„In unserer Welt der Ungewissheit“
Der Münchner Stefan Kaduk (53) und sein Geschäftspartner Dirk Osmetz hinterfragen als „Die Musterbrecher“ vermeintlich professionelle Muster von Organisation und Führung. Im Interview spricht Kaduk über Plastikwörter und den Verlust der Alltagssprache in Organisationen, über Exzesse der Effizienz – und über die Notwendigkeit, „in der heutigen Welt der Ungewissheit mutig Dinge substanziell anders zu machen.“
Unternehmen sprechen gerne von Innovation und Nachhaltigkeit, von Wertschätzung und Wachstum. Der Musterbrecher Stefan Kaduk hört solche Worte ohne sonderliche Begeisterung …
Da bin ich nicht begeistert, das stimmt. Weil diese Begriffe, diese Worthülsen, zu denen sie geworden sind, im Grunde genommen alles und nichts aussagen. Es sind Plastikwörter, um einen Begriff des Germanisten Uwe Pörksen zu verwenden. Sie kommen in aller Regel aus der Wissenschaft, deswegen klingen sie auch ein bisschen unantastbar. Sie sind meistens sehr abstrakt, gleichzeitig ist mit ihnen aber immer ein eigenartiger Imperativ, ein Appell verbunden. Zeige mehr Wertschätzung in der Führung! Sei nachhaltiger! Sei innovativer! Kommuniziere besser! Gerade ‚Kommunikation‘ ist ja auch so ein Plastikwort der Stunde.
Und dennoch werden Worte wie diese inflationär genutzt.
Ja. Leitbilder von Organisationen aller Art sind voll von diesen Plastikwörtern. Als wir noch an der Universität gearbeitet haben, ließen wir das unsere Studenten einmal analysieren. Ergebnis? 90 Prozent der untersuchten Leitbilder waren deckungsgleich, und zwar unabhängig von der Branche. Und daran hat sich nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, dass sie populärer werden denn je. Diese Plastikwörter sind in ihrer Inhaltslosigkeit maximal konsenstauglich geworden. Das ist eine verlockende Kombination. Damit lässt sich jeder Small Talk bestreiten, jede Eröffnungsrede, alles.
Was schafft Abhilfe? Die Dinge beim Namen zu nennen? Klartext zu sprechen?
Die Art und Weise, wie wir in Organisationen und Unternehmen miteinander sprechen, hat sich verändert. Sie ist professioneller geworden, gleichzeitig aber auch seelenloser und unorganischer. Heute sagt man: ‚Das müssen wir im Nachgang bilateral kommunizieren.‘ Vor 20 Jahren hätte man gesagt: „Gemma auf ein Bier.‘ Wir verdrängen zum einen die Alltagssprache, und das in einem Kontext, der das überhaupt nicht erfordert. Und zum anderen: Wenn zehn Leute in einem Raum beispielsweise über Nachhaltigkeit diskutieren, hat man am Ende zehn verschiedene Vielfalten zu diesem Thema. Wir sollten uns also die Mühe machen, diese vordergründig positiv aufgeladenen Begriffe im Kern zu ergründen. Wenn wir es unterlassen, Begriffsarbeit zu leisten, können wir keinen echten Dialog über den Inhalt führen.
Sie haben in einem Essay geschrieben, das entscheidende Schmiermittel für alles, was Organisationen weiterbringe, sei: Die Kunst, Dialoge zu führen.
Organisationen und Unternehmen müssen das wieder mehr praktizieren. Vielleicht müssen sie es auch wieder neu erlernen. Es ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wir sehen überall Debatten. Aber kaum einmal einen Dialog. Der Unterschied ist von großer Bedeutung. Wer einen Dialog führt, will die Position des Anderen verstehen. Er hört dem anderen zu. Er will den Austausch der Perspektiven. Wer dagegen eine Debatte führt, will nur mit seinen Argumenten die Argumente des anderen zerschlagen.
Es geht um den Bruch des Gewohnten. Und damit sind wir mitten in Ihrer Arbeit: Die Musterbrecher legen Organisationen nahe, „mutig Dinge substanziell anders zu machen“.
In diesem Satz „mutig Dinge sub-stanziell anders zu machen“ ist Wichtiges enthalten. Mut. Mut gehört dazu, aber in einer speziellen Ausprägung, die wir „leisen Mut“ nennen. Ich predige nicht das Draufgängertum. Vielmehr sind die Menschen, die wir in den 24 Jahren unserer Forschung und Beratung getroffen haben, tendenziell sehr besonnen und eher zurückhaltend. Aber sie sind souverän und gehen mit Vehemenz und mit Nachdruck die Dinge an. Substanziell Dinge anders machen. Wir leben zwar in einer Zeit, in der vordergründig das Andersdenken, das Andersmachen propagiert wird. Aber gerade in Organisationen regiert die Gleichförmigkeit. Es bedarf eines gewissen Muts, sich dieser Gleichförmigkeit wirklich zu entziehen. Und zwar nicht als Selbstzweck, um irgendwie anders zu sein, sondern es geht um viel, viel mehr. Das Gebot der Stunde ist: in Strapazierfähigkeit zu investieren. Ich muss da etwas ausholen …
Bitte darum!
