich CEO, würde ich in jedem Interview sagen, dass man bereits um vier Uhr aufstehen muss. Damit würde ich dafür sorgen, dass meine Konkurrenz komplett überfordert und übernächtigt ist (lacht). Ernster gesprochen: Gehetztheit in Organisationen führt rein wirtschaftlich zu einer schlechteren Performance. Die Qualität unserer Arbeit leidet unter unserer Gehetztheit. Aber wir meinen, wir bräuchten keine Erholung, wir müssten uns von unserem Körper nichts sagen lassen, könnten rund um die Uhr wie eine Maschine funktionieren. Nur, dass uns das ans Limit bringt.
Ihnen zufolge zeigt sich diese Entgrenzung nicht nur im Umgang des Menschen mit sich selbst, sondern auch im Umgang des Menschen mit der Natur.
Ja. Wir sehen und denken die Wirtschaftswelt als große Maschine, in der Organisationen, Führungskräfte und untergeordnet Mitarbeiter wie Maschinen funktionieren, rund um die Uhr. Aber diese Maschinen-Metaphorik passt nicht. Denn der Mensch ist nicht nur Kulturwesen, er ist eben auch Naturwesen. Das Kulturwesen Mensch beherrscht die komplexe Mathematik, entwickelt die Künstliche Intelligenz, baut Smartphones. Aber das Naturwesen Mensch ist sterblich, verletzlich, braucht Regeneration, braucht Zeit und Gelassenheit. Es ist eine Zweiseitigkeit, eine Zweigesichtigkeit. Dass wir das eine zu sehr verdrängen, das ist das Dilemma. In diesem Maschinenverständnis ist alles entgrenzt. Wir verwechseln Produktivität mit Gehetztheit, mit diesem rasenden Stillstand, der uns davon abhält, Entscheidendes zu hinterfragen und anders zu machen.

Bei all dem Gehetztsein verlieren wir also den Blick auf das Wesentliche?
Der Zweifel ist eine wichtige menschliche Errungenschaft. Doch „gehetzt zweifeln“ ist ein Widerspruch in sich. Wir nehmen uns nicht die Zeit, uns zu fragen, was unser Tun eigentlich tut, wie das der Philosoph Michel Foucault einmal so schön gesagt hat.
Und damit können wir keinen Abstand zu diesen Praktiken gewinnen, die uns und unsere Welt an den Rand bringen. Das ist eines der Grundprobleme: Dieser Abstand, der zur Reflexion so notwendig wäre, wird weder von der Arbeitswelt noch in der Politik wertgeschätzt. Wir sehen das doch ständig: Wird ein Politiker oder ein CEO etwas gefragt, dann muss er auf alles eine Antwort haben, und wie aus der Pistole geschossen muss diese Antwort kommen. Würde da jemand sagen, er müsse zuerst nachdenken, würde ihm das sofort als Schwäche ausgelegt. Und so reflexionsarm ist dann eben auch die Politik und die Wirtschaft. 

Es gibt vom Schauspieler Nicholas Ofczarek den schönen Satz, er gehöre nicht zu denen, die sofort zu allem eine Meinung haben müssen.
Der bringt das wunderbar auf den Punkt. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. In dieser Welt, die von sozialen Medien dominiert ist, ist ständig die Rede von Haltung. Haltung soll man zeigen, für dieses, für jenes. Sich manchmal auch einer Haltung zu verweigern, und zuerst nachzudenken, das würde uns ganz gut stehen. Statt von der einen Hysterie gleich wieder in die nächste zu kippen …

Apropos. Sie sagen, dass Sie der Ausdruck der Work-Life-Balance immer schon irritiert habe. Warum?
Weil der Ausdruck suggeriert, dass wir ein Privatleben und ein Arbeitsleben haben. Natürlich stimmt das ein Stück weit, aber es lässt vollkommen außer Acht, dass ich zu Hause und am Arbeitsplatz der gleiche Mensch bin. Ich hole mir in der Arbeit mein Einkommen, und in meiner Freizeit alles, was mir Selbstwirksamkeit und Selbstwert gibt? Das ist ein Ablasshandel, der nicht funktioniert. Es lässt sich nicht zwischen dem monetären Einkommen und dem psychologische Einkommen trennen. Man braucht auch Sinn in der Arbeit. Der Mensch, der in der Arbeit keine Anerkennung erfährt, ist davon auch nach Feierabend negativ geprägt. Die Krise der Arbeit und die Krise der Demokratie gehen da Hand in Hand …

Inwiefern?
In der Arbeitswelt, die einen Großteil unserer Lebenswelt füllt, verkümmern unsere demokratischen Fähigkeiten. Axel Honneth, ein Philosoph der Frankfurter Schule, hat das wunderbare Buch „Der arbeitende Souverän“ geschrieben. Honneth zeigt, dass derjenige, dem in der Arbeit nicht der Eindruck vermittelt wird, dass sich der Austausch von Argumenten lohnt, auch kein guter Souverän im demokratischen Sinne ist. Demokratie ist nicht, nur alle paar Jahre zu wählen, Demokratie ist die ständige Teilnahme an öffentlichen Diskursen. Demokratie sollte uns durch die gesamte Gesellschaft begleiten. Man sollte die Politik nicht den Politikern überlassen, so könnte man das auch sagen.

Sie schreiben: „Eine besser funktionierende Arbeitswelt ist zentrale Voraussetzung für ein demokratisches Bewältigen der Klimakrise.“ Wir fragen: warum?
Die Arbeitswelt ist ein extrem wichtiger Kitt für unsere Gesellschaft. Und die Arbeitswelt ist nun mal die Welt, mit der wir diesen Planeten abarbeiten. Das heißt, wir müssen die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, auch am Arbeitsplatz reflektieren. Denn es wird schwer, nach Feierabend ehrenamtlich die Welt zu retten, wenn andere sie hauptberuflich zerstören. 

Ihr Buch regt an sehr vielen Stellen zum Innehalten, zum Nachdenken an. Etwa, wenn Sie schreiben, dass die meisten Menschen Automarken, sogar Automodelle unterscheiden können, aber im Wald kaum einen Baum kennen. Was sagt uns das?
Zum einen ist das autobiografisch und selbsttherapeutisch. Ich kann Automodelle besser unterscheiden als Bäume. Aber da es auch anderen so gehen wird, sagt uns das, dass wir ein Bildungsproblem haben. Wir glauben, wir könnten unserer Verantwortung für die Umwelt mit sehr abstrakten Maßnahmen gerecht werden, etwa mit Klimadiplomatie oder mit CSR-Broschüren. Dabei entwickeln wir nur für das einen Schutzinstinkt, das wir kennen. Das Namenlose ist mit dem Fluch des Vergessenwerdens belegt. Und tragischerweise ist es so, dass an Orten, die am meisten von der Natur entfernt sind, die Entscheidungen mit den größten Folgen für sie getroffen werden.

Sie konstatieren mit Blick auf die gegenwärtigen, multiplen Krisen: „Wir befinden uns gerade nicht in einer großen Enttäuschung, sondern in einer Ent-Täuschung.“ 
Ich berate viele Organisationen, spreche oft mit Vorständen. Und höre oftmals: „Warum ist denn die Welt auf einmal so in Unordnung geraten?“ Ich sage dann immer: „Wir haben nur zu lange weggeschaut.“ Wir haben uns zu lange eingeredet, dass die Welt der Wirtschaft und die Welt der Arbeit von der Welt der Natur und von der Welt der demokratischen Legitimität komplett zu trennen wären. Wir haben uns zu lange eingeredet, dass Unternehmen isolierte Gewinnmaximierungsmaschinen sind, die sich mit nichts anderem als mit Gewinnmaximierung auseinandersetzen müssen. All diese Krisen befreien uns von dieser Täuschung. Wir sind dem Wortlaut entsprechend ent-täuscht worden. Doch sind Krisen immer auch Lernmöglichkeiten. Das ist das Rationalisierende in Krisen. Noch eines …

Ja, bitte?
Große gesellschaftliche Errungenschaften sind immer erst durch Krisen entstanden. Und wir stehen heute endlich vor Irritationen, die groß genug sind für einen Bedeutungswandel, die groß genug sind, um Praktiken des kritischen und produktiven Hinterfragens zu verankern. Irritationen können dazu führen, dass sich die Menschen selbst bessere Fragen stellen und dadurch bessere Antworten bekommen. Die Zukunft der Arbeit wird die Arbeit an der Zukunft. Entscheidend ist, dass man sich Sinnfragen stellt. Etwa, wie man Sinn in seine Arbeit bekommt. Aber Vorsicht: Wir erleben Sinn nur in bestimmten Momenten. Sinn ist ein sehr flüchtiger Gast. Er kommt und geht. Sinnsuchen ist okay, schlimm ist’s nur, wenn man meint, ihn dauerhaft gefunden zu haben.

Sie wollen im Buch irritieren, zum Nachdenken anregen. Ließe sich abschließend eine Frage stellen, über die es sich nachzudenken lohnt?
Ich glaube, dass wir – wenn es um Gehetztheit, aber auch um andere Pathologien geht – zu stark von der Angst geprägt sind, negativ aufzufallen, dass wir deshalb allerhand Unsinn tolerieren und mitmachen. Meine Frage zum Abschluss also: Was würden Sie heute tun, wenn Sie keine Angst hätten?

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Hans Rusinek , * 1989 forscht, berät und publiziert zum Wandel der Arbeitswelt. Er forscht an der Universität St. Gallen und ist Fellow im ThinkTank30 des Club of Rome. Bis 2020 war er Associate Strategy Director und erster Mitarbeiter der Purpose-Beratung der Boston Consulting Group, BrightHouse. Seine Essays zu Wirtschaft und Gesellschaft erscheinen etwa in „BrandEins“, „Capital“, „Die Zeit“, oder „Deutschlandfunk“. Hans Rusinek studierte VWL, Philosophie und Politik an der London School of Economics und in Bayreuth, sowie Design Thinking in Potsdam. 

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