Ausgangspunkt für unser neues Buch „Richtig widerstehen – der Weg zur strapazierfähigen Organisation“ ist die Dia-gnose, dass wir es vielfach mit einer Form von gefährlicher Übereffizienz zu tun haben. Alles wird optimiert. Alles wird auf Effizienz getrimmt. Nun entspricht es ja dem gesunden Menschenverstand, nicht unnötig zu verschwenden. Aber die Relationen stimmen oftmals nicht mehr. Deutlich zu sehen ist das am Fall der Ever Given. 400 Meter lang, 60 Meter breit, 20.000 Container an Bord, mit aller Ingenieurskunst optimal arrangiert. Und dann steht das Schiff quer. Und legt den Welthandel lahm. Es ist ein geradezu ikonisches Bild, das zeigt, was ein Exzess an Effizienz anrichten kann. Es ist Ausdruck eines sehr gefährlichen Denkens.
Wie ist das zu verstehen?
Es ist deswegen so gefährlich, weil wir nicht in einer Risikowelt oder einer Unsicherheitswelt leben, sondern in einer Ungewissheitswelt. Alltagssprachlich werden die Begriffe zwar synonym verwendet, aber in Wirklichkeit unterscheiden sie sich deutlich. Denn bei Risiken und teilweise auch bei Unsicherheiten handelt es sich um Wahrscheinlichkeiten und damit um Berechenbarkeiten. Jahrzehntelang konnten Unternehmer Risiken berechnen und damit auch handhaben. Da ergab die Effizienzlogik Sinn. Aber in unserer heutigen Welt der Ungewissheit ist das anders: Prozesse, die effizient durchgetaktet sind, können nicht mit Überraschungen umgehen.
Nun ist die Gegenwart allerdings maßgeblich von Überraschungen geprägt.
Ja. Niemand rechnete mit der Havarie der Ever Given. Niemand mit dem Ausbruch der Pandemie. Niemand mit steigenden Energiepreisen infolge eines Krieges in der Ukraine. Deswegen tun Musterbrecher eines: Sie setzen ein Gegengewicht zur reinen Effizienz-Denke. Das ist bitte nicht falsch zu verstehen. Es braucht in unserem Wirtschaftssystem natürlich eine gewisse Form von Effizienz. Aber notwendig ist auch ein Gegenpol; es braucht immer wieder Momente von Überschuss, von kluger Verschwendung, von Vielfalt, von Bandbreiten. Erst die Kombination von Effizienz und Überschuss führt zu dem, was wir Strapazierfähigkeit nennen. Also: Nicht nur einen Lieferanten haben. Nicht jeden Prozess bis zum Ende durchtakten. Sich wappnen, sich rüsten, Krisen üben. Wir kennen Organisationen, die die Krise permanent üben, die also bewusst Situationen schaffen, in denen sie den Umgang mit Überraschungen erlernen.
Jetzt gibt es aber auch Organisationen und Unternehmen, die sich partout nicht verändern wollen. Droht denen steigendes Ungemach?
Ich find es zwar immer schwierig, Drohszenarien aufzubauen, aber, ja, ich würde Ihnen da zustimmen. Ich würde es für kritisch halten, wenn man sich von einer steigenden Anzahl von Überraschungen überhaupt nicht beeindrucken lässt. Wer nach wie vor radikal auf die klassische Effizienzlehre setzt, wird es irgendwann sehr, sehr schwer haben.
Soll heißen: Wer unbedingt am Alten festhalten will, wird scheitern?
Ich würde da eine mittlere Position vertreten. Viele Organisationen setzen ja auf Veränderungsprozesse. Ob die immer ernst gemeint sind oder nur Kulturkosmetik darstellen, ist eine andere Frage. Aus vielen in Unternehmen geführten narrativen Interviews weiß ich allerdings, dass Mitarbeiter sehr oft der Ansicht sind, dass ihnen bei solchen Veränderungsinitiativen mindestens implizit gesagt wird: Das, was wir bis jetzt gemacht haben, war Blödsinn! Ab jetzt muss alles anders werden! Nun mag das ja schon richtig sein, aber es ist etwas Gefährliches dabei: Die Entwertung der eigenen Vergangenheit. Also die Entwertung dessen, was das Unternehmen bis dato erfolgreich gemacht hat.
Ergo haben Manager einen Mittelweg zu finden?
Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe für Führungskräfte: Sie müssen mit Fingerspitzengefühl das Bestehende wertschätzen, sie müssen mit Effizienz die Realität der bestehenden Wirtschaftsordnung bedienen. Sie merken aber gleichzeitig: Die alten Muster greifen nicht mehr! Manager müssen also an Mustern festhalten und sie zugleich durchbrechen, müssen bewahren und hinterfragen, und alles gleichzeitig. Das aber ist der Kern: Für uns ist Musterbrechen nicht der radikale Bruch mit, sondern die maximal kreative Interpretation von Regeln.
Sie empfehlen ja, „das Spiel im bestehenden System zu drehen“.
Genau. Nicht das Spielfeld verlassen! Sondern das Spielfeld neu vermessen.
Ließe sich das an einem konkreten Beispiel illustrieren?
Es gibt Unternehmen, die klassisches Wachstum, also diese in unserem Wirtschaftssystem über allem schwebende Idee, kritisch hinterfragen. Wir hatten immer wieder Kontakt mit dem Europäischen Hof in Heidelberg, einem Luxushotel, das seit Generationen in Familienbesitz ist. Die Geschäftsführerin hat uns gesagt, sie werde immer wieder gefragt, ob sie nicht expandieren will, etwa nach Kitzbühel. Wie es eben die alte Denke ist. Skalieren, wachsen, Größenvorteile. Aber sie hat sich dagegen ausgesprochen, hat gesagt: ‚Wir setzen auf qualitatives Wachstum nach innen und widerstehen dem Reflex, uns zu vergrößern, weil uns das angreifbar machen, im schlimmsten Fall gar unsere Identität rauben würde.‘ Es ist ein bewusster Gegenentwurf zu diesem blinden Wachstumsgedanken. Ein vergleichbares Beispiel findet sich übrigens in Vorarlberg mit dem Hotel Post in Bezau.
Ein Zitat von Ihnen lautet: „Wollen wir substanzielle Veränderungen, liegt die Zukunft in Experimenten.“ Warum? Hängt denn das eine mit dem anderen zwangsläufig zusammen?
Ein Unternehmer hat uns einmal den guten Satz gesagt: ‚Pläne und Prozesse können nie auf Überraschungen oder auf Tagesaktualität reagieren, das können nur Menschen.‘ Es gibt also gar keine andere Chance, als klug auszuprobieren. Zu experimentieren, mit offenem Ausgang. Das aber muss vorbereitet sein. Man braucht eine saubere Gedankenvorbereitung, eine durchdachte Hypothese. Und dann lässt man es laufen. Und sieht beispielsweise, wie Mitarbeiter in Unternehmen auf einen plötzlich entstehenden großen Freiraum reagieren. Können sie damit umgehen oder nicht? Kommen sie in der Komplexität zurecht?
Das setzt aber zumindest an der Spitze einen offenen Geist voraus und den Abschied von der Vorstellung, dass man alles steuern, alles kontrollieren, alles lenken könnte.
Das ist die entscheidende Anfangsprämisse. Es ist die erste Vorleistung.
Sie sind beruflich auch in Vorarlberg tätig, sie kennen die Strukturen, unsere Frage lautet daher: Welche Idee hätten die Musterbrecher für den hiesigen Wirtschaftsstandort?
Vorarlbergs Unternehmer sind sehr gut vernetzt. Man kennt sich. Und da wäre es doch eine Idee, gemeinsam einen solchen Experimentierraum zu schaffen, in dem unternehmensübergreifend, bewusst aber auch branchenübergreifend ausprobiert werden kann, was wir besprochen haben: Wie man mit Ungewissheit umgehen kann. Oder an welchen Stellen man absichtlich dem widersteht, was der Zeitgeist propagiert. Die Vorarlberger könnten sich etwa fragen: An welchen Stellen müssen wir – um den Charakter dieses sympathischen Landes weiter abzubilden –, beispielsweise zwingend analog bleiben?
Vielen Dank für das Gespräch!
Weiterlesen!
Stefan Kaduk, Dirk Osmetz „Richtig widerstehen – der Weg zur strapazierfähigen Organisation“, Murmann Verlag, Juni 2024.
Stefan Kaduk
* 1970, ist in München aufgewachsen, studierte dort Betriebswirtschaftslehre und wurde an der Universität Basel promoviert. Er war als Lecturer in Forschung und Lehre am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München tätig. In Fortführung der Arbeit an der Schnittstelle zwischen Forschung, Lehre und Beratungspraxis gründete er zusammen mit Dirk Osmetz im Jahr 2007 die Musterbrecher® Managementberater.
